Verlorene Historizität

Matti Friedmans Buch »Wer durch Feuer«, in dem er die Geschichte des Jom-Kippur-Krieges mit der Leonard Cohens verwebt, ist unlängst auf Deutsch erschienen. Malte Gerken stellt es im Lichte des Anschlags auf Israel vom 7. Oktober 2023 dar.

6. Oktober 1973, Vorabend des Versöhnungstages – Jom Kippur, höchster jüdischer Feiertag. Die israelischen Stellungen auf der Sinai-Halbinsel im Süden und auf den Golanhöhen im Norden, beide erst im Sechstagekrieg sechs Jahre zuvor erobert, sind dünn besetzt. Es ist Feiertag und viele der Soldaten sind bei ihren Familien. Doch Ägypten und Syrien greifen an und rücken einige Tage lang mehr oder minder unaufhaltsam auf israelisches Gebiet vor. Sie zerstören israelische Stellungen, bringen Kampfflugzeuge zum Absturz, beschädigen militärische Infrastruktur. Der junge Staat steht wieder mit dem Rücken zur Wand.

Zur gleichen Zeit befindet sich Eliezer HaCohen auf der griechischen Mittelmeerinsel Hydra. Er ist neununddreißig Jahre alt und hat als Sänger einige Bekanntheit erlangt. Nun ist er ausgelaugt, hat die Lust verloren am Musikgeschäft und will ein für alle Mal aufhören, will einfach »die Klappe halten«. Dazu passt, dass er scheinbar sesshaft geworden ist: Mit ihm auf Hydra sind sein Sohn Adam, der gerade ein Jahr alt geworden ist, und dessen Mutter Suzanne. 
Doch Eliezer, der im kanadischen Westmount nahe Montreal geboren wurde und dessen Großvater Lyon und Vater Nathan Vorsteher der größten Synagoge Montreals – der Sha’ar Hashomayim, der Himmelspforte – gewesen waren, taugt dieses Leben nicht. Weder das der Bürgerlichkeit in einer Kleinfamilie noch das seiner Väter, die fromm waren und eben »Kohanim«, Abkömmlinge der toraischen Tempelpriester. Eliezer, besser bekannt als Leonard, muss fliehen, aus Westmount in Kanada sowie von der Insel Hydra in der Ägäis. 

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7. Oktober 2023, Schmini Azeret und gleichzeitig Schabbat, ein Tag nach Hoschana Rabba. Jom Kippur liegt kaum zwei Wochen zurück. In vielen der israelischen Kibbuzim im Süden stehen noch die Laubhütten (Sukkot) des an diesem Tag schließenden Sukkotfestes, das an die provisorischen Behausungen erinnert, in denen die Israeliten während ihrer vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste lebten. An Schmini Azeret wird in der Synagoge das Jiskor, das »Erinnerung« bedeutet, von jenen gebetet, deren Eltern verschieden sind. Nach der Shoah entstanden Jiskorgebete zum Gedenken derer, die der Shoah zum Opfer gefallen waren, nach Staatsgründung zudem der im Unabhängigkeitskrieg Umgekommenen. Doch keineswegs ist das halbe Land, wie fünfzig Jahre zuvor, an diesem Tag in der Synagoge. Morgens schlafen die meisten noch, sind bei ihren Familien zuhause und in den Kibbuzim, verleben den Schabbat wie immer, ob religiös oder nicht, oder feiern ausgelassen und die Nacht hindurch in der Negevwüste. Doch wieder greift jemand an. Diesmal ist es keiner der benachbarten arabischen Staaten, der mit einer regulären Armee militärische Ziele und Infrastruktur ins Visier nimmt, niemand, der gewissermaßen ordentlich den Krieg erklärt. Diesmal sind die Angreifer Terroristen der Hamas. Und wieder steht der mittlerweile dreimal so erwachsene jüdische Staat mit dem Rücken zur Wand.

Leonard Cohen ist heute bereits seit einigen Jahren tot. Er starb im November 2016 in Los Angeles. In Israel ist er gut bekannt und einer der meistgehörten ausländischen Musiker. Doch in diesen Tagen erinnert nicht viel an ihn und nicht viel an den Jom-Kippur-Krieg vor fünfzig Jahren. Die Realität fordert zu viel, als dass die Ruhe eines reflektiert-distanzierten Blickes sich einstellen könnte. 

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Wie schreibt man über ein Buch, dessen Thema bis zu seinem fünfzigsten Jahrestag ein historisches war? Ein lang zurückliegendes Ereignis, das in den Schilderungen der Beteiligten traumatisch war und auch Jahrzehnte später nicht vollständig sich bewältigen ließ, ein Ereignis, das noch Jahre danach im israelischen Militär immer und immer wieder simuliert wurde, um es bearbeitbar zu machen, ein Ereignis, das als einer der schwierigsten Augenblicke des gerade erst etablierten jüdischen Staates sich konservieren sollte. Eine militärisch letztlich zwar siegreiche Auseinandersetzung, die sich jedoch anfühlte wie eine Niederlage, weil das Grundmoment jüdischer Staatlichkeit – Wehrhaftigkeit, oder: die Fähigkeit zur Selbstverteidigung, zum Schutz der eigenen Bevölkerung – infrage gestellt war, Regierung und Armee versagt hatten, 2700 Israelis ihr Leben verloren.
Wie aber schreibt man über dasselbe Buch, nachdem dessen Thema einen Tag nach dem fünfzigsten Jahrestag seine ganze Historizität verliert? 
Das wie ein Schlag als Schreck- und Schockerinnerung sich wieder ins Gedächtnis brennt und zugleich so fern erscheint wie aus einer anderen Welt. Das reaktiviert wird als unbewältigte Erinnerung und zugleich als lange der Vergangenheit angehörend. Der 7. Oktober 2023 hat den 6. Oktober 1973 gleichzeitig negiert und auferstehen lassen. 

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Matti Friedmans »Wer durch Feuer« ist die Geschichte ebenjenes Jom-Kippur-Krieges verwoben mit der Person Leonard Cohen. Anlass sind seine während des Aufenthalts auf dem Sinai verfassten unvollständigen, teils kryptischen Notizen, zudem einige Fotos und Erinnerungen von damals kämpfenden Soldatinnen und Soldaten. 
Wieso Cohens Flucht ihn ins Kriegsgebiet führte, ist unklar. Vielleicht wollte er als Erntehelfer, wie eine der damals Anwesenden sich später erinnert, die einberufenen Reservisten aus den Kibbuzim ersetzen, wie es im Juni 1967 sich ereigneten Sechstagekrieg gängig gewesen war. Allerdings war die Erntezeit im Oktober längst vorüber. Eine Gitarre hatte Cohen nicht dabei.

Die Fotos und Erinnerungen der Soldatinnen und Soldaten werfen mehr Schlaglichter, als dass sie einen kohärenten Bericht des Kriegsverlaufs lieferten. Sie skizzieren den Alltag auf den militärischen Stützpunkten vor dem syrisch-ägyptischen Angriff und zeigen »Mädchen«, die in der Sonne baden oder Gedichte schreiben, und attraktive »Jungs«, die oberkörperfrei, genauso das Leben genießend, jene Mädchen für sich zu gewinnen trachten; die die religiösen Gebote für unwichtig erachten und stattdessen sich amüsieren, trinken, feiern und Spaß haben. Das Leben im israelischen Militär vor dem Jom-Kippur-Krieg reflektiert den genauso unverhofften wie epochalen Sieg im Sechstagekrieg einige Jahre zuvor.
Jene Schlaglichter dokumentieren jedoch auch den ebenso überraschenden Angriff an diesem Vorabend des Jom Kippur und die darauffolgenden Kriegswochen und setzen den vielen Anfang Zwanzigjährigen Israelis, denen er das Leben kostete, ein literarisches Denkmal.

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Fünfzig Jahre später ist niemand mehr auf alte Fotos und erinnerte Erzählungen angewiesen. Diesmal versorgt eine längst hegemonial gewordene Social-Media-Kultur unmittelbar und wie von selbst die Weltöffentlichkeit mit allen Details des Anschlags. Täter streamen ihre Taten. Die IDF veröffentlichen Verhöre von inhaftierten Hamas-Terroristen. Überlebende Israelis berichten vom Grauen, von der Todesangst, vom Entkommen, von entführten Angehörigen. Man muss nicht lange suchen, um etwas über den 7. Oktober zu erfahren, denn das ganze Land ist betroffen. Millionen Israelis haben in den vergangenen Monaten eine oder mehrere Beerdigungen besuchen müssen, Tausende bangen noch um Freunde, Bekannte, Verwandte, die verschleppt wurden.

Doch so gut die Einzelheiten bekannt sind, so detailreich und vielfältig das Massaker dokumentiert ist, desto indifferenter ist seine Verurteilung. Jeder Beweis führt zu umso stärkerer Abwehr. Die gute alte Aufklärung kann noch ihr Bestes geben, doch dem Umschlag längst nicht mehr beikommen. Die IDF hätte Krankenhäuser bombardiert und Flüchtlingslager angegriffen, würde wahllos Zivilisten morden und einen Genozid begehen. Wer noch bis zum 7. Oktober als Verbündeter geglaubt wurde, war in Wahrheit längst übergelaufen. 

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Den vielen Anfang zwanzigjährigen Israelis ein Denkmal setzen – und den Ägyptern. Denn Leonard Cohen reiste 1973 zwar zu den Israelis und sang auch allein vor israelischen Soldaten, hätte sein Engagement aber nicht als einseitige Parteinahme verstanden wissen wollen, sondern als eines gegen den Krieg für sich. Es ist unklar, ob, wie eine seiner damaligen Begleiterinnen sich zu erinnern glaubt, er gesagt habe, dass er Pazifist sei. Und selbst im Moment des Krieges und des Wählens einer Seite – der israelischen, vor der er sang – versuchte er, sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Er singe für beide Seiten. Er verlangte von sich als Sänger und Dichter, über den Dingen, die der Krieg bestimmt hatte, zu stehen. So sehr, dass er bei einem späteren Konzert in Frankreich sagte, dass das während des Krieges geschriebene »Lover, Lover, Lover« für beide Seiten gegolten habe, »für Ägypter und für Israelis« – Ägypter zuerst genannt. Der heutige Barbesitzer und damalige Flugbegleiter Shlomi Gruner verübelt ihm das bis heute.

Und die Geschichte. Sie dampft die Cohen’sche Position des »für beide Seiten« auf einen Bereich zusammen, der so fragil nur sich behauptet, dass sie kaum noch unschuldig sich gerieren kann. Diesem Spagat aber, den Cohen versucht niemals aufzugeben, umweht noch ein Hauch dialektischen Bewusstseins. Doch dieser Hauch wird nahezu ausgelöscht, wo fünfzig Jahre vergangen sind. Behaupten kann er sich allein darin, als Gedanke nicht vollendet Gewalt zu werden, als welche nichts mehr von ihm übrigbliebe. Kaum sichtbares Grau als Hoffnungsschimmer. 

Ein Grau, das für Leonard Cohen neu erblühen konnte. Seine Reise in den Krieg und zu den Truppen an die Front, depressiv und aus lauter Unzufriedenheit mit dem Musikgeschäft und dem eigenen Eingerichtetsein, im Bewusstsein, an einem toten Ende angekommen zu sein, bedeutete für ihn den Wendepunkt. »Who by Fire« – der Originaltitel des Buches wie auch eines Cohen-Songs auf dem 1974 veröffentlichten Album »New Skin for the Old Ceremony« – basiert auf dem Gebet Unetaneh tokef, einem festen Bestandteil aschkenasischer Liturgie am Jom Kippur. Am Rande der menschlichen Existenz, dort, wo sie sinnlos und brutal in Frage gestellt wird, im Krieg, ruft Cohen in »Who by Fire« Gott an, bittet um Seine Gnade und bekennt die Sündhaftigkeit des Menschen. Und wenn er auch selbst nur äußerlich am Krieg teilnimmt, bloß singt und nicht kämpft, so ist das Bekenntnis menschlicher Sündhaftigkeit zugleich sein eigenes Bekenntnis, er, der dem religiösen Elternhaus, Frau und Kind und der Musik geflohen ist, und der auf der Suche nach Versöhnung der Widersprüche wieder ankommt beim Ursprung, im Gebet, bei Gott. Die Sha’ar Hashomayim – die Himmelspforte – öffnet sich ihm ein zweites Mal. 

Sie öffnet sich ihm darin, dass die Cohen’sche Intonation von »Who by Fire« heute zu Jom Kippur nicht selten der musikalischen Untermalung des Gebets Unetaneh tokef dient. Sie hat ihren Weg über den Jom-Kippur-Krieg in Israel zurück in die Synagogen der Welt gefunden. Und sie öffnet sich ihm darin, dass auch Cohen nach dem Krieg wieder in die Welt gefunden hat: Seine Frau, Suzanne, sei »wieder schön gewesen«, wie er schreibt. Ein Jahr nach dem Krieg bekommen die beiden ihr zweites Kind, Tochter Lorca.

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Einige Tage nach dem Terroranschlag der Hamas im Oktober dieses Jahres sprach Rabbi Efrem Goldberg aus Boca Raton, Florida, auf einer Veranstaltung im israelischen Beit Shemesh. Nach einigen Ausführungen schloss er seine Rede mit einem Verweis auf Genesis 12, wo Gott Abraham auffordert, sich aufzumachen, und ihm das Heilige Land verspricht. Während Luthers Übersetzung – »Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen« – nahelegt, dass nicht nur gesegnet werde, wer Israel segnet, sondern verflucht werde, wer Israel verflucht, bewahrt das Hebräische eine feine Differenz: Während für »segnen« das gleiche Wort verwendet wird – »baruch« –, heißt der zweite Satzteil sinngemäß: »Aber die dich verfluchen, werden mein Licht sehen«. 
Wer den Fluch über Israel bringt, es in Dunkelheit und Trauer stürzt, wird nicht bloß »geflucht« oder bekämpft. Wer den Fluch über Israel bringt, sei es eine Armee oder seien es Terroristen, wird das göttliche Licht sehen, wird das zu spüren bekommen, was das jüdische Volk seit Anbeginn zusammenhält, wird Energien freisetzen, die sich nicht beziffern lassen, wird die Himmelspforte ein weiteres Mal öffnen, wird das Grau auch für Israel wieder zum Erblühen bringen.

Matti Friedman: Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens.
Übersetzung ins Deutsche: Malte Gerken, 204 Seiten, Broschur, Hentrich & Hentrich