Musik von diesem und anderem Planeten

Berthold Seliger schildert einige Marginalien aus seinem musikalischen Alltag im November 2016

Da stehen und sitzen sie auf dem Promofoto ihres Plattenkonzerns Universal: Die Musiker Max Raabe, Thomas Quasthoff und Cassandra Steen und die Manager der Musikindustrie, die sich „Senior Director Domestic Marketing & Special Projects“ oder „Senior Product Manager“ oder „Senior Manager Promotion Classics“ oder „Manager TV Promotion“ oder schlicht „President Deutsche Grammophon“ nennen. Sie haben neuen „Content“ „generiert“, sie haben ein neues „Produkt“ auf den Markt gebracht und promoten es: ein Album namens „Wintermärchen“. Deutsche „Weihnachtsklassiker“ wurden „völlig neu arrangiert“, auch Gregor Meyle und Katharina Thalbach haben sich für das Projekt des weltweit führenden Klassik-Labels hergegeben, und Albrecht Meyer, der Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker, spielt Englischhorn. Die Arrangements, verkünden die Marketing-Experten, seien „luftig und beschwingt“, so mache O Tannenbaum wieder Spaß. „Weihnachten – die Zeit der Liebe, der Besinnlichkeit und der leuchtenden Kinderaugen“, säuselt der Werbetext der Plattenfirma.
Jede Zeit, jede Gesellschaft bekommt das Weihnachts-Album, das sie verdient. Das Renommierlabel ist dabei seit Jahrzehnten für die Qualitätsarbeit im bürgerlichen Weihnachtshaushalt zuständig, aktuell kann man wählen zwischen The Christmas Album der Berliner Philharmoniker (Musik von Bach, Mozart, Tschaikowsky und anderen, dazu drei Weihnachtslieder), Mozart - The Christmas Album, Thomas Quasthoff - Mein Weihnachten und eben dem Wintermärchen. Die kulturelle Selbstvergewisserung der Bourgeoisie mit der Mär von Besinnlichkeit, Liebe und leuchtenden Kinderaugen, wo es längst nur noch um Konsumismus und Profit geht, trifft sich aufs Vortrefflichste mit den Interessen der Kulturindustrie, für die Weihnachten ein attraktives Saisongeschäft ist wie für Lebkuchen- und Schokonikolaus-Produzenten.

Ungefähr zur gleichen Zeit, als die allesmitmachenden Künstler samt den Musikmanagern und zwei niedlich arrangierten Weihnachtspäckchen in einer Berliner Luxusabsteige für ihr Wintermärchen posiert haben, also im Sommer oder Frühherbst des Jahres, haben die Mekons ihr neues Album Existentialism veröffentlicht. Die Mekons, eine der besten Folk-Punk-Bands des Planeten, hatten Freunde und Fans eingeladen, mit ihnen im Brooklyner Jalopy Theater ein paar Songs zu singen, und das ganze haben sie aufgenommen – um ein Mikrofon herum stehend, was das Ganze manchmal wie ein Bootleg klingen läßt, und das ist eine bewußte künstlerische Entscheidung. Songs wie Fear & Beer diskutieren die neoliberale Welt und den aktuellen Populismus anhand des Brexit,



Wenn ihr das Video durchlaufen laßt, kommt auf YouTube als nächster Song ein toller Live-Mitschnitt aus dem Chelsea Wien aus 2011, von der einstweilen letzten Europatour der Mekons, die übrigens yours truly veranstalten durfte: Hard To Be Human

1848 Now! verweist auf vergangene Revolutionen, und wie The Cell die Melodie von I’m So Lonesome I Could Cry von Hank Williams verwendet, zeigt die große Meisterschaft der Mekons. Hier geht es nicht um glatten und perfekten Studiosound, sondern um Inhalte, und es geht bei dem gemeinsamen Musikmachen um etwas, das im kapitalistischen Realismus unserer Tage besonders wichtig wäre, aber aus naheliegenden Gründen in Vergessenheit geraten ist: Solidarität & Kollektivität! Und die Frage, mit wem die Mekons musizieren, hat direkt mit der wichtigen Frage zu tun, die heute viel zu selten gestellt wird: Für wen machen wir eigentlich Musik? Und warum? Eine Fragestellung, die all die langweiligen Stadtmarketing-Musikant*innen und Popakademie-Absolvent*innen unserer Tage nicht kennen, an der sich aber alles entscheidet. „Daß die Elite anders denkt und andere Kunst betreibt oder fördert als die große Menge des Volkes, ist in Klassengesellschaften nun mal so“, schrieb der große Musikwissenschaftler Georg Knepler einmal. Wie aber kommt es, daß es der Elite auch gelungen zu sein scheint, weite Teile der Popkultur zu dominieren mit Musik, die nichts mehr bedeutet und für nichts einsteht? Daß die herrschende Musik die Musik der Herrschenden geworden ist?

Es war einmal anders, in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Es ist ja kein Zufall, daß die beiden Opern Alban Bergs prononciert gesellschaftskritische Texte haben. Anton Webern war unter anderem Leiter der Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte und Chormeister des Wiener Arbeiter-Singvereins. Die äußerst erfolgreichen Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte waren laut Johann W. Seidl das „Modell einer kulturpolitischen Alternative zum offiziellen Musikleben“[1], sie verfolgten die Idee einer Demokratisierung des Kulturlebens, und die Programme orientierten sich an der Bildungsfunktion von Kultur, zeigten aber auch eine große Aufgeschlossenheit für neue, also zeitgenössische Werke, deren Anteil an den aufgeführten Stücken mehr als dreißig Prozent betrug (im Gegensatz zu nicht einmal fünf Prozent bei den Berliner Philharmonikern heutzutage, beispielsweise). Man führte Schönberg, Bartók, Eisler, Korngold oder Krenek auf, und die Werke Gustav Mahlers, der seinerzeit von Seiten des bürgerlichen Wiener Publikums noch Ablehnung, ja offener Anfeindung ausgesetzt war, waren bei den Arbeiter-Symphoniekonzerten bereits früh regelmäßig zu hören, wurden an diesem Ort also sozusagen durchgesetzt.
Edgar Varèse, der Lenin und Trotzki persönlich kannte, war Dirigent kommunistischer Arbeiterchöre, und während des Spanischen Bürgerkriegs sammelte er Geld für die Verteidiger der Republik, die gegen die mit Nazideutschland verbündeten Franquisten kämpften. Varèse hatte 1919 das New York Symphony Orchestra gegründet, das auf kooperativer Basis zum Zweck der Verbreitung neuer Musik arbeitete, nicht zuletzt angesichts der „umfassenden Krise des Interpreten als gesellschaftlich verantwortlichem Wesen“ (Boehmer); natürlich hatte jeder Musiker Anteil am Gewinn des Projekts. Varèse sah in der Verwendung neuer technischer Mittel ausdrücklich die gesellschaftliche Funktion, die ihm zufolge die Musik des technischen Zeitalters haben mußte, nämlich „die Massen zu erreichen“.
Es ging um Teilhabe der „einfachen Menschen“ an der Kultur, Webern, Scherchen, Eisler, Klemperer, Varèse und all die anderen öffneten und erweiterten die sogenannte klassische Musik und die bürgerliche Kultur für das Proletariat. Die Bourgeoisie reagierte auf diese Entwicklung dadurch, daß sie Werke der Avantgarde systematisch skandalisierte, und dies ging durchaus über das bisher gewohnte Maß an Unverständnis und Ablehnung des Neuen hinaus. Und in der Folgezeit reagierte die Bourgeoisie zusätzlich mit dem Mittel, das ihr sowieso allerbestens eignet, nämlich der Integration der Avantgarde ins herrschende System durch Umarmung (in diesem Fall, wie so häufig: durch Finanzierung). Man hat ein System der Subventionierung der Avantgardemusik entwickelt, das die Komponisten, aber auch einzelne Interpreten dieser Musik privilegiert, aber natürlich nur so weit, daß ein Überleben durch Auftrags- und Uraufführungshonorare wie durch Tantiemen gesichert ist. „Das Subventionssystem bringt den Komponisten unter eine nahezu perfekte Kontrolle jener Institutionen, durch die öffentliche Gelder kanalisiert werden“ (Helms), und vor allem entscheidet die herrschende Klasse mittels ihrer ausführenden Organe selbst, welche Avantgarde-Werke sie zuläßt. Hier kommt der Drang der Bourgeoisie zum Tragen, sich stets und in allen Dimensionen ihrer Herrschaft als Inhaberin des Fortschritts inszenieren zu wollen. Daß diese Strategie der Einordnung eventuell oder ehemals subkultureller Strömungen nicht nur für die Avantgarde, sondern auch für die Popkultur gilt, die längst ebenfalls von staatlichen Stellen subventioniert wird und deren Subventionsempfänger*innen sich bereitwillig der von den Subventionsgebern angeordneten Selbstzensur unterwerfen, muß nicht eigens betont werden.

Arnold Schönbergs Zweites Streichquartett fis-Moll op. 10 rief bei seiner Wiener Uraufführung im Dezember 1908 einen Tumult hervor, der, wie Schönberg später sagte, „weder vorher noch nachher von einem ähnlichen Ereignis übertroffen werden konnte“, und „entsprang der natürlichen Reaktion eines konservativ erzogenen Publikums auf neuartige Musik“; das Publikum hörte bei den letzten beiden Sätzen „nicht mehr auf, die Aufführung zu stören“. Schönberg berichtet dann etwas überrascht: „Aber am Ende des vierten Satzes passierte etwas ungewöhnliches. Nachdem die Sängerin aufhört, kommt eine lange Coda, die vom Streichquartett alleine gespielt wird. Während, wie bereits erwähnt, das Publikum nicht einmal die Sängerin respektierte, wurde diese Coda ohne weitere Zwischenfälle aufgenommen. Vielleicht haben sogar meine Feinde und Gegner an dieser Stelle etwas gefühlt.“[2]
 

 

Wir wissen nicht, ob Schönbergs Gegner „etwas gefühlt“ haben – es ist eher nicht anzunehmen. Im „Entrückung“ genannten letzten Satz verwendet der Komponist ein Gedicht von Stefan George und beschreibt laut Schönberg „die Abreise von der Erde zu einem anderen Planeten“:
„Ich fühle luft von anderem planeten. (...)
Ich löse mich in tönen · kreisend · webend ·
Ungründigen danks und unbenamten lobes
Dem grossen atem wunschlos mich ergebend.“


„Entrückung“ (aus Schönbergs Streichquartet Nr. 2) in der Version des Kolisch Quartets (aufgenommen am 31.12.1936) auf Spotify

Im Juni 1968, also auf dem Höhepunkt der US-amerikanischen Studentenrevolte, deren geistiger Mentor und Gallionsfigur Herbert Marcuse war, hielt dieser eine Rede am Konservatorium in Boston, in der er betont, „daß die Künste heute mehr als je zuvor bei der Veränderung der Verhältnisse und der Erfahrung der Menschen eine entscheidende Rolle spielen müssen“ [3]. In der „Transzendierung der Gegenwart und der Beschwörung der Zukunft“ erweise sich die Musik „als freieste, autonomste aller Künste“. Die Musik sei „Trägerin einer Wahrheit“ und „die große Kraft der Negation“. Marcuse verweist auf Mahler und auf Schönberg, und hier ausdrücklich auf den vierten Satz des Zweiten Streichquartetts, auf das „Ich fühle luft von anderen planeten“ (Marcuse verwendet während seiner gesamten Rede immer den Plural, „von anderen Planeten“, während es bei George und Schönberg richtig „luft von anderem planeten“ heißt, was eine andere Wendung darstellt). „Wir können zu dem, was geschieht, keine Musik mehr machen, doch wir müssen Musik machen, weil wir Luft von anderen Planeten atmen, frische Luft, die die verschmutzte vertreiben mag.“ Marcuse endet mit einem Verweis darauf, daß es eine neue Musik gibt, „die eine ganze Generation weltweit dazu bringt, zu singen, zu tanzen und zu marschieren, ohne einer Militärkapelle oder einem Rattenfänger zu folgen. Diese Generation folgt nur sich selbst und der Melodie ihres Körpers und Geistes“, und er stellt einen interessanten Kontext her zur „schwarzen Musik“ und deren „subversiven Charakter“. Die „große Rebellion gegen unsere repressive Zivilisation“ umfasse auch den Bereich der Musik, sie wolle tatsächlich „Musik von anderen Planeten, sehr wirklichen und sehr nahen Planeten.“

Im November 2016 prangt das Sternbild Andromeda am Südhimmel, man kann in einer klaren Nacht mit bloßem Auge ein zart schimmerndes Wölkchen erkennen, den Andromedanebel, der zweieinhalb Millionen Lichtjahre von unserem Planeten entfernt ist. Das Licht der Andromeda, das wir in diesem Monat sehen, ging also zu einem Zeitpunkt auf die Reise, als sich auf der Erde gerade einmal die ersten Exemplare der menschlichen Gattung tummelten, die Homo rudolfensis und Homo habilis. Schwer vorstellbar, zugegeben, dabei gehört der Andromedanebel zu den der Erde nächstgelegenen Galaxien im Weltall.

Im Jahr 1977 startete die Raumsonde Voyager 1 von Cape Canaveral, passierte 1979 den Jupiter und 1980 den Saturn und trat im August 2012 als erstes von Menschen erzeugtes Objekt in den interstellaren Raum ein; derzeit ist die Sonde etwa unfaßbare 20,38 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt (und sendet immer noch regelmäßig Daten zur Erde!). Wenn die Voyager 1 jemals irgendwo im Weltraum auf intelligentes Leben treffen wird, vielleicht in der Nähe des Sterns Gliese 445, den sie in etwa 40.000 Jahren passieren wird, dann kann es sein, daß dieses intelligente Leben die mit Gold überzogene Datenplatte aus Kupfer studieren wird, die sogenannte Voyager Golden Record, auf der Bild- und Ton-Informationen über die Menschheit gespeichert sind. Darunter befinden sich einige wenige Musikstücke: Auszüge aus Bachs Zweitem Brandenburgischen Konzert, Gamelan-Musik aus Bali, senegalesische Trommelmusik, Lieder der Pygmäen, der Aborigines, aus Mexiko, Georgien, Peru und von den Navajos, Johnny B. Goode von Chuck Berry, ein indischer Raga, der erste Satz aus Beethovens Fünfter Sinfonie, der Melancholy Blues von Louis Armstrong und seinen Hot Seven und Mozarts Arie der Königin der Nacht aus der Zauberflöte. Am Ende all der Daten und Informationen und der 27 Musikstücke befinden sich zwei besondere: Das eine ist das eines Mannes, der 1770 in Bonn geboren wurde, später in Wien lebte und als einer der größten Komponisten aller Zeiten gilt, und der übrigens – denken wir an Marcuses Diktum, die Musik sei „Trägerin einer Wahrheit“ – einmal geschrieben hat, worum es immer geht: „Freyheit über alles lieben; Wahrheit nie, (auch sogar am Throne nicht) verläugnen“! Die Voyager Golden Record endet mit der Cavatina. Adagio molto espressivo, dem fünften Satz aus Beethovens Streichquartett Nr. 13 in B-Dur op. 130. Und direkt davor ist als Stück, das den Außerirdischen ebenso einen Eindruck vom musikalischen Schaffen der Menschheit verschaffen soll, der Song Dark Was The Night - Cold Was The Ground von Blind Willie Johnson zu hören – wenn die Außerirdischen in der Lage sein sollten, diese Platte zu hören und zu entziffern.

Wo und wie hat Blind Willie Johnson, der blinde, arme, schwarze Musiker, der in den 1920er Jahren „in der Pampa“, in kleinen Städtchen im ländlichen Texas lebte und dort auf den Straßen musizierte, diese spezielle und unglaubliche Art und Weise gelernt, die Slide-Gitarre zu spielen? Und von wem hat er das gelernt? Es gibt nur einige wenige Aufnahmen von ihm, etwa dreißig Stücke, die ersten wurden – ähnlich wie das aktuelle Album der eingangs erwähnten Mekons – in einem Live-Take bei zwei Sessions in Dallas in den Jahren 1927 und 1928 aufgenommen und sind wohl seine besten; die letzten Einspielungen stammen aus 1930 in Atlanta, danach verschwand der Musiker und Komponist von der Bildfläche, er starb 1945 in Armut, nachdem seine Hütte abgebrannt war. Und dennoch gehört er zu den wichtigsten Musikern der Geschichte, er beeinflußte Robert Johnson, Muddy Waters, Bob Dylan, Eric Clapton oder Jimmy Page. Wen wird eine außerirdische Intelligenz, so sie jemals diese Platte auf der Voyager 1 entdecken und entziffern wird, besser verstehen, Blind Willie Johnson oder Ludwig van Beethoven? Wir wissen es nicht, und es ist äußerst wahrscheinlich, daß wir es nie erfahren werden.

Ich höre im November 2016 viel Musik von Beethoven, mit ihm beschäftigt sich das letzte Kapitel meines gerade entstehenden Buchs. Robert Kolisch, der mit seinem Quartett an der Jahreswende 1936/37 in Hollywood die vier Streichquartette Schönbergs in einer einzigartigen Interpretation eingespielt hat, hielt im Dezember 1942 in New York vor der American Musicological Society einen Vortrag zum Thema „Tempo and Character in Beethoven’s Music“, der im Folgejahr in The Musical Quarterly abgedruckt wurde. Kolisch ging es um die Aufführung eines Werkes als die „Realisation des musikalischen Sinns“, und vereinfacht gesagt weist Kolisch nach, in welchen Tempi Beethovens Werke gespielt werden müssen. „Die aus Kolischs philologischer Rekonstruktion stringent sich ergebenden korrekten Beethoventempi sind in der Regel rascher als die üblichen falschen, und zwar in einem Maß, das disproportional zu jeder naiven Erwartung steht.“ (Heinz-Klaus Metzger) Vor allem verschwindet durch die Wahl der richtigen Beethoventempi alles „schlecht Pathetische“ und „Feierliche“ bestimmter Sätze. Werke wie beispielsweise die Eroica sind dann keine Ansammlung schöner Stellen mehr, schmackhaft und „genießbar“ gemacht für die bürgerlichen Hörer*innen und die Eliten, sondern gewinnen ihre aufrührerische Kraft zurück, die Synkopen und Dissonanzen des ersten Satzes gehen wieder in die Magengrube, die revolutionäre Aussage der Musik ist wieder zu hören und zu spüren – für das feudale Wien des Jahres 1803 ganz sicher ebenso „Musik von anderem Planeten“ wie für die neofeudale Welt des kapitalistischen Realismus unserer Tage. Hören Sie bitte Hermann Scherchens Eroica-Interpretation von 1958 mit dem Orchester der Wiener Staatsoper. Hermann Scherchen übrigens besorgte die Übersetzung von Brüder, zur Sonne, zur Freiheit aus dem Russischen, betätigte sich als Dirigent von Arbeiterchören ebenso wie als Professor an der Berliner Hochschule für Musik. Er gründete die Musikzeitschrift „Melos“ und die Neue Musikgesellschaft Berlin, 1926 wurde er Bundesdirigent des Deutschen Arbeiter-Sängerbundes. 1933 emigrierte Scherchen wegen seiner Ablehnung des Nationalsozialismus. Er machte sich jahrzehntelang um Neue Musik verdient und dirigierte zahlreiche Uraufführungen.


 

Leonard Cohen ist gestorben.
Ich erinnere, wie wir 1974 in der (»illegalen«) Raucherecke am Viscardi-Gymnasium in Fürstenfeldbruck standen, und es war ein etwas dicklicher neuer Schüler, der aus einem Ostblock-Land kam (ich glaube, daß es Polen war), und der eine überraschende Wirkung auf die interessanten Mädchen unseres Jahrgangs hatte - und er war es, der das Album Songs From A Room aufbrachte, und Bird On The Wire wurde unsere Hymne für einige Monate - und ganz besonders die Hymne der coolen Mädchen. Denn es war klar: Leonard Cohen, das war einer, den auch wir Jungs verehrten, dessen »In My Way I Tried To Be Free« uns die Welt bedeutete, den die Mädchen und jungen Frauen aber liebten. Und es drangen Suzanne, So Long, Marianne, Hey, That‘s No Way To Say Goodbye (den nicht wenige damals bei Gelegenheit erster Trennungen verwendeten, sei es als Aussage, sei es als Trost...) oder Famous Blue Raincoat in unsere Welt ein mit einer ungeheuren Dringlichkeit und Intensität, und sie hörten nie mehr auf, Teil unseres Lebens zu sein. Die Tatsache, daß Leonard Cohen uns Jugendliche so sehr faszinierte, mag mit der generellen Nähe der Pubertierenden zur Traurigkeit und zum Weltschmerz zu tun haben, man sollte aber nicht vergessen, daß diese Lieder auch der naheliegende Soundtrack zur bleiernen Zeit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre waren. Melancholie ist ja auch ein gesellschaftlicher Topos, ein „Weltriß“ (Heine).
In den Nachrufen der Feuilletons und Musikzeitschriften ist von dem „verführerischen“, dem „monotonen“ Sänger die Rede, und von seinen „melancholischen Liedern“, kaum irgendwo wird jedoch erwähnt, daß Leonard Cohen im Oktober 1973, als die arabische Welt versuchte, Israel von der Landkarte auszuradieren, von der ägäischen Insel Hydra, auf der er damals lebte, nach Tel Aviv gereist war, um als Jude den Staat Israel zu unterstützen. Während des dreiwöchigen Krieges gab Leonard Cohen täglich bis zu acht Konzerte für die israelischen Truppen, sei es für eine Einheit von Fallschirmspringern auf dem Weg zum Suezkanal, sei es in einem Lazarett für verwundete Soldaten, sei es in einem Loch, in dem einige wenige Soldaten eine Haubitze bedienten.
Eines seiner besten Lieder, Who By Fire, hat Leonard Cohen in einer Feuerpause geschrieben, für die Soldaten beider Seiten, und es ist wie Partisan ein explizit politischer Song:
„And may the spirit of this song,
may it rise up, pure and free.
May it be a shield for all of you,
a shield against the enemy.“


 

„Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“
Wenn wir die „bleierne Zeit“ aus Hölderlins Der Gang aufs Land aufgreifen wollen, scheint der Begriff nicht nur auf die 1970er Jahre zu passen, sondern erst recht auf unsere Tage, und da wiederum erst recht auf die US-amerikanischen Verhältnisse. Und ich meine hier durchaus die prä-Trumpsche Ära, also die Ära Obamas, nach der sich jetzt so viele zurückzusehnen scheinen. Weswegen daran erinnert werden darf, daß Obama seit 2010 auf eine gnadenlose Austeritätspolitik setzte, daß allein von 2009 bis 2012 in den USA mehr als eine Million Stellen im öffentlichen Sektor (Lehrer, Sozialarbeiter usw.) vernichtet wurden, während der Anteil der reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung am US-Volksvermögen noch einmal von 19 auf 22 Prozent und der Anteil der reichsten zehn Prozent auf über 77 Prozent wuchs. Die Löhne der Mittelschicht (siebzig Millionen Menschen!) liegen unter dem Niveau des Jahres 2000. Mehr als die Hälfte der amerikanischen Fünfzehnjährigen scheitert in Schreiben und Rechnen an minimalen Anforderungen, und die Chancenungleichheit im liberalen Vorbild New York ist eklatant, de facto sind die Schulen dort längst segregiert, Ober- und Mittelschicht schicken ihre Kinder auf Privatschulen. Mehr als tausend Menschen werden in den USA jedes Jahr von der Polizei getötet, die meisten davon Afro-Amerikaner. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Wundert es uns, daß fast alle „schwarze“ Musik, die uns dieses Jahr 2016 aus den USA erreicht, von einer tiefen Traurigkeit, von Melancholie geprägt ist? Und daß diese Musik, von Kendrick Lamar bis Solange Knowles, von Moor Mother bis Chance The Rapper nach Heilung (nach Selbstheilung?) verlangt, und viele der aktuellen Alben der US-Rapper und US-Stars Gospel-orientiert sind? Im Gospel geht es um das Gemeinschaftsgefühl, das durch Call-and-Response-Elemente verstärkt wird, wie sie unter anderem auch Chance The Rapper einsetzt. In dieser Musik ist die Kollektivität, die Solidarität zu spüren – #blacklivesmatter! Und nur solidarisches Verhalten kann die Individuen aus ihrer trostlosen Lage, aus ihrer Melancholie retten.


 

Was erleben wir musikalisch dagegen in den Ländern, die durch ihre barbarische Abschottungspolitik afrikanische Flüchtlinge zu Tausenden in den Tod durch Ertrinken im Mittelmeer zwingen? In „unseren“ Ländern also?
Die österreichische Popgruppe Wanda organisiert dort, wo verzweifelte Flüchtlinge in Schlauchbooten um ihr Leben kämpfen, im Mittelmeer also, eine „Bussi-Kreuzfahrt“ unter dem Motto „Wanda und Freunde auf hoher See“, man verspricht viel Spaß, denn „wir wollen mehr von euch“ – vor allem eure Kohle, denn es wird dringend „die Buchung eines Getränkepakets für die Schiffsreise im Voraus“ empfohlen, damit all die fröhlichen Fans auf der Mittelmeer-Bussi-Kreuzfahrt an Bord in Stimmung bleiben.
Oder: einem renommierten Berliner Indie-Label fällt bei der Bewerbung ausgerechnet des neuen Lambchop-Albums ein, das sei „die Dinnerparty-Platte des Jahres“, die man „wunderbar im Hintergrund pluckern lassen“ könne. Und wer ein paar Euros mehr in der Tasche hat, kann auch gleich für schlappe 129 Euro eine „very special dinner party edition“ erwerben: Darin zwei Flaschen Wein des österreichischen Guts Oggau, der weiße ist „incredibly vivid, fresh and perfect for your dinner party“, der rote dagegen „amazingly elegant“ und kann ein paar Jahre zurückgelegt werden. Außerdem zwei Lambchop-Weingläser „from Austria’s high end glass manufacturer Gabriel Glas“, alles kommt in einer „really fancy customized“ Holzkiste, auf der der Bandname eingeritzt ist, und ach ja, das Album, erfahren wir als letztes, liegt der Weinkiste ebenfalls bei, natürlich als 180g Vinyl-Edition. Die Bürgerkinder, die solche „very special editions“ anbieten und kaufen, sind hier ganz bei sich in ihrem exaltierten Distinktions-Konsumismus.

Zur Vinyl-Edition

Dissidenz ist in den modernen Geschäftsmodellen der Kulturindustrie nicht als Möglichkeit vorgesehen, in der entfesselten Popwirtschaft unserer Zeit geht es einzig um Profitmaximierung, mit allen Mitteln. Wir brauchen in diesen bleiernen Zeiten jedoch dringend Räume der Reflexion, Räume, in denen wir ungehindert ökonomischer Sachzwänge und ständiger Verfügbarkeit wieder Subjekte unseres Lebens sein können. Wenn man es in Abwandlung eines Satzes von Hanns Eisler sagen will: Musik kann die Hungernden nicht speisen mit Gesang, Musik kann die Ertrinkenden im Mittelmeer nicht retten und auch nicht die Afro-Amerikaner in den USA vor den Polizeikugeln. Aber Musik kann die Hoffnungslosen aufrichten, sie kann die Müden zu Kämpfern machen. Musik teilt eine Haltung mit, sie kann zur Musik vom andern Planeten werden.
Einer der Songs des oben erwähnten Mekons-Albums heißt O Money. Jon Langford hat in einem Interview mit Klaus Walter erzählt, wovon dieser Song handelt, nämlich von einer mittlerweile zu einem gewissen Ruhm gekommenen irischen Band, die 1979 in Dublin mal für die Mekons das Vorprogramm bestritten hat: „U2 haben für die Mekons eröffnet 1979 in Dublin, sie waren noch Schuljungs und machten auf der Bühne diese pompösen Stadiorock-Gesten. Das war sehr irritierend, weil wir dachten, Punkrock hat all das auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Für uns waren U2 hoffnungslos gefangen in der Vergangenheit.“
Wie Klaus Walter anmerkt: Die Vergangenheit hat gesiegt...
Aber ich würde gerne hinzufügen wollen: nur vorläufig!

[1] Johann W. Seidl, Musik und Austromarxismus, Wien 1989. Das Buch gibt einen hervorragenden Überblick über die Musikrezeption der österreichischen Arbeiterbewegung und enthält alle Programme der Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte von 1905 bis 1934, soweit sie rekonstruierbar sind.
[2] Arnold Schönberg, Begleittext zur Privataufnahme mit dem Kolisch Quartett, Los Angeles 1936/37. CD »Arnold Schönberg: The Four String Quartets« erschienen beim Verein für musikalische Archiv-Forschung e.V., 1992, Archiphon ARC-103/4.
[3] Herbert Marcuse, Kunst von anderen Planeten, in: Nachgelassene Schriften - Kunst und Befreiung, Lüneburg 2000, S. 87-94.