Es hat was gegeben in Linz - eh schon immer, aber von der Zeit ungefähr zwischen 1976 und 1995 handelt die 300-seitige Anthologie über die Anfänge der alternativen Musikszene in Linz, herausgegeben von Andreas Kump im Verlag »Bibliothek der Provinz« dieser Tage. Kump hat diese Zeit anhand von 60 Interviews dokumentiert, deren 150 Stunden Material er mit einer bewundernswerten Ausdauer auf über 1000 A4 Seiten transkribiert hat. Das Destillat davon liegt nun in meinen Händen. Es lastet nicht nur schwer auf meinem Schoß, es ist auch sozusagen das Packl, dass jedeR, der/die heutzutage im Linzer Umfeld musikalisch, kulturell, künstlerisch oder auf jegliche Weise alternativ unterwegs und aktiv ist, mit sich rumschleppen muss. Es ist das Echo, das in Form von Vorwürfen geblieben ist: »Brav sei es hier geworden, zu wenig widerständlerisches Potenzial, zu lasch«. All das, was also die alt eingesessen LinzerInnen den Nachkömmlingen ständig irgendwie unter die Nase reiben, wird hier in vielen Bildern und noch mehr Worten nun ein für allemal festgehalten. Denn: Sie haben viel zu erzählen, die die so gern reden und sich manchmal gerne selber reden hören. Es sind Geschichten im O-Ton, chronologisch in drei Teile gepackt und thematisch gebündelt in so schön klingende Kapitel wie »Hardcorehausen«, »Über London nach Urfahr« und »Stahlstadtkinder leben viel zu schnell«. Bands wie Willi Warma, die Mollis und unzählige andere formierten sich ab Mitte der 70er und Anziehungspunkte wie das Café Landgraf in Urfahr boten anfangs eine Bühne für deren Musik und das Publikum. Es wurden Orte geschaffen oder selber eingenommen, wie die benachbarte Stadtwerkstatt oder die Kapu. Kollektivistisch und mit mehr oder weniger politischem Anspruch wurde begonnen Konzerte, Film- und Theatervorführungen zu veranstalten von Leuten für Leute, die jung, unangepasst oder einfach anders waren.
»Es muss was geben« ist so etwas wie das »Verschwende Deine Jugend« oder »Please kill me« der Linzer für die Linzer. Oder interessiert es jemanden darüber hinaus? So meine großen Bedenken, denn die lokale Einschränkung auf Linz - noch immer und für immer: Provinz, Leere und Lethargie, die Stahlstadt, die Arbeiterstadt, die sooo gerne Kulturstadt wäre - schien mir doch überaus gewagt. Aber hey! Stop! Da wollen mir Fadi Dorninger, Peter Donke, Didi Bruckmayr, Sophie Rois, Peter Leisch, Gabi Kepplinger, Rainer Krispel, Huckey Renner und noch viele andere, die ich überhaupt nicht - nicht mal vom Namen her - kenne, weismachen: Linz war mal in Mode! Linz war ein Sog! Linz war Synonym für Ungebremstheit, Bedingungslosigkeit, Randale, Gewalt! Androgynität, Drogen, Selbstinszenierung, Rock and Roll! Also, es nehme mir keiner Übel das alles mal von vornherein anzuzweifeln. Das Landgraf ist heute eine unbetretbare Schnösel-Milchschaum-Bude, Ö3 ist keine musikalisch einschneidende Alternative mehr und Peter Rapp wird nie mehr wieder Kraftwerk im Fernsehen anmoderieren, von »radikal« ist nur eine Worthülse geblieben. Didi Bruckmayr soll mal ein »blonder, schüchterner, nickelbrilliger Junge, der irgendwo am Froschberg gewohnt hat« gewesen sein!? Aber: Die Vielfalt und Anzahl der Perspektiven in »Es muss was geben« zeugen von einer kollektiven Erinnerung und keinem im Sinnieren zusammengezimmerten Einzelerlebnis. Ich muss es glauben. Ich glaube. Meine Skepsis wird ja so und so geheilt von dem, um was es sich hier dreht: Musik. Die Anziehungskraft und die Faszination von Bands wie diesen, deren Musik und Attitude in den 70ern und 80ern von England, New York und Deutschland, nach Linz übergeschwappt ist, ist heute wie damals ungebrochen. Seit ich mit 17 The Velvet Underground und Iggy Pop and the Stooges für mich entdeckt habe, kann ich nicht mehr aufhören deren Alben zu horchen und bin noch immer in den jungen Lou Reed verliebt. Kraftwerk war ein tragender Einfluss für meine eigene elektronische Musiksozialisation, später die Riot Grrrl Bewegung. Die Einflüsse bleiben, die Auswirkungen waren und sind immer wieder anders zu spüren. Der große Unterschied ist: in der Generation, die in »Es muss was geben« ihre Spuren sichert, existierten Genres wie Punk, New Wave oder HC und eine daran gekoppelte Subkultur vorher nicht. Es war ein Statement, etwas vollkommen Neues und Unentdecktes; etwas, das gerade erst erschaffen wurde und man war Teil dieses Prozesses, ein Ausweg aus der drohenden Einbahnstraße des Lebens namens Kleinbürgertum. Bei lediglich einer Ahnung von diesem Gefühl, wie das gewesen sein könnte, beschleicht einen fast so etwas hässliches wie Neid. Die musikalischen und kulturellen Auswirkungen dieser Zeit sind latent spürbar an den noch immer existierenden Veranstaltungsorten und hörbar bei den über die Grenzen von Österreich hinaus bekannten Attwenger, Texta, Wipe Out oder Fuckhead. Viele in dem Buch erwähnten Bands sind jedoch für die nachkommende Generation, zu der ich mich auch zähle, aus dem Gedächtnis verschwunden. Aus diesem Grund ist »Es muss was geben« umso wichtiger. Einen beigefügten Tonträger vermisse ich. Auf die anfangs gestellte Frage »Wen interessiert’s?« kann ich antworten: Die Geschichte über den Beginn der alternativen Musikszene in Linz ist keine für die Wenigen die dabei gewesen sind, sondern es ist eine universelle Geschichte über eine Stadt und deren Jugend, die nachhaltig aus dem Nichts mit Leidenschaft und Energie ihre eigenen musikalischen und physischen Freiräume geschaffen haben. In den Interviews blicken die LinzerInnen zurück, ohne Pathos und mit genügend Selbstironie und Humor, ohne zu intellektualisieren. Mit ihnen würde ich gerne an einem Tisch sitzen.