Die Sphären von Wirtschaft und Politik einerseits und Religion, Esoterik, Spiritualität oder Aberglaube andererseits erschienen bislang weitgehend als getrennte. Gegenwärtig aber sticht immer stärker eine Verbrüderung ins Auge, die aus beiden Richtungen angebahnt wird.
• Die Wirtschafts- und Finanzwelt hängt sich ein spirituelles Mäntelchen um. In den oberen Etagen geht man auf Sinnsuche. Immer öfter ist da die Rede von Spiritualität, die das knallharte Dasein von Managern und ihren Herrschaftsbereich vervollkommnen soll.
• Börsianer beten oder lassen sich wie gar manche Politiker die Karten legen und die Sterne sprechen. Astrologen und Wahrsagerinnen haben Hochsaison.
• Giga-, Mega- und Mammut-Churches in den USA sind Megabusiness. Sie sehen nicht nur wie Shopping-Malls aus, sie funktionieren auch genau so. Gottesdienste – jeden Sonntag drei mit je 9.000 BesucherInnen – ähneln Multimedia-Pop-Spektakeln aufs Haar. Es sind kommerzielle Events, die sich derselben Formen bedienen wie jene, die sie zu Gegnern auserkoren haben. Die Kollekte von bis zu 800.000 Dollar pro Sonntag und Kirche wird von einem Aufgebot an bulligen Polizisten in Lederkluft bewacht. Bereits 20 bis 30 Prozent der US-AmerikanerInnen sind bekennende Evangelikale.
• Auch am Stadtrand deutscher Kleinstädte sind immer öfter zwischen Aldi und Baumarkt so etwas wie »religiöse Outlet Centers«
selbsternannter Kirchen zu finden.
• Buddhismus, ein (Zauber-)Mittel gegen Welt- und Wirtschaftsschmerz? Hüttenberg, der Geburtsort Heinrich Harrers in Kärnten, wartet bereits seit fast vier Jahren auf den Baubeginn des Tibet-Hotels, auch
Dalai-Lama-Hotel genannt, um den wirtschaftlichen Niedergang seit der Schließung des Bergbaubetriebs 1978 zu stoppen. Nach dem Platzen verschiedener Deals wollen nun russische Investoren sechs Millionen Euro locker machen. Das fehlende Sümmchen von
14 Millionen Euro soll aus Steuermitteln kommen. Nachrichten über die Verwicklungen in die Hypo-Alpe-Adria-Machenschaften und die Einbürgerung von russischen Investoren als Gegengeschenk runden diese Never ending Story ab.
• Und ein Freund erzählte mir von gar manchem in seinem Bekanntenkreis, der finanziell als einst erfolgreiche Ich-AG von ganz oben im Loft gnadenlos in die Tiefe gestürzt ist. Allesamt verwandelten sich flugs in Buddhisten, die von früh bis spät die bittere Realität wegmeditieren.
• Die Katholische Kirche kalkuliert knallhart: Kommerzielle Werbeflächen zieren Kirchenwände, und Kirchtürme werden als Handymasten vermietet.
• Oder die Caritas bietet dem Staat soziale Dienstleistungen zu Dumpingpreisen an, um die Konkurrenz auszustechen. Dass dabei Seriosität in der Betreuung von Flüchtlingen oder anderen Hilfesuchenden mitnichten gewährleistet ist, scheint sie nicht zu kratzen. Genauso wenig wie die vorprogrammierten Burn-outs der PsychologInnen und SozialarbeiterInnen sowie deren miese Bezahlung, die jene Armut mitverursacht, die das fromme Werk auf der anderen Seite zu bekämpfen versucht.
Wie sind diese Nahverhältnisse zwischen Kirche und Kommerz, zwischen Markt und Messe, zwischen Säkularität und Spiritualität einzuschätzen? Die glorreiche Aufhebung der Gegensätze zwischen Geist und Materie, zwischen Rationalität und Irrationalität kann das ja wohl nicht sein?
Die Frage, ob wir in einer postsäkularen oder in einer postreligiösen Gesellschaft leben, wird in der bürgerlichen Presse seit einiger Zeit heiß diskutiert. Ist es aber nicht vielmehr so, dass weder von einer historischen Überwindung der Religion noch von einer postsäkularen Gesellschaft gesprochen werden kann?
Herkömmliche Religionen haben mit der Moderne ihre Totalität verloren. Sie sind nicht mehr die alles bestimmende Instanz. Religionen sind heute eine Art Füllhorn, das mit allem Möglichen gefüllt werden kann. Emanzipatorische Momente haben da genauso Platz wie reaktionäre und repressive. Heute wird niemand mehr gezwungen, einer Religion anzugehören. Ob und was jemand glaubt, darf jede/r selbst entscheiden. Religionen dürfen diskutiert und hinterfragt werden.
Aber ein ganz neuer Gott, der den herkömmlichen vor über 200 Jahren abzulösen begonnen hat, darf offenbar noch immer nicht in Frage gestellt werden. Ein Gott, der jedoch in Universalität und Totalität alle bisherigen Götter und Fetische übertrifft. Leben wir nicht in einer Welt, in der das gesamte Leben bis in die kleinsten und persönlichsten Regungen hinein ganz säkular dem Gott Kapital und Markt unterworfen ist? Ist Geld nicht zu einer Art Überreligion geworden? Niemand auf dem ganzen Globus kann sich dem Zwang entziehen, ihr anzugehören. Niemand kommt umhin, sich des Geldes wegen selbst zu versklaven, um zu (über-)leben!
Egon Friedell schrieb 1931 im 4. Buch seiner wissenschaftlich so herrlich unorthodoxen »Kulturgeschichte der Neuzeit«: »Da man nicht gleichzeitig an Gott und das Geld glauben kann, so wird Geld zum Gottersatz. Und ebendarum: weil es ein überreales Prinzip ist, weil es Gegenstand einer Religion ist, hat es auch die Tendenz, Selbstzweck zu werden. Man betet zu ihm nicht mehr, weil dies der Religiöse auf primitiver Stufe tut, um etwas von ihm zu erlangen, man betet es an, weil es anbetungswürdig ist, weil es die Gottheit ist. Der wahrhaft Geldgläubige verehrt das Geld nicht, weil man sich damit alles kaufen kann, sondern weil es seine höchste Instanz, sein Polarstern, der Sinngeber seines Daseins ist. Man wird zugeben müssen, dass dies kein kompakter roher Aberglaube nach Art der Fetischisten und Wallfahrer ist, sondern ein Götzendienst von hoher Sublimationskraft, kein einfacher Materialismus, sondern eine Prostration (Anm.: Kniefall, Niederwerfung) vor einem geistigen Prinzip, wie ja auch der Teufel eines ist. Und alsbald erheben sich in den Städten mächtige Hauptheiligtümer namens Börsen und Scharen kleinerer Tempel, Banken genannt; in ihnen wird etwas Magisches, Allmächtiges, Allgegenwärtiges, aber Unsichtbares angebetet; vorgeblich eingeweihte Priester (meist freilich Ignoranten oder Betrüger) verkünden seinen Willen; zahllose Gläubige bringen opferfroh ihre Habe dar, in heiliger Scheu unverständliche Beschwörungsformeln einer fremden Sprache murmelnd. Das Credo ist zum Credit geworden.«
Unfassbar, wie sehr die kultische Dimension des Marktes als naturgegeben hingenommen wird. Sind die Auswirkungen noch immer nicht menschen- und naturfeindlich genug, um zu begreifen, dass es kein gutes Leben im Kapitalismus geben kann? Im Gegensatz zu den herkömmlichen Religionen bleibt dem warengesellschaftlichen Denken und Handeln sein eigener transzendental-religiöser Charakter verborgen. Bis zur Absurdität metaphysische Vorstellungen und jenseitige Riten wie das Geldverdienen und das Rechtssystem werden nicht als solche erkannt, sondern als völlig diesseitige verortet. Und wie in jedem totalitären System gibt es eine erzwungene Gleichschaltung. Sich zu widersetzen, ist existenzbedrohend. Mittlerweile sind jedoch auch schon die Angepasstesten und »Tüchtigsten« nicht mehr vor Ausschluss gefeit.
Der evangelische Theologe und Philosoph Christoph Türcke – eine erhellende Ausnahme in der aktuellen Religionsdebatte – bringt es auf den Punkt: »...der Markt (steigt) zu der Instanz auf, die über Wohl und Wehe, Sinn und Unsinn, Sein und Nicht-Sein von Menschenleben entscheidet. Er beginnt Schicksal zu spielen. Der Markt nimmt an und verwirft wie ein calvinistischer Gott. Lässt er die Ware Arbeitskraft liegen, so leidet sie nicht nur Mangel; sie verfehlt auch ihre Bestimmung. Sie bekommt zu spüren, dass unverkäufliche Waren keinen Sinn haben. Daher trifft Arbeitslosigkeit existentiell. ... Nimmt er die Arbeitskraft aber an, so ist sie keineswegs schon in Abrahams Schoß, vielleicht nur in einer Tretmühle – und gehört dennoch zu den Auserwählten. ... Die Errettungen des Marktes sind fad, aber real. Seine Göttlichkeit muss, im Unterschied zu der all seiner Vorgänger, nicht erst eigens bewiesen werden. ... Diese Göttlichkeit ist allerdings im doppelten Sinne ,heruntergekommen‘: auf den Boden der Tatsachen, damit aber auch aufs platte Realitätsprinzip. Der Markt verheißt nichts als sich selbst. Sein ,höchstes Gut‘ ist die Hochkonjunktur.« (Der Markt hat’s gegeben, der Markt hat’s genommen, in: Literaturen, 12/2005)
Sind die Symptome der neuro-degenerativen Erkrankung Huntington-Chorea – vulgo Veitstanz – nicht eine treffende Metapher für das fortgeschrittene Siechtum unseres Daseins, verursacht durch die aufgeherrschten Gebote unserer unhinterfragten Religion? Diese unheilbare vererbliche Erkrankung des Gehirns führt zu mangelhafter Kontrolle über die Muskulatur (z.B. des Gesichtes mit Grimassieren als Folge). So kann der falsche Eindruck eines bereits fortgeschrittenen Persönlichkeitsverlustes entstehen, was bei den Patienten Resignation und Depression hervorruft, die im Suizid enden können. Das Schlucken fällt den Patienten immer schwerer und kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen, da die Patienten durch die Hyperkinesien (ungewollte Bewegungen) einen erhöhten Energieverbrauch haben.
Nur wenn sämtliche Fetischformen – von den traditionellen Religionen bis zum kapitalistischen Markt mit seinen Anhängseln Politik, Recht und Arbeit – überwunden werden, kann Emanzipation eine Chance haben. Deshalb soll Transzendenz vor allem die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse bedeuten. Nur dann können Menschen ohne jegliche Fetische verkehren und einander direkt, ohne jegliche Krücken begegnen.