Marc Peschke: Das griechische Vokalalphabet, aus dem sich nach und nach das altitalische, etruskische und schließlich lateinische Alphabet entwickelt hat, ist das Thema Ihres neuen Buchs „a-e-i-o-u. Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues“. Wie kamen Sie auf das Thema?
Klaus Theweleit: Hintergrund ist der seit Jahrhunderten laufende Streit über die Herkunft unserer – der sogenannten „abendländischen“ – Kultur. Ist sie in ihrem „Kern“ mehr griechisch, mehr jüdisch, mehr „orientalisch“ oder noch anders bestimmt. Ein Streit, der auf vielen Feldern läuft bis in unsere Tage. Einigkeit besteht nur darin, dass die Durchsetzung des Vokalalphabets ab ca. -800 eine entscheidende Rolle darin spielt.
In dem 2006 erschienenen Buch „Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie“, mitherausgegeben von ihrem 2011 verstorbenen Freund Friedrich Kittler, wird die These vertreten, dass die Vokalalphabetisierung eine Leistung der alten Griechen war – und zwar bereits um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert, auf dem Feld der Poesie… Vorher gab es in der Schriftsprache nur Konsonanten.
Die zwei Herausgeber des Bandes, Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst, sagen aber nicht einfach „eine Leistung der alten Griechen“, sie sehen diese als spezielle Leistung des Autors Homer, der zum Zweck der Niederschrift der Ilias dieses Alphabet „erfunden“ habe und es angewandt habe in der Versform des Hexameters. Die Gründe, aus denen ich dieser Sicht – was den Erfinder-Autor Homer betrifft – eher nicht folge, lege ich dar im Buch. Mit dem Hexameter sieht es anders aus; die Versform spielt eine entscheidende Rolle bei der Erfindung und dann auch der Durchsetzung des griechischen Vokalalphabets im gesamten Mittelmeerraum zwischen -7. und -4. Jahrhundert.
Sie schreiben – gestützt auf die einschlägige Forschung –, dass der Hexameter weit vor Homer entsteht; dass es große orientalische Einflüsse bei Homer gibt; dass die verschiedenen Kolonisierungsbewegungen, in denen sich Völkerschaften und ihre Sprachen vermischen, eine große Rolle spielen bei der Entwicklung des Vokalalphabets. Ihre eigene These nun ist, dass dabei der Seefahrt in den vier Jahrhunderten vor Homer eine besondere Bedeutung zukommt. Wie kommen Sie denn zu Ihrer These? Bisher galt dieser Zeitraum – Sie zitieren Rudolf Wachter in ihrem Buch – als „ein schwarzes Loch der Geschichte“.
Die vier Jahrhunderte nach der Zerstörung Trojas um -1230 durch die sog. Palastkultur der mykenischen Griechen gelten allgemein als die „dunklen Jahrhunderte“ Griechenlands, weil es so gut wie keine schriftlichen Dokumente aus dieser Zeit gibt, insbesondere keine literarischen oder historischen, sondern nur Handels- und Verwaltungsdokumente auf Tontäfelchen in der altkretischen Schrift „Linear B“, die von den Griechen übernommen worden war. Aber natürlich kommunizierten die Griechen untereinander, und zwar überwiegend mündlich.
Dabei spielte die Seefahrt die entscheidende Rolle? Warum war das Meer der Ort, an dem all das passierte?
Glücklicherweise sind wir ja nicht nur auf Schriftliches angewiesen, wenn es um die Geschichte von Menschheitsphasen geht. Es gibt Archäologen, alle Sorten von Ausgräbern, Architekten, Biologen, Chemiker, Nautiker etc. Eins der Ergebnisse, kurz zusammengefasst: Das griechische Mykene, die sog. Palastkultur, geht in der Zeit nach -1200 zu Grunde. Alle Paläste haben gebrannt. Ihr Herrschaftsgebiet, der Peloponnes wird in den folgenden Jahrhunderten zu großen Teilen entvölkert; Seuchen, Erdbeben können mitgewirkt haben. Sicher ist: mehr als die Hälfte der Bewohner verlässt das Land und geht auf See: verteilt sich über die Tausenden von Inseln in der Ägäis in vielen kleinen Königtümern oder „kolonisiert“ Küsten, an denen die Menschen landen. Das zieht sich über 400 Jahre – an deren Ende das Vokalalphabet erscheint; das bildete in mir den Gedanken, seine Entstehung müsste doch irgendetwas mit der Seefahrt zu tun haben. Zumal ein „staatliches Gebilde“ namens „Griechenland“ ja nicht mehr existierte. Sie hingen nur noch durch ihre gemeinsame Sprache zusammen, auf See und bei ihren jährlichen Treffen.
Die Vorstellung, dass das Vokalalphabet von griechischen Händlern, Seefahrern und Piraten auf See erfunden wurde, damit sie sich, zwischen Wind und Wellen, rufend, schreiend, von der Gischt, Wind und Wellen umtost, mit den neuen Vokalen besser verständigen können, das gefällt uns sehr gut. Stimmt es, dass Sie den entscheidenden Hinweis Ihrer Frau zu verdanken haben, die von der Insel Sylt stammt und das Meer kennt?
Als ich mit meiner Frau darüber sprach, dass es mir darum ginge, das Entstehen dieser neuen Vokalität erklärbar zu machen, festgelegt in bestimmten Buchstaben – in unserem Alphabet a-e-i-o-u –, erfunden vermutlich von Seefahrern, sagte sie spontan: Aber ja, von Sprache, über das Wasser gerufen, kommen nur die Vokale an. Konsonanten gehen unter in Winden, Ruder-, Segel- und Seegeräuschen. Nur Vokale, gerufen, bleiben verständlich. Das kannte sie genau. Und wer immer sich mit Meer auskennt, hat das in der Folge bestätigt. Friedrich Kittler hat das an den Inseln, an denen Odysseus am Mast den Sinn des Singens der Sirenen verstanden haben will, auch experimentell nachgewiesen (Odysseus /Homer haben „gelogen“). Das allein hätte aber noch nicht gereicht als Erklärung dafür, dass hier ein neues Medium entstand, das in den folgenden Jahrhunderten das „Mittelmeer zum griechischen Binnenmeer“ gemacht hat, wie Joachim Latacz formuliert. Es musste irgendwann irgendwie ein Vorgang hinzugekommen sein, der eine bestimmte Aussprache der Vokale – man kann „a“ oder „e“ ja vollkommen verschieden, dialektgefärbt, aussprechen – für alle griechischen Zungen verbindlich gemacht, also normiert hat. Aus den Büchern über die frühe griechische Seefahrt, die ich dazu las, schälten sich bestimmte Rituale heraus; z. B. sollte jedes Schiff, das bestimmte Pläne verfolgte, sich hierfür den Segen einer der Orakelstätten, Delphi, Olympia, Korinth, viele andere, abholen. Hier trafen das ganze Jahr über permanent griechische Schiffe aufeinander; untereinander durch nichts verbunden als die gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Vergangenheit auf dem Peloponnes und die gemeinsame Vergangenheit des Siegs über Troia. Diesen Sieg zu besingen, war im Lauf der Jahrzehnte nach dem Verlassen des Peloponnes ein gemeinsames Verfahren geworden. „Zu besingen“ ist dabei keine poetische Metapher. Die Texte, die später in Homers Ilias eingehen, wurden tatsächlich gesungen; sowohl an Bord der Schiffe wie auch bei jedem Treffen, bei allen Besuchen von Griechen untereinander. Fast alle Schiffe führten einen Sänger an Bord, den sog. Aoiden; an jeder Orakelstätte traten diese Sänger auf und übten sich im Wettstreit. Hier wird nun der Hexameter zentral.
Sie sagen, die poetische Rhythmisierung sei Voraussetzung für die gehirnliche Speicherung von Ereignissen...
Ja. Die aktuelle Mündlichkeitsforschung sagt, dass mündlich Weitergegebenes sich höchstens 90 Jahre erhält. Dann wird es „überschrieben“, umgemodelt, in verschiedensten Weisen verändert. Ausnahmen davon sind Gebete und poetisch rhythmisch Festgehaltenes. Poetisch rhythmisch festgehalten werden die Gesänge der Aoiden an Bord der griechischen Schiffe; und zwar in der Hexameterform. Diese garantiert, dass die Griechen auf See die Troia-Erzählung über 400 Jahre aufrechterhalten, bevor Homer sie in der Ilias schriftlich niederlegt.
Sie haben selbst auch biografische Verbindung zum Meer – wuchsen nach der Flucht aus Ostpreußen in Schleswig-Holstein auf und studierten vor dem Umzug nach Freiburg anfangs auch in Kiel Germanistik und Anglistik, wo sie auch auf einer Werft arbeiteten. Welche Bedeutung hat das, wenn Sie heute über das Meer schreiben?
Das hat kaum eine Bedeutung. Als Student auf der Howaldtwerft zu jobben, macht noch keinen Seemann aus einem. Mit 15, 16 Jahren hab ich mal phantasiert, zur See zu gehen; von zu Hause abzuhauen. Als ich dann las, auf der Nordsee im Winter würden einem die Hände an der Reling festfrieren, ließ ich lieber die Finger davon. Aber wir sind, da meine Frau die Freiburger Hitze nicht aushält, regelmäßig längere Zeit auf Sylt. Mein Meerkontakt – schwimmend sowie optisch – ist gut intakt.
Ihr Werk als Ganzes zeichnet sich durch eine besondere Freiheit aus. Ihnen wurde ja schon als junger Wissenschaftler eine „ungezügelte Intelligenz“ zugeschrieben. Und so ist es auch wieder mit dem neuen Buch. Bei Ihnen ist es nie weit von den alten Griechen zur Nouvelle Vague, zu Godard, zu Pasolini, zu William Turner, zu Herman Melville, zu Hokusai, zu Herbert Achternbusch, zu Heidegger, zu James Baldwin, zu Frantz Fanon, zu Billie Holiday, zu Nana Mouskouri und zum Blues, den Sie ja als Hobbymusiker selbst spielen …
Die ca. 3000 Jahre alte Geschichte des phonetischen Vokalalphabets reicht ja bis heute; bis in die Konstruktion der Computer. Entsprechend habe ich – was ich immer tue – „Material“ aus allen Zeiten eingebracht; sofern es „passt“. Natürlich auch Popsongs – die ja bekanntlich von Allem handeln können. Ob das immer funktioniert, muss LeserIn entscheiden.
Aber zum Blues: hier geht es um mehr. Die Entwicklung des Hexameters, der dann, in den Augen Vieler, zur Grundlage unserer heutigen Kultur geworden ist, hat ca. 400 Jahre kollektiver Arbeit in Anspruch genommen. In meiner Wahrnehmung ist diese „griechische Dominanz“ für unsere heutige Kultur aber nicht mehr gegeben (höchstens noch für ein Bündel notorisch graecophiler Stadttheater). Für mich ist die Grundlage unserer heutigen Kultur – spätestens nach WK II – die Musik der amerikanischen Schwarzen, begonnen in Sklavengesängen, aus denen der Blues wurde. Dessen Entwicklung zur 12-Takt-Form hat ca. 300 Jahre gedauert; amerikaweit und dann weltweit durchgesetzt über das Radio (den „Homer des Blues“ sozusagen). Diese beiden Vorgänge setze ich in Verbindung. Black Music ist die Grundlage der Körperlichkeit der nach WK II Aufgewachsenen.
Das Unbewusste als Teil der Psychoanalyse war ja schon Thema in Ihrem so einflussreichen 1977 erschienenen Werk über Gewalt, „Männerphantasien“. Das Unbewusste spielt in „a-e-i-o-u“ wieder eine Rolle. Welche?
Der deutsch-französische Psychoanalytiker Arthur Goldschmidt hat in einem kleinen Büchlein mit dem Titel „Als Freud das Meer sah“ festgestellt, dass viele Eigenschaften, die Freud dem „Unbewußten“ zuschreibt, der Beschreibung von Meeresbewegungen ähneln. Das hat mir eingeleuchtet und mich auf die Frage gebracht, wo „das Unbewußte“ der menschlichen Psyche historisch denn entstanden sei.
Gilles Deleuze hat ja einmal geschrieben, man beschäftige sich nicht mit Dingen, die man weiß, sondern mit jenen, die man sucht. Wonach suchen Sie in dem neuen Buch?
Gilles Deleuze und Felix Guattari haben ja als erste entschieden betont, dass menschliche Psyche nicht überall auf der Welt die gleiche sei; dass Freuds „Ödipus-Konstruktion“, wenn überhaupt, höchstens nur für unsere im „antiken Griechischen“ verankerte Kultur eine Bedeutung habe. Meine Frage lautete somit: wie und wo ist dies Teil denn historisch in die Körper der Griechenmenschen gelangt? Das System Ubw1 – ging mir dabei auf – muss als Körperteil verstanden werden. Auch wenn Virchow und andere Chef-Chirugen „die Seele“ beim Sezieren nicht finden konnten. Weil sie keine Neurobiologen waren; vom Wechsel der gehirnlichen „Synapsenverschaltungen“ noch keine Ahnung hatten. Aber eine solche Neuronen-Verschaltung muss es sein, die unser „System Ubw“ ausmacht und von anderen Schaltungen in anderen Weltteilen unterscheidet. Und möglicherweise ist die unsere entstanden zur Zeit der griechischen Seefahrer vor nun ca. 3000 Jahren.
Typisch für Ihre kulturtheoretischen und literaturwissenschaftlichen Schriften ist bis heute dieser in den 1970er Jahren so neue, unakademische Sound, diese Offenheit, diese Freiheit, dieser Nonkonformismus im Denken, der „Männerphantasien“, später das „Buch der Könige“ über das Orpheus-und-Eurydike-Motiv und das „Buch der Königstöchter“ auszeichnet. In den beiden letztgenannten Büchern beschäftigen Sie sich, wie jetzt wieder, mit dem antiken Griechenland und seiner Mythologie. Was reizt Sie an diesen Mythen, den Göttern, dem alten Griechenland, den Anfängen europäischer Kultur?
Mich reizt daran – heute – vor Allem, wie man dem entkommt. Warum, habe ich oben entwickelt: No education can be complete without a boogie-woogie-woogie-beat. Die Herkunft „unserer“ Kultur aus der griechischen Antike zu betonen, ist heute ein Anachronismus.
Ihr Buch schließt mit einem recht maritim ausgefallenen Songverzeichnis. Kommen wir also noch einmal zum Blues, zur Black Music. Denn ihr neues Buch ist ja auch eine Reise aus der griechischen Meereswelt zu den Gestaden des „Black Atlantic“, zum Strom der Kulturen seit der Verschleppung afrikanischer Völker in die Neue Welt, zu den flottierenden Kulturen in der Diaspora, die wie Wellen an den Ufern Europas, Afrikas und Amerikas lecken, sich mischen und kreuzen. Was der Blues mit dem Vokalalphabet der griechischen Seeleute zu tun hat, haben Sie entwickelt. Dass es Klänge sind, die den Bluesman mit dem Seemann verbinden. Was verbindet Sie mit den beiden, mit den „Blueswelten der eigenen Lebenszeit“? Ist es ihre Einsamkeit? Ihre Freiheit?
Sie haben eben den „Black Atlantic“ ins Spiel gebracht und dabei das Wort „Diaspora“ gebraucht. Die Griechen haben kein eigenes Kernland, sind keine „Nation“, als sie das Vokalalphabet entwickeln; so wenig wie die nordamerikanischen Schwarzen auf ihrem Weg zum Blues; ihrem Weg ins „Gelobte Land“. Beide große Kulturbewegungen entstehen in der Diaspora, heißt das: So ist das meiner Wahrnehmung nach mit so gut wie allen bedeutenden Kulturveränderungen; sie entstehen mehr oder weniger in Exilen. Nun gibt es aber Menschen, die in den üblicherweise einbrechenden Erstarrungen solcher historischer Umwälzungen behaupten, immer schon da gewesen zu sein wo sie jetzt sind; und dies als ihre „natur=gottgegebene“ Heimat uns um die Ohren hauen. Sie sind (offenkundig) dazu da, die Schönheiten solchen Wandels nicht nur nicht zu bemerken, sondern zu zerstören. (Zurück in die Steinzeit. Aber mit Laptop; der Lagepläne ausspuckt; nicht neue Wellen überraschend heranrauschender Klang-Flugkörper, die wir so viel lieber hätten). Die Utopien des Möglichen können – unter der Idiotie von Kriegsbedingungen – nur sehr eingeschränkt leben; in der Einsamkeit von Exilen.