Der Alltag der ersten Baseler Missionare an der Goldküste im 19. Jahrhundert war der Tod. Fast alle der Ankömmlinge erlagen Tropenkrankheiten.[1] Auch wenn seit der Entdeckung der Bakteriologie und der Impfungen Westafrika nicht mehr als »white man’s grave« gilt, geht Feldforschung an die Substanz. Chininabusus zur Vorbeugung und Behandlung von Malaria machte der Sudanforscher Edward E. Evans-Pritchard in den 1930ern für seine partielle Taubheit verantwortlich. Heute sind die Mittel (Malarone, Doxycyxlin, Lariam) raffinierter geworden, Nebenwirkungen wie Depressionen, Magenbeschwerden oder Lichtempfindlichkeit der Haut blieben. Sie bilden das Hintergrundrauschen von ethnographischen Feldforschungen. Dazu kommen kleinere Fieberinfekte, Diarrhoen, und bei vielen die vom permanenten Schwitzen ausgelöste Miliaria, ein stechender Hautausschlag. Auch das wäre auszuhalten, wenn man wenigstens schlafen könnte. Selbst im vergleichsweise ruhigen ghanaischen Cape Coast dröhnen jede Nacht die Bässe aus den Diskos. Tagsüber plärren die Gospels der Beerdigungen und die übersteuernden Lautsprecher der evangelikalen Kirchen durch die Straßen. Jeden Morgen um vier schreit der Muezzin seine Trauer über die ihm von Allah auferlegte Schlaflosigkeit in die Nacht. Um halb sechs beginnen die Autowerkstätten auf Metall herumzuhämmern und geflickte Motoren zu testen, Taxiverkehr setzt mit seinem typischen Hupen ein. Ohrenstöpsel helfen nichts gegen diese Kakophonie. Auch der Geruchssinn leidet: ständig ziehen Schwaden der Müllfeuer durch die Luft. Weil Recycling ein Mythos ist und professionelle Müllentsorgung immer teuer ist, wird die Unmenge an Plastik aus Einkaufstüten und Trinkwassertüten eben verbrannt, oder besser gesagt: verschwelt. Kein Fabrikarbeiter in Europa würde legal in solcher Luft arbeiten dürfen – Ethnologen aber nehmen die Umweltbelastung ebenso stoisch hin wie das Hautkrebsrisiko oder die tägliche Gefahr, in einem der Schrottautos einen der Unfälle zu erleiden, die für die ausgebrannten und zermatschten Wracks von Autos, Lastwagen und Reisebussen am Straßenrand verantwortlich sind.
Alltag der Ethnologie ist auch, dass man über all das nicht spricht – es gilt als Betriebsgeheimnis. Eine arbeitsrechtlich einigermaßen abgesicherte Feldforschung mit Risikozulagen und Familienzuschlägen würde so teuer, dass sie von der Streichung bedroht wäre. Und wie sollte man sonst die jungen Studentinnen und Studenten, Forscherinnen und Forscher in unbezahlte Mehrarbeit und extremen Stress locken, wenn vorab allzu viel Negatives bekannt würde. Schön und spannend wird die schlechtbezahlte Feldforschung wenigstens sein, regelrecht unfein ist, sein eigenes Leid zu beklagen. Rasch wird man, wie der Autor dieses Textes, von Vorgesetzten als »wehleidiger Besserwisser« abgestempelt. Wenn einem das idyllische Ghana schon »zu viel« ist, dann ist ja die Ethnologie insgesamt eher der falsche Beruf, so das Credo der Hartgesottenen, die Leiden aushalten indem sie Leidende abwerten. Insgeheim ist auch allen klar, dass Kinder einer solchen Umgebung auszusetzen unverantwortlich ist. Feldforschung mit Familie im subsaharischen Afrika ist daher eine Seltenheit, wer Kinder bekommt, ist unprofessionell und daher verschmerzbarer Verlust für die »cutting edge«-Wissenschaften oder man muss umsatteln auf Karibik, Südeuropa und Südostasien, wo wenigstens das Essen vorzüglich ist.
Aber auch, wer das Alltägliche der Anderen als Elend reflektiert, wird geächtet: dann hat man eben ein »white Mans-Burden«-Syndrom. Die »Anderen« leiden nicht, sie sind kreativ. Grundsatz von Ethnologie heute ist, dass man es ausschließlich mit gewitzten Leuten und ihren »alternativen« Weltsichten in einer »pluralen Moderne« zu tun hat. Hexenjagden etwa sind entweder ein Produkt des Kolonialismus, des Neoliberalismus oder subversive Umverteilung von Reichtum, nie jedoch Ideologie, gegen die man aufklären könnte. Interveniert man aber nicht, dann hat man gegen Ethikrichtlinien in der Forschung verstoßen, die einen zur Meldung von Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen
anhalten. Eine prächtige Double-Bind-Situation.
Es gehört also zum Alltag der Ethnologen, alles falsch zu machen und von anderen Ethnologen ebenso wenig verstanden zu werden, wie von Nichtethnologen oder den Individuen, mit denen man in der Forschung zu tun hat. Man kann aber leicht diese Einsamkeit kompensieren, indem man sich letztere zu Freunden macht. Eine Wahl gibt es ohnehin nicht – man wird integriert und eingeladen von Menschen, deren Alltag daraus besteht, sich Frühstück und Mittagessen zu verkneifen, weil sie nur 50 Cent haben um über den Tag zu kommen. Bald besteht der Alltag des Ethnologen daraus, sich für die erste Einladung zu revanchieren. Schließlich kann man die neuen Freundinnen und Freunde nicht einfach wieder in den Hunger zurückstoßen. Unprofessionellerweise produziert das Abhängigkeit. Also lehrt man die nächsten Genossen im Feld fischen, statt ihnen Fisch zu kaufen. Ethnologen legen dann auch einmal den treuesten »Informanten« tausend Euro auf den Tisch, um Ausbildung oder dauerhaft existenzsichernde Geschäfte zu finanzieren. Das kommt auf Dauer günstiger, als alle zwei Monate wieder hundert Euro zu schicken.
Der Luxus der empirischen Sozialforschung ist, sich für die Forschungs»objekte« weder besonders zu interessieren, noch persönliche Bindungen zu ihnen einzugehen. Die »visual anthropology« versucht, sich hinter Kameras zu verstecken, aus Angst vor den Emotionen einer allzu intimen, nicht abbildbaren Begegnung.
Ethnographie ohne persönliche Bindungen aber ist unmöglich, sie wird Spionage. Wer kein Spion und kein empirischer Sozialforscher sein will, ist daher nett zu anderen Menschen. Man lernt sich kennen und mag sich. Nach zwei Jahren findet die Universität dann, dass das Projekt jetzt abgeschlossen ist, dass man sich nun etwas Neues suchen sollte, sich »breiter aufstellt« und »produziert«: also ein Jährchen für umsonst Anträge und Aufsätze schreibt und dann vielleicht, mit etwas Glück und Anbiedern, wieder »etwas« kriegt. Die Freunde im Trikont sind fortan Privatsache, man könnte ihnen als professioneller Empiriker nun mitteilen, dass man sich nun nicht mehr für sie interessiert, weil man alle projektrelevanten Informationen aus ihnen herausgelutscht hat. Normale Menschen nehmen die Anrufe der Freunde weiterhin an. Und so gehört zum Alltag der Ethnologie auch, nach Jahren noch Kontakte aus längst »abgeschlossenen« Forschungen zu pflegen und diese Kontakte berichten dann von Unfällen, Krankheiten, von ihrem Hunger, von Arbeitslosigkeit, davon, wie gerne sie zur Schule gehen oder studieren oder Europa besuchen würden, oder dass ihre Mutter Brustkrebs hat und dass die Chemotherapie um 600 Euro kostet. Meist schreiben sie auch nur: »Hi, how is it going.« Nur selten schicken sie ausgetüftelte Statistiken zum Medienkonsum oder zitierbare geniale Analysen ihres Alltages. Das ist nichts, worüber man in einer akademischen Runde berichten dürfte, denn professionell ist das alles nicht. Man schämt sich vor den Empirikern dafür, dass man 150 Euro hier und 200 Euro dort verschickt, obwohl man längst keine verwertbaren »Daten« mehr erhält. Hätte man eben zeitgemäß in »Medienethnographie« gemacht, die nicht mehr mit armen Menschen forschen mag, sondern mit Straßenschildern, I-Phones und anderen »Aktanten« und »Netzwerken« und »Nutzern«: Dinge, die generell keine großen Probleme an einen herantragen. Das ist mitunter zwar langweilig, besonders wenn man das meiste der Ergebnisse mit ein wenig Selbstbeobachtung als aktiver Mediennutzer auch vorhersagen könnte, aber in der Ethnologie ist Langeweile ja auch kein Fremdwort. Claude Levi-Strauss etwa beschreibt in »Traurige Tropen« den Stillstand seiner Forschung in der Hängematte. Melancholischer Zweifel erfasst ihn. Alles geht schief auf seiner Suche nach den Nambikwara, einer unkontaktierten Gesellschaft am Amazonas. Expeditionshelfer desertieren, die Lastochsen flüchten, bevor sie zu gedörrtem Ochsenfleisch verarbeitet werden können, das unter den Satteln anderer Lastochsen aufbewahrt und dort mit würzigem Ochsenschweiß durchtränkt wird, was selbst einem Franzosen nicht wirklich gut schmeckt. Am Ende seiner von lästigen Parasiten und Fäulnis wuchernden Reise findet er dann doch noch ein gutes Dutzend Nambikwara, als ihm gerade die Vorräte ausgehen. Es bleibt ihm keine Zeit mehr, Sprache und Gewohnheiten dieser von Krankheiten dezimierten und gezeichneten Waldnomaden genauer zu studieren. Sein Buch schließt damit, dass er alles genausogut seiner Katze hätte erzählen können. Später wird die Ethnologie über ihn urteilen, er sei zwar ein bedeutender Theoretiker, aber ein wirklich schlechter Feldforscher gewesen, der sein Material nur aus der Literatur gesammelt habe.
Das wiederum ist der Alltag der Universitäten: weil die zur Kulturindustrie geronnene Wissenschaft zum gesellschaftlichen Fortschritt nichts mehr beitragen kann, wird sie böse. Sie simuliert Fortschritt durch konformistisches Fertigmachen Schwächerer und insbesondere Älterer. Früher war Wissenschaft schlecht, heute ist sie sehr gut, morgen wird sie noch besser – so geht jeder Forschungsantrag, der sich Selbstwirk-samkeit bestätigt. Forschungen sind auch immer erfolgreich, innovativ, »groundbreaking«.
Ehrliche Ethnographie aber war immer eine des eigenen Scheiterns. Der Konfessionalismus suchte, dieses Scheitern zu kultivieren und in die realistische Groteske überzuführen. Michel Leiris lässt in seinem »Phantom Afrika« schon auf Seite eins einen Ziegenbock aufs Schiffsdeck ejakulieren, später stiehlt er geweihte Masken für seine Museen, schlimmer noch, analysiert sich selbst. Man mutete dem Publikum die tiefsten und dunkelsten Peinlichkeiten, die sexuellen Ausschweifungen und Assoziationen, die eigene Bösartigkeit, mitunter hervorbrechende rassistische Gedanken zu. Solche Selbstironie ist unmöglich geworden – es wird identifiziert im manischen Betriebswesen der Akademien. Forschung bedeutet materialreiche Bestätigung der eigenen, klug vorherberechneten Vorannahmen – wer sich selbst widerlegt, gar widersprüchliches Material sammelt, ist verdächtig. Ethikkodizes verpflichten die Forschung zum ehrbaren Handeln – dazu gehört auch, dass auffällt wer sein Scheitern an hohen moralischen Ansprüchen eingesteht. Erfolg und Fortschritt, Prinzipien bürgerlicher Ideologie, sind die Regeln der auf reine Tauschwerte und Effekte fixierten akademischen Kulturindustrie, die jeden echten Fortschritt freilich in ihren Seifenblasen aus öden Tagungen mit dem immergleichen Jubel über den Pausenkaffee erstickt. Das ist der Alltag der bürgerlichen Gesellschaften: Die Wiederholung des Immergleichen.