Das Ende der Harmlosigkeit

Anmerkungen zum fortschreitenden Verschwinden des Alltags.

I.

Seit wann gibt es eigentlich den Alltag? Die Frage ist weniger banal, als es den Anschein hat. Wenn der Begriff auf das gewöhnliche Leben der Menschen im Unterschied zu Zeiten von Krieg, Not und Krise zielt, eröffnet sich damit sogleich die Frage, wie sich denn dieser Unterschied ausgehend von der Erfahrungswirklichkeit der Individuen bestimmen lässt. Solange Kriege auch in Europa keine Ausnahmen, sondern selbst sozusagen Gewohnheit waren, hob sich die Erfahrung des Kriegs nicht einfach komplementär von der Erfahrung des Alltags ab. Wird unter Alltag allgemeiner das Zusammenspiel all dessen verstanden, was sich täglich wiederholt, bleibt der Begriff ähnlich leer. Aufgrund welcher Kriterien soll bestimmt werden, was Wiederholung und was Unterbrechung, was Gewohnheit und was Neuigkeit ist? War die tägliche Plackerei der Industriearbeiter im England des 19. Jahrhunderts in ähnlicher Weise deren Alltag, wie der Fünf-Uhr-Tee zum Alltag der leisure class gehörte? Und ragte der Alltag der einen Gruppe in den Alltag der anderen hinein? Offenbar gehört zum Begriff des Alltags ein Moment unaufgeregter, vorreflexiver Normalität, das zu beiden Lebenswirklichkeiten nicht recht passen mag. Ein Leben in permanenter Armut und Not kann allenfalls polemisch, aber nicht substantiell als Alltag bezeichnet werden; ein Leben im Überfluss wiederum mag zur Gewohnheit werden, kann aber nie ganz und gar Alltag sein, weil es dann den Reiz vergänglichen Glücks verlöre, der zu seinem Begriff gehört. Wo das tägliche Leben der Menschen fast ausnahmslos aus Last und Beschwernis besteht, hat es entweder noch keinen Alltag hervorgebracht oder ist dabei, sich in etwas Schlimmeres als Alltag zu verwandeln; wo es sich in Luxus und Müßiggang erschöpft, hat es die angenehme Mittelmäßigkeit eingebüßt, die in der Rede vom Alltag mitschwingt.

Eher als zur Lebenswirklichkeit von Proletariat und leisure class scheint der Begriff des Alltags zu vorindustriellen Landbevölkerungen zu passen, an deren Beispiel die frühen Vertreter der Alltagsgeschichtsschreibung, die Historiker der Annales-Schule in Frankreich, ihn seit den zwanziger Jahren systematisch entfalteten. Lucien Febvre, mit Marc Bloch der wichtigste Begründer der École des Annales, schrieb seine frühen Studien über die Bedeutung der Erde und ihrer Bearbeitung für die frühe Neuzeit und über die ökonomische Geschichte des Rheins, Marc Bloch erforschte die Ökonomie der Feudalgesellschaft. Auch Fernand Braudel und Georges Duby, bedeutende Vertreter der nachfolgenden Annales-Generation, bildeten ihre Leitbegriffe an der Betrachtung vorbürgerlicher, frühneuzeitlicher Gesellschaften, vor allem an der mittelalterlichen Wirtschaftsordnung. Braudels Kategorie der longue durée, der »langen Dauer«, sollte gegenüber der an umwälzenden Ereignissen, Krisen, Epochenzäsuren und großen Namen orientierten bürgerlichen Geschichtsschreibung eine Historiographie ins Recht setzen, die das über Epochen hinweg Unveränderliche ebenso in den Blick nimmt wie die mikroskopischen Transformationen, die während scheinbar einheitlicher Epochen das tägliche Leben von Menschen subkutan verändern.

Doch das Interesse am Alltag vorbürgerlicher Gesellschaften folgte mitunter selbst bürgerlichen Bedürfnissen. Im agrarisch geprägten Leben vermeinten Bürger eine Einheit von Familien- und Arbeitswelt, Natur und Gesellschaft zu erkennen, die in der Entfremdung der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr gegeben war. Ihrem Grundherrn scheinbar so bedingungslos unterworfen wie dem in der Abfolge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter verzeitlichten Naturzwang, verkörperten Bauern, Mägde und Feldarbeiter in den Augen der Bürger, was diese an der Landbevölkerung nur mehr nostalgisch verehrten: routinierte Unfreiheit, tumbe Seelenruhe, zwanglose Einheit von Dummheit und Glück. Solchen Projektionen saß die École des Annales nicht auf, ihr ging es bei der Anwendung der Kategorie des Alltags auf vorbürgerliche Zeiten im Gegenteil um eine Korrektur der bürgerlichen Geschichtsauffassung, die (ob programmatisch oder unabsichtlich) zuvor kaum je Interesse daran hatte, zu erforschen, unter welchen Umständen die allermeisten Menschen vorbürgerlicher Epochen lebten; ganz so, als hätte der Beginn des bürgerlichen Zeitalters überhaupt erst die Geschichte eingeläutet, die der Historiographie zum Gegenstand wird. Indem sie dem vorbürgerlichen Leben eine eigene Dignität verliehen, wollten die Annales-Historiker etwas von dieser Ungerechtigkeit gutmachen. Zugleich aber drohte durch die Überdehnung des Alltagsbegriffs in Vergessenheit zu geraten, in welchem Maß dieser selbst historisch, nämlich durch die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft allererst hervorgebracht worden ist.

II.

Eher als den grau die Epochengrenzen überdeckenden Staub der Wiederholung oder das von der Ereignisgeschichte unerfasste Detail bezeichnet der Begriff des Alltags den verlässlichen Hintergrund, vor dem das Leben der Menschen sich als individuelles, unwiederholbares, eigengesetzliches überhaupt erst abzuheben vermag. Alltag in diesem Sinn ermöglicht allererst die Freiheit, die er, wenn er total wird und außerhalb seiner selbst nichts anderes duldet, zu ersticken droht. Anders gesagt: Alltag ist nicht nur ein bürgerlicher Begriff, sondern beschreibt ein genuin bürgerliches Phänomen – den zur Gewohnheit geronnenen Erfahrungshintergrund des Bürgers als öffentliche und private Person; eine selbst nie Ereignis werdende und Ereignisse doch erst ermöglichende Lebenswelt, die vor Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten keine Wirklichkeit hatte. Zugleich bezeichnet der Begriff den Widerspruch des Bürgertums: die Freiheit, die es verspricht, nur auf der Grundlage von Versagung durchsetzen, seinen Anspruch auf Universalität nur im Partikularen verwirklichen zu können. Nie beglückend und dennoch Voraussetzung allen Glücks, Verkörperung des Banalen und Ermöglichungsgrund des Singulären, verbindet sich im Alltag alles, was das Bürgertum an sich selbst verachtet und ohne das es nicht doch sein kann.

Der bürgerliche Gehalt des Alltags ist zusammengefasst in der Vorstellung von dessen Harmlosigkeit, die als Errungenschaft wie als Fluch gilt. Bohemiens und Bürgerschrecks zeichneten sich seit jeher dadurch aus, dass sie den bürgerlichen Alltag aufmischen, seine Friedlichkeit als Fassade entlarven und seine Erstarrung mit der Vitalität des pulsierenden Lebens konfrontieren wollten. Seit den sechziger Jahren und in Reaktion auf die angesichts der Realität in den sozialistischen Staaten aufdämmernde Erkenntnis, dass die Linke sich andere Gruppen denn das Proletariat als Träger revolutionärer Praxis suchen musste, bildete sich mit der Alltagssoziologie ein akademisches Komplement zu diesen Bestrebungen heraus. Im Werk des Soziologen Henri Lefebvre, namentlich in seiner bereits 1946 erschienenen, jedoch erst mit ihrer Neuveröffentlichung 1977 Epoche machenden Kritik des Alltagslebens, wurde der bürgerliche Alltag ebenso als Agens gesellschaftlicher Kontrolle und politischer Herrschaft kritisiert wie als unerschlossene Sphäre potentieller Taktiken der Gegenwehr und List entdeckt. Im Folgenden polarisierte sich die Rezeption des Alltagsbegriffs in der Soziologie. Einerseits wurden, meist in Anschluss an Foucaults Theorem von der Mikrophysik der Macht, die Formen analysiert, in denen sich die Disziplinar- und die sie beerbende Kontrollgesellschaft im Alltagsleben der Menschen sedimentierten; andererseits wurde der Alltag, in Anlehnung an Lyotards Begriff der Bricolage und Michel de Certeaus Kunst des Handelns, als Ort abenteuerlich-subversiver Geländespiele aufgewertet, mittels derer die kleinen Leute schon seit Jahrhunderten den Mächtigen ein Schnippchen schlagen.

Beide Sichtweisen, deren Fortleben sich bis in heutige Diskussionen über Städtebau und Gentrifizierung verfolgen lässt, überschätzen den Alltag. Die erste überzeichnet sein Beharrungsvermögen und seine habitualisierende Wirkung, indem sie in ihm kaum anderes als ein riesiges Freiluftgefängnis sieht, das die Menschen abstumpfenden, ebenso desillusionierenden wie trügerische Sicherheit versprechenden Ritualen unterwirft. Die zweite missdeutet die Unerschlossenheit und Vorreflexivität des Alltags als Symptom eines subversiven Potentials, das, erst einmal entfesselt, die große Politik entthronen könnte. Beides ist Reaktion auf die zunehmende Vermitteltheit gesellschaftlicher Herrschaft. Weil sich eine revolutionäre Klasse umso schwerer ausmachen lässt, je diffuser der Begriff der herrschenden Klasse wird (Termini, die ein geschichtsphilosophisches Erbe mitschleppen, an das am wenigsten die glauben, die ständig darauf rekurrieren), beschäftigt man sich lieber als mit sozialen Milieus mit den Leuten, die überall sind, die es irgendwie immer gegeben zu haben scheint und deren Daseinsweise der Alltag ist.

III.

In Wahrheit erhielt jener Alltag seine akademischen Weihen erst, als sein empirisches Korrelat nur noch als Schrumpfform existierte. Der Grund dieses Schwindens, in der Wirklichkeit wie in der Erfahrung, wird im ersten Satz des Aphorismus »Herr Doktor, das ist schön von Euch« in Adornos Minima Moralia benannt: »Es gibt nichts Harmloses mehr.« Die Liquidation des Harmlosen betrifft den Alltag unmittelbar, in dem sich in der bürgerlichen Epoche die Harmlosigkeit zu Hause fühlen konnte. Adorno fährt fort: »Die kleinen Freuden, die Äußerungen des Lebens, die von der Verantwortung des Gedankens ausgenommen scheinen, haben nicht nur ein Moment der trotzigen Albernheit, des hartherzigen sich blind Machens, sondern treten unmittelbar in den Dienst ihres äußersten Gegensatzes. Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.«

Im Grunde sind die Minima Moralia, »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, ein Buch über das Verschwinden des Alltags aus dem Alltag, dem anhand prägnanter Augenblicke und emblematischer Erfahrungen nachgespürt wird: der Brutalisierung des Straßenverkehrs, der Unfähigkeit, Türen zu schließen, dem Verschwinden der Fensterriegel, der Transformation des städtischen Gehens zum routinierten Rennen, der Verkehrung von Krankheit und Gesundheit, der Entmündigung der Greise zu vegetierenden Schmarotzern. Und all das nicht, wie eine triviale Lesart behauptet, weil eben nach Auschwitz nichts mehr harmlos sei, sondern weil, dass es geschah, den Begriff der Harmlosigkeit rückwirkend bis ins Innerste korrumpiert und bloßgestellt hat, dass hinter der Harmlosigkeit immer schon die Todesdrohung, hinter den Routinen des Alltags die namenlose Angst gesteckt hat. Dennoch wird Harmlosigkeit, als Freiheit von allem Harm, in derselben Passage als Sehnsucht festgehalten: Das Blühen des Baums, die der Verantwortung ledige Albernheit, die Schönheit des Augenblicks sollen nicht preisgegeben, sondern im Blick, der dem Grauen standhält, bewahrt sein. In der heute an jedermann ergehenden Parole, sich nirgends einzurichten, ständig dazuzulernen, die Herausforderung zu suchen und Vergangenem nicht zu lange nachzutrauern, wird mit dieser Einsicht auch der Alltag verraten.

Vorbürgerlicher Alltag? »Das Schützenmahl der Amsterdamer Bürgergarde zur Feier des Westfälischen Friedens 1648« von Bartholomeus van der Helst (Credit: Gemeinfrei)