Die ‚Introvertierte‘ Shopping Mall

Kristian Faschingeder folgt Spuren der Arbeiten des Architekten Victor Gruen.

Victor Gruen, schreibt Malcolm Gladwell, war wohl der wichtigste Architekt des zwanzigsten Jahrhunderts: Er erfand die Shopping Mall; wobei Gruen kein Gebäude entwarf, sondern einen Archetyp, dem praktisch jedes Einkaufszentrum in Nordamerika folgte. Wie ein Blick in das Archiv des Architectural Record zeigt, gab es zahlreiche Vorläufer und parallele Entwicklungen, zum Teil von namhaften Architekt:innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Einkaufszentren für die aufkeimenden Vorstädte planten. Mit dem Auto gut erreichbar sollten dort alle Einkäufe erledigt werden. Sie wandten sich besonders an »die Hausfrau«, die in den noch rudimentären Vorstädten keine Infrastruktur vorfand und der nun der Weg in die »verwirrende« und »chaotische« Innenstadt erspart wurde. Diese Malls bestanden meist aus langgezogenen Gebäuden, abgeleitet von der Typologie des Straßenmarkts, in dem sich zur Straße hin gut sichtbar die Auslagen und Geschäfte aneinanderreihten, umgeben von strategisch angeordneten Parkplätzen und spärlicher Begrünung. Gruen jedoch stülpte die Mall quasi um; er kehrte sie nach innen und konzipierte sie als soziale Treffpunkte.

Spur 1. Genese

In der fantastischen Ausgabe des Architectural Forum namens »Architecture 194X« hatte Gruen 1943 mit seiner damaligen Partnerin Elsie Krummek einen Vorschlag für ein Einkaufszentrum gemacht. Dieses war nun um einen begrünten Hof herum gruppiert, wobei nach außen hin keine Werbung sichtbar sein sollte, und das um weitere Funktionen, wie ein Postamt, eine Bibliothek, eine Arztpraxis, und ein Restaurant angereichert wurde – für dessen Visualisierung wurden Thonet-Stühle gewählt, schließlich war das urbane Treiben Wiens das Vorbild. Schon hier sollte es kein reines Einkaufs-, sondern vielmehr ein Gemeinschaftszentrum (community centre) werden.

Hervorgegangen war dieser Typ aus einem kleinen Entwurf: Ein Geschäftsportal für Viktor Lederer in New Yorks Fifth Avenue, das die Kritik begeisterte, weil seine weit nach innen gezogene Auslage eine Ruhezone im dichten Fußgängerverkehr schuf. Das war eine Innovation – hätte nicht Victor Gruen 1936 in Wien genau dieselbe Idee realisiert: bei einem kleinen Geschäft in der Wiener Rotenturmstraße. Als Gruen, damals noch Grünbaum, dieses Geschäft des Textilhändlers Singer renovierte, verlegte er den Ladenbau einige Meter hinter den Gehsteig und schuf so einen öffentlich zugänglichen Raum am Schnittpunkt zwischen Straße und Geschäft.

Spur 2. Politik

Dieses Konzept wurde im Einkaufszentrum auf die Spitze getrieben: Der dichte Autoverkehr der Vorstädte ersetzte jenen der Fußgänger:innen der Innenstadt, aus einem Geschäft wurde der Verbund von vielen, aber der Gedanke blieb derselbe, nämlich die Schaffung eines ruhigen Aufenthaltsortes, quasi einer Singularität, bereitgestellt durch die Architektur. Diese zeichnet sich nicht durch ästhetische Überlegungen aus, sondern dadurch, dass ihre Räume der allgemeinen Zirkulation und Verflüssigung des öffentlichen Raumes enthoben sind: Ein »Einbruch in der Glätte des städtischen Raums«, wie Pier Vittorio Aureli sagen würde. Die dadurch geschaffene Betonung von Endlichkeit und Getrenntsein macht Artefakte wie diese dann gleich zu den »intensivsten Manifestationen des Politischen in der Stadt«. Aureli nimmt den Sockel und Vorplatz des Seagram-Building in New York von Mies van der Rohe als Grundlage für eine Gestaltung her, die eine Konfrontation zwischen verflüssigtem (ökonomischen) und beruhigtem (politischen) Raum ermöglicht.

Möglicherweise ist dies eine idealisierte Vorstellung der Möglichkeiten von Architektur, aber diese Vorstellung muss auch Gruen gehabt haben, als er seine Einkaufszentren schrittweise aus dem Einzelgeschäft heraus entwickelte und den Vorstädten das bieten wollte, was ihnen seiner Vorstellung nach ganz dringend fehlte: die Innenstadt mit ihren Aufenthaltsqualitäten und einem entsprechenden Nutzungsangebot, allerdings bereinigt um ihre störenden Aspekte, allem voran den dichten Autoverkehr. Gruen ging es darum, eine Utopie zu schaffen. Formen waren dabei sekundär; an erster Stelle standen Infrastruktur und Logistik.

Spur 3. Infrastruktur

Das Einzelgeschäft verwuchs mit der Mall, und die Architektur wiederum mit der Infrastruktur. Die Entwicklung der Haustechnik spielt in der Architekturgeschichte keine Rolle, aber ihre praktische Bedeutung wird in den zeitgenössischen Ausgaben des Architectural Record deutlich, deren Artikel zu den Shopping Centers (bei denen die Parkplatzdiskussion nie fehlen darf) in Besprechungen und Werbungen zur technischen Infrastruktur, wie Klimaanlagen und Heizungstechnik, Beleuchtung, Glas- und Fertigbausysteme, eingebettet sind.

1952 wurde Gruen mit dem Bau des ersten überdachten, klimatisierten Einkaufszentrums beauftragt. Es sollte in Edina (Minnesota) stehen und erhielt, wie auch andere Zentren, den Namen seiner geographischen Lokalisierung vor der Stadt. Dem Geist der 1950er-Jahre entsprechend stand es knapp außerhalb des Explosionsradius einer auf die Stadt abgeworfenen Atombombe: Southdale (1956, Dayton Company) war nicht das erste Einkaufszentrum von Gruen. Davor gab es bereits Northland (1954, J.L. Hudson Company), das als erstes von vier um die verfallende Innenstadt von Detroit gebaut werden sollte, und noch früher (1949), das Milliron’s bei Los Angeles, bei dem mittels inszenierter Rampen am Dach geparkt wurde. Der Haupteingang führte von dort hinunter in die Halle. Southdale ist allerdings das erste vollständig geschlossene, klimatisierte Einkaufszentrum. Die Öffentlichkeit bejubelte das Projekt als gebaute Utopie; ein richtiges Gemeindezentrum, das im unwirtlichen Klima Minnesotas, so die Eigenwerbung, »ewigen Frühling« versprach. Es gab nun einen Ort, an dem man mitten im Jänner »outdoor« in Hemdsärmeln sitzen konnte. »Design for a better outdoors indoors« schrieb das Architectural Record dann 1962, als es ein weiteres Einkaufszentrum von Gruen, Cherry Hill in New Jersey, präsentierte.

Spur 4. Utopie

Der Weg zu dieser Utopie namens Southdale führte über die aufwendige Haustechnik: erstmals wurde in einem Großprojekt eine Wärmetauschpumpe eingesetzt. Diese erforderte, dass das Einkaufszentrum mittels weniger Eingänge, mit Doppeltüren versehen, möglichst nach außen abgeschottet war; die Geschäfte waren nur mehr vom Inneren des Gebäudes zugänglich. Das Zentrum bildete der überdachte, begrünte Innenhof, in dem Blumen und Bäume gepflanzt wurden. Vogelkäfig, Goldfischteich und Gartenlokal mit Sonnenschirmen vervollständigten die Illusion des Aufenthalts im Freien. Das Bild wurde durch zwei raumhohe, feingliedrige Skulpturen von Harry Bertoia abgerundet. Es wurde viel Wert auf künstlerische Ausgestaltung gelegt, wofür es strikte Vorgaben gab – genaue Bedingungen für eine heitere, gesellige Stimmung.

In der Haupthalle fanden Konzerte, Feste, Modeschauen und andere Gemeindeaktivitäten statt. Der vielfältigen Aufgabe entsprechend wurden Firmenschilder und Auslagen an der Außenseite für unnötig und geradezu irreführend erachtet. Das Äußere des zweigeschoßigen Gebäudekomplexes wurde geschlossen und einheitlich gestaltet. Southdale, so Gruen selbst, war das erste überdachte, klimatisierte, »introvertierte« Einkaufszentrum der Welt unter völlig kontrollierten Bedingungen. Southdale war nur Teil eines Masterplans, der im wachsenden Vorort Detroits noch Wohn-, Gewerbe-, Medizin-, Büro- und Mischnutzungsprojekte rund um einen See und einen Park vorsah. Aus dieser Utopie wurde nichts. Southdale schuf vielmehr den Präzedenzfall für all die kolossalen, monotonen Einkaufszentren, die von einem, wie Gruen es nannte, »landverschwenderischen Meer von Parkplätzen« umgeben wurden.

Spur 5. Ambiente

Für die Kontrolle der atmosphärischen Bedingungen in der Architektur gibt es zwei Pioniere: das Royal Victoria Hospital in Belfast (1903) und das Verwaltungsgebäude der Larkin Company in Buffalo, New York (1904) von Frank Lloyd Wright, das die Haustechnik mit der Formensprache der modernen Architektur vereinigte. Aus diesen Präzedenzen lässt sich mutmaßen, warum die Utopie von Gruen zu ihrem Gegenteil wurde (auch der Architekt selbst stand der weiteren Entwicklung der Shopping Malls ablehnend gegenüber). Zum einen bildet die Haustechnik die Voraussetzung für die künstliche, geregelte Atmosphäre – Voraussetzung für jenes »Ambiente«, das den Rahmen für eine neue Kultur des Konsums schuf. Nicht zuletzt wird der Verlust der ursprünglichen Kaufabsicht und die Empfänglichkeit für Impulskäufe in den Shopping Malls als Gruen-Effekt bezeichnet.

Zum anderen verschob der Wandel vom Primat der Produktion zu jenem des Konsums den Schwerpunkt der Gesellschaft: Als Metonym dient nicht mehr die Fabrik, sondern das Einkaufszentrum als Generator des Wohlstands. Besonders für die Frau, für die ideale Nachkriegsbürgerin, wurde Konsum zur Pflicht und Tugend. Wie Lizabeth Cohen feststellt, entstand nach dem Zweiten Weltkrieg eine politische Kultur und auch eine Volkswirtschaftslehre, die vom Massenkonsum nicht nur Wohlstand, sondern auch die höheren Ziele der US-amerikanischen Gesellschaft erwarteten: soziale Gleichheit, demokratische Beteiligung und politische Freiheit. Entsprechend wurden neue Indizes wie der »Customer Satisfaction Index« entwickelt. Volkswirtschaften wie Japan, in denen die Gesellschaft nicht konsumieren will, gelten als Negativbeispiel.
Der Konsum ist heute zur Moral geworden, so Jean Baudrillard 1970: »Wir sind am Punkt angelangt, an dem der ‚Konsum‘ das gesamte Leben erfasst.« Unsere Beziehung zum Objekt hat nicht mit seinem Nutzen oder einem Bedürfnis zu tun, sondern mit seinem Gesamtzusammenhang in einem Spektrum von Dingen. Im Einkaufszentrum werden Nützlichkeit und Warenstatus in einem Spiel des »Ambiente« sublimiert. In dieser generalisierten Neokultur ist alles eingeebnet. Es gibt, wie Baudrillard bemerkt, »keinen Unterschied mehr zwischen einem Feinkostladen und einer Gemäldegalerie«.

Literatur

  • Architectural Record Vol. 106 H. 2 (August 1949); Vol. 109 H. 3 (März 1951); Vol. 114 H. 4 (Oktober 1953); Vol. 131 H. 6 (Juni 1962).
  • Pier Vittorio Aureli, The Possibility of an Absolute Architecture. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2011.
  • Jean Baudrillard, La société de consommation: ses mythes, ses structures, Paris: Gallimard 1986.
  • Lizabeth Cohen, A Consumer’s Republic: The Politics of Mass Consumption in Postwar America New York: Alfred A. Knopf, 2003.
  • Malcolm Gladwell, »The Terrazzo Jungle«. The New Yorker 15. März 2004. https://www.newyorker.com/magazine/2004/03/15/the-terrazzo-jungle [letzter Zugriff: 13.02.22]
  • Victor Gruen, Elsie Krummeck »Drug Store and Dining Terrace«, in: Architectural Forum Vol. 78, H. 5 (Mai 1943), S. 101–103.
  • Victor Gruen, Shopping Town: Designing the City in Suburban America. Übers. u. Hg. von Anette Baldauf. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2017.
  • Colin Marshall, »Southdale Center: America‘s first shopping mall – a history of cities in 50 buildings, day 30« in: The Guardian, 6 Mai 2015. https://www.theguardian.com/cities/2015/may/06/southdale-center-america-first-shopping-mall-history-cities-50-buildings [letzter Zugriff: 13.02.22]