Das Buch, das 2011 bei transcript erschien, vereint Kulturwissenschaften, Postcolonial Studies, Kunstgeschichte und Komparatistik und legt den Fokus auf künstlerisch-politische Interventionen, die aus einer rassismuskritischen Position heraus anti-demokratische und diskriminierende Ausschlussmechanismen des europäischen Grenzregimes thematisieren. Der Zeitraum der besprochenen Projekte reicht von Mitte der 1990er Jahre bis etwa 2008, wobei schwerpunktmäßig Projekte behandelt werden, die Anfang der 2000er Jahre entstanden sind.
Um die in ihrer Studie besprochenen Projekte zu kontextualisieren, haben Sie zunächst die österreichische und europäische Migra-tionspolitik skizziert, die zu einer entsprechenden Politisierung der Kunst in diesem Zeitraum geführt haben. Was waren relevante politische Ereignisse, die auf das Feld der Kunst dann auch so stark Wirkung zeigten?
Anita Moser: In den 1990er Jahren kam es zu massiven politischen Veränderungen in Europa: Mauerfall, Öffnung des Eisernen Vorhangs, Krieg in Jugoslawien, Ausbau der EU als Wirtschaftszusammenschluss, die Abschaffung innereuropäischer Grenzen bei zunehmender Abschottung gegen außereuropäische Länder, also der kontinuierliche Aufbau des europäischen Grenzregimes. Rechtspopulismus und -extremismus nahmen stark zu. In Deutschland wurden in den 1990er Jahren Unterkünfte Geflüchteter in Brand gesetzt. In Österreich kam es zu Brandanschlägen und Morden an Roma, zu Polizeiaktionen gegen Migrant_innen mit Todesfolge. Das alles wirkte sich auch auf das Kunstfeld aus und zog engagierte künstlerische Auseinandersetzungen nach sich. Als eine Art Trigger kritischer künstlerischer Aktivitäten kann zudem die Regierungsbildung von ÖVP und FPÖ im Februar 2000 gesehen werden. Insgesamt war das politische und soziale Klima sehr angespannt, Positionen waren polarisiert und offener Rassismus an der Tagesordnung. Heute ist die Situation ähnlich – oder noch viel drastischer. Und auch heute, so meine Beobachtung, werden in der Kunst verstärkt politische Entwicklungen kommentiert und verhandelt.
Sie geben einen sehr guten Überblick über Projekte, die in Österreich oder an der Grenze zu Österreich künstlerische »Überschreitung« in vielfachem Sinne vollzogen haben, darunter Arbeiten von Klub Zwei, maiz, Social Impact, WochenKlausur, Tanja Ostoji´c und anderen. Welche Formen zeigten sich als wirksame, welche Medien wurden häufig eingesetzt, welche Konzepte verfolgt?
Anita Moser: Eine Gemeinsamkeit ist, dass es sich weitgehend um Kunst im öffentlichen Raum, um aktivistische und intervenierende Praktiken handelt. Die Arbeiten zeichnen sich durch ihre liminale Verfasstheit aus, die sich auf der Materialebene in ästhetischen Überschreitungen und im Ineinanderwirken verschiedener Medien, Genres und Strategien zeigt. Ansätze, die sich diverser Alltagsmaterialien und -medien bedienen, diese aneignen und umdeuten, sind dabei besonders relevant. Charakteristisch ist auch Prozessorientiertheit: Das ausstellbare Kunstprodukt rückt zugunsten ephemerer ästhetischer Situationen oder konkreter Interventionen im sozialen und politischen Bereich in den Hintergrund. Der Inhalt der künstlerischen Auseinandersetzungen mit Phänomenen wie Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Grenzregime, Schubhaft, Flucht etc. spiegelt sich in den performativen Praktiken, die sich als Bewegungen quer durch Raum und Staat und über Grenzen hinweg manifestieren, wider. Mit einigen der künstlerischen Arbeiten geht auch reale Fluchthilfe einher.
Wie würden Sie kritische Fragen nach dem Geschlecht hinsichtlich aktivistischer Kunstpraktiken beantworten?
Anita Moser: Ganz generell lässt sich feststellen, dass es im Feld feministischer aktivistischer Kunst überaus differenzierte und kritische Positionen gibt. Tanja Ostoji´cs performativen Aktionen etwa zeichnen sich durch einen sehr spezifischen Zugang aus. Als Frau und Künstlerin, der die Einreise nach Österreich verwehrt worden war, hat sie einen anderen Zugang zum Thema restriktiver Migrationspolitik als in Österreich geborene und lebende Kunstschaffende. Sie bearbeitet das Thema, indem sie »illegal« eine Staatsgrenze überschreitet und eine auf den ersten Blick vermeintlich private Erfahrung als künstlerisches Projekt öffentlich macht. Die Stärke der Arbeit hängt unmittelbar mit ihrer persönlichen Erfahrung zusammen.
Politisch bzw. aktivistische Kunst versucht sich oft in den Alltag von Menschen hineinzuschmuggeln oder das Publikum auch aus seiner zusehenden Rolle herauszureißen. Welche Formen sind Ihnen hier als innovativ aufgefallen?
Anita Moser: Kunst ist oft dort am spannendsten, wo sie überhaupt nicht erwartet wird. Am Wirtshausstammtisch zum Beispiel, wie ein Projekt von Social Impact zeigt, das mit von Künstler_innen gestalteten Bierdeckeln in Gasthäusern interveniert. Auch ein Projekt von Martin Krenn und Oliver Ressler, bei dem in der Grenzregion zwischen Österreich und Slowenien mit einer als Boulevardzeitung getarnten Postwurfsendung über 12.000 Haushalte erreicht wurden, schaffte es Botschaften über Fluchthilfte als Dienstleistung in private Wohnzimmer zu übermitteln. SOS Mitmensch beauftragte eine Reihe von Künstler_innen mit der Gestaltung einer Postkartenserie zum Thema Schubhaft, die über Zeitschriften und durch die Verteilung im öffentlichen Raum, in Lokalen, Geschäften und Kunsträumen sehr breit gestreut wurde. Das Künstlerinnenkollektiv Klub Zwei versah Straßenbahnhaltestellen mit großformatigen Plakaten, auf denen Statements gegen die restriktive österreichische Migrationspolitik zu lesen waren.
Als problematisch diskutieren Sie in Ihrem Buch die Frage danach, für wen und von wem die Kunst überhaupt gemacht wird, Stichworte sind etwa »Community«, »Partizipation«, »Gruppenarbeiten«.
Anita Moser: Partizipation in der Kunst hängt immer mit Macht und Hierarchien zusammen. Deshalb sind Fragen danach, wer wann zu welchem Zweck Kunst macht, in die andere Menschen eingebunden werden, besonders relevant. Gruppen werden aufgrund von vermuteten Merkmalen und Zuschreibungen produziert, ihren Mitgliedern vorgegebene Positionen und Plätze zugewiesen und Othering-Prozesse fortgesetzt. Gruppen bestehen aus Individuen, weshalb Differenz eines ihrer zentralen Merkmale ist. Diese wird oft ausgeblendet. Aktuell passiert dies beispielsweise in Bezug auf Geflüchtete. Sie werden in den Medien, aber oft auch in Kunstprojekten auf eine vermeintlich gemeinsame Erfahrung – die Flucht – reduziert. Viele anderen Aspekte ihrer Identität bleiben ausgeblendet. Temporäre Gruppenbildung kann allerdings strategisch durchaus sinnvoll sein. Zeit und Offenheit für die Problematisierung der Kategorie Community, die Offenlegung von Entscheidungs- und Definitionsmacht sowie die Bereitschaft der Künstler_innen, eigene Motivationen und Privilegien zu thematisieren, sollten idealerweise Bestandteile der Kooperationen sein.
Im Zentrum der Analyse stehen im dritten Teil des Buches vor allem die Arbeiten des Künstlers Franz Wassermann, insbesondere sein Kunstprojekt gegen Schubhaft, das 2000 entwickelt wurde. Die Umsetzung des in Zusammenarbeit mit der NGO »arge schubhaft« entstandenen Projekts war ein fast zweijähriger Prozess, Sie beschreiben die unangemeldete Pressekonferenz, den Kleidertausch mit Inhaftierten, die Plakatkampagne, die Besetzung einer Galerie vor Ort oder eben die »illegalen« Fahrten über Staatsgrenzen. Bei diesen Projekten greifen Ästhetik und postkoloniale Kritik geradezu beispielhaft zusammen, interessant ist aber auch die Frage der Wirksamkeit. »Was bleibt vom Aktivismus übrig«, fragen Sie da in der Überschrift zum letzten Kapitel – wie lautet eine mögliche Antwort darauf?
Anita Moser: Es muss nichts übrig bleiben im Sinne von materiellen Manifestationen oder messbaren Ergebnissen. Debatten zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Kunst sind problematisch, da darin oft die Autonomie von Kunst in Frage gestellt wird. Es ist wichtig, dass es in unserer Gesellschaft Bereiche gibt, die nicht dem Nützlichkeitsdiktat unterliegen. Kunst muss so ein Bereich bleiben. Kunst kann aber – im Gegensatz zu akademischen Analysen, politischen Statements oder Auseinandersetzungen in den Medien – einen ungewöhnlichen Blick auf unsere Gesellschaft richten und die menschliche Wahrnehmung mit Irritationen herausfordern. Es lässt sich beobachten, dass künstlerische Arbeiten oft breitere – auch mediale – Diskurse nach sich ziehen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf ausgeblendete oder tabuisierte Themen lenken. Das Projekt von Franz Wassermann hat in Tirol wesentlich zu einer breiteren Aufmerksamkeit für das Thema Schubhaft und die Problemlage davon betroffener Menschen nach sich gezogen, also einen Diskurs in Gang gesetzt, den es vorher nicht gab.
Sie arbeiten als Senior Scientist am Schwerpunkt Wissenschaft & Kunst, einer Kooperation der Paris Lodron Universität und der Universität Mozarteum Salzburg. Davor waren Sie unter anderem Geschäftsführerin der Interessenvertretung freier Kulturinitiativen TKI und neben Unterrichtstätig-keiten an der Universität in der Erwachsenenbildung tätig. Wie sehen Sie generell die Überschneidung von politischen, wissenschaftlich-theoretischen, künstlerischen und kunstvermittelnden Aktivitäten?
Anita Moser: Die Überschneidung verschiedener Bereiche finde ich persönlich wichtig. Schon während des Komparatistikstudiums habe ich immer eine Anbindung der Theorie an die Praxis gesucht, etwa über die Mitarbeit bei Kulturvereinen. Oft musste ich dabei die Erfahrung machen, dass Theorie und Praxis nicht immer so kompatibel sind wie ich es erwartet hatte. Während meiner Arbeit bei der Interessenvertretung TKI wiederum war es gut, öfter einmal einen distanzierten theoretischen Blick auf die Praxis und den Alltag der Kulturarbeit zu richten. Dass das Zusammenspiel von Theorie und Praxis sowie das Zusammenwirken von Diskursen aus unterschiedlichen Feldern gewinnbringend sein kann, zeigt sich ja gerade in der Postkolonialen Kritik sehr gut.
Sehen Sie im Zusammenhang mit der sog. »Flüchtlingskrise« 2015 Veränderungen, die sich auch im künstlerischen Feld niederschlagen? Neue Kunstformen oder aktivistische Interventionsmöglichkeiten, gerade in Österreich oder Deutschland? Glauben Sie, dass die Ereignisse eine neue Politisierungs- und Solidarisierungswelle der KünstlerInnen hervorgerufen hat?
Anita Moser: Es ist beeindruckend, wie viele Kunst- und Kultureinrich-tungen rasch und engagiert auf die Flüchtlingsbewegung reagierten, Benefizveranstaltungen durchführten, Notunterkünfte einrichteten, Deutschkurse organisierten oder bürokratische Unterstützung anboten. Interessante inhaltliche Auseinandersetzungen finden aktuell in der Architektur statt, auch viele Künstler_innen beziehen sich auf Flucht oder die Arbeit mit Geflüchteten. Gerade im Theater ist ein regelrechter Hype zu beobachten, der nicht ganz unproblematisch ist. Denn manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen der Aufführung eines Stückes und der Vorführung von Menschen. Andererseits zeigt sich aber auch – etwa in der visuellen Kunst –, dass künstlerische Arbeiten eine wichtige »korrigierende« Funktion von Mainstreamdiskursen haben können, indem sie Aspekte und Themen kritisch ins Bild rücken, die Medien ausblenden. Damit beschäftigen wir uns derzeit auch am Kooperationsschwerpunkt in einem Forschungsprojekt zu künstlerischen und medialen Darstellungen von Flucht, Infos dazu gibt es im Internet: http://www.w-k.sbg.ac.at/zeitgenoessische-kunst-und-kulturproduktion/forschung/forschungssaeulen/oeffentlichkeiten-und-intervention.html.