Im Fährhafen tranken Groll und seine Begleiterin leichten Weißwein, dazu nahmen sie Zaziki, Weinblätter, Oliven und frisches Weißbrot. Nach der »Zuiderdam«, einem riesigen Kreuzfahrtschiff der Holland American Lines, machte sich nun ein Schiff der Costa-Cruises auf, den engen Naturhafen zu verlassen. Der stählerne Riese mit den gelb gestrichenen Zwillingsschornsteinen tastete sich wie eine vorsintflutliche Echse Meter um Meter aus seinem Liegeplatz. Es sollte das letzte Mal sein, daß die »Costa Concordia«, das Flaggschiff der Costa-Linie, Piräus anlief, bevor sie am 12. Jänner 2012 vor der toskanischen Insel Giglio auf Grund lief und sank. Hätte Groll in Piräus jemand gesagt, daß das riesige und stolze Schiff in wenigen Wochen wie ein aufgeschlitzter Riesenwal seitlich vor dem kleinen Inselhafen liegen und daß drei Dutzend Menschen bei dem Unfall ihr Leben lassen würden, er hätte den Hellseher wegen Schwarzseherei und dem Herbeireden von Unglück vor der Mole ertränkt. So aber steuerte die »Costa Concordia« mit jeweils einem Lotsenboot vorn und am Heck durch die enge Hafeneinfahrt, ein riesiger weißer Schwan, für alle Zeit unverwundbar. Grolls Begleiterin zitierte aus einem bemerkenswerten Artikel. Von einer Umweltschutzorganisation wurde im Dezember 2011 dem Präsidenten von AIDA Cruises der Negativpreis »Dinosaurier des Jahres verliehen«. Der Grund: Die Kreuzfahrtschiffe würden auf hoher See immer noch mit giftigem Scheröl fahren, somit seien die »Weißen Flotten« in Wahrheit dreckige Rußschleudern. Ein einziger Ozeanriese stoße auf einer Kreuzfahrt so viele Schadstoffe aus wie fünf Millionen Autos auf der gleichen Strecke. Zwar ließen die Gefahren für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen sich leicht vermeiden, aber aus Profitgier verweigerten die Reeder die Verwendung von Schiffsdiesel und den Einbau von Abgastechniken wie Rußpartikelfilter. Die Costa Cruises zählten neben den jungen AIDA Cruises, der noblen Cunard Line mit ihren Queen Elisabeths, Marys und Victorias, der Holland-American Line, der Peninsula & Overseas Line (P&O), der Ibero Cruceros und vieler anderer Reedereien zur weltgrößten Reederei überhaupt, der Carnival Corporation, die hundert Ozeanriesen betreibt und jährlich fünf bis zehn neue Großschiffe in Fahrt bringt. Rund vierhunderttausend Menschen befinden sich zur selben Zeit auf den Weltmeeren auf Schiffseinheiten des Monopolkonzerns auf einer Kreuzfahrt. Rechnet man, daß eine durchschnittliche Schiffsreise zehn Tage dauert und sowohl im Winter wie auch im Sommer gefahren wird und daß die Schiffe in nur wenigen Tagen auf Reparaturwerften gewartet werden, so kommt man auf einen jährlichen Passagierumschlag von geschätzten vierzehnmillionen Kreuzfahrern. Wenn die Carnival Corporation pro Passagier nur hundert Euro pro Gast verdient, was eine äußerst bescheidene Annahme darstellt, kann man sich den horrenden Profit leicht ausrechnen. Das ist also der Grund dafür, daß immer größere neue Schiffe in immer kürzeren Zeiträumen in Dienst gestellt werden, dachte Groll. Deshalb zählt die Kreuzfahrt-Industrie zu den gewinnträchtigsten Branchen der Gegenwart. Dazu kommt, daß die Carnival Corporation mit ihren hundert Schiffen in Panama registriert ist. Warum? Weil nach panamesischem Recht Gewinne, die im Ausland gemacht werden, steuerfrei sind. Daß die Großschiff-Industrie zu den größten industriellen Umweltverschmutzern zählt, verwunderte Groll da nicht.
Nach dem Besuch im Fährhafen machten Groll und seine Begleiterin sich auf, den Sonnenuntergang am Meer zu genießen. Sie liefen das Hafenbecken entlang, kämpften sich steile Straßen hoch, umkurvten Häuserblock um Häuserblock und standen plötzlich vor der unter ihnen glitzernden See. Sie liefen nicht auf den Gehsteigen, das war nicht nur der fehlenden Rampen wegen unmöglich. Sie eilten auf der engen Straße dahin, zwischen rußenden und klapprigen Bussen und noch älteren Taxis, die auf der Straße Slalom fuhren, weil sie alle hundert Meter riesigen Müllbergen ausweichen mußten. Katzen und Hunde schlenderten beglückt zwischen den Müllbergen hin und her, hin und wieder zeigten sich auch gutgenährte Ratten, die in Zweier- und Dreiergruppen ihre Reviere inspizierten. Seit zehn Tagen schon streikte die städtische Müllabfuhr gegen Lohnkürzungen, ein Ausfluß der vielen Sparpakete, die Griechenland auferlegt waren. In immer neuen verheerenden Salven bemühten sich die Finanzmärkte mit ihren Rating-Agenturen, Troikas und EU-Abgesandten Griechenland sturmreif zu schießen und sie waren auf diesem Weg schon weit vorangekommen. Längst war Griechenland zu strengen Sparmaßnahmen verpflichtet, das dritte Jahr hintereinander schrumpfte die Wirtschaft und das mit jeweils fünf Prozent jährlich – wobei Experten davon ausgehen, daß es sich um stark geschönte Zahlen handelt. Die Arbeitslosigkeit hat sich, ausgehend von einem ohnehin hohen Niveau, verdoppelt. Die Rate der Jugendarbeitslosigkeit rangiert gleich hinter jener Spaniens, wo laut offiziellen Angaben fünfzig Prozent der Jugendlichen ohne Einkommen sind. Renten werden gekürzt, Sozialleistungen zusammengestrichen oder gänzlich eingestellt. Seit einem Jahr schon kann der griechische Staat seine täglichen Auslagen nicht mehr finanzieren. Die staatliche Krankenkasse bleibt den Kostenzuschuß für Medikamente schuldig. Spitalsärzte können kaum von ihren Löhnen leben, sie versuchen, sich an ihren Patienten schadlos zu halten, indem sie für ärztliche Leistungen ein gefülltes »Kuvert« verlangen. Alte und kranke Menschen versuchen verzweifelt, ein paar Euro für dringende Arztbesuche und Medikamente zusammenzukratzen. Gibt es in einer Familie einen chronisch kranken oder pflegebedürftigen Angehörigen, kommt dies einer existentiellen Katastrophe gleich.
Wenig später – Groll wartete im Mikrolimano, dem kleinen Fischerhafen, auf seine Begleiterin, die sich aufgemacht hatte, einen Tisch in einer der tiefer liegenden Tavernen zu suchen, blätterte er eine Ausgabe der »Herald Tribune« durch. Am Ende der Zeitung fand er acht Seiten der griechischen Zeitung »Kathimerini«, die jeden Tag ins Englische übersetzt wurden. Die Republik der Hellenen steckte mittlerweile im fünften Rezessionsjahr, das Bruttoinlandsprodukt war um ein Viertel geschrumpft. So lauteten die offiziellen Zahlen, die Höhe der Müllberge und die vielen geschlossenen Geschäfte ließen aber darauf schließen, daß die Lage noch weit schlimmer war. Aus den Artikeln in der Beilage ging hervor, daß ein einziger Sektor von der Talfahrt der Wirtschaft unbehelligt geblieben war: das Militär. Griechenlands Rüstungsausgaben beliefen sich auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung, das war mehr als jedes andere EU-Land aufwandte. Hätte Griechenland in den letzten fünf Jahren nur im anteilsmäßigen Ausmaß Deutschlands Rüstungsgüter angekauft, wären allein dadurch 40 Milliarden Euro eingespart worden. Hätte man die Verteidigungsausgaben auf 0,7 % des BIP, das ist der aktuelle österreichische Wert, reduziert, hätte sich das gesamte jüngste Hilfspaket mit seinen drakonischen Härten erübrigt. So aber ist Griechenland bis an die Zähne bewaffnet und nach wie vor muß die beständig geschürte Angst vor dem NATO-Partner Türkei herhalten, um die bizarre Geldverschwendung zu rechtfertigen. Bezogen auf die Einwohnerzahl leistet Griechenland sich mit 130.000 Soldaten nicht nur die größte Armee in der EU, Griechenland ist auch der größte Einkäufer von Waffensystemen in der EU, wobei ein Drittel der griechischen Rüstungskäufe in Deutschland erfolgt und ein weiteres Drittel in Frankreich. Allein Im Jahr 2010 lieferte Frankreich Kampfflugzeuge im Wert von 800 Millionen Euro, dazu kamen noch 60 Millionen an Bomben und Raketen. Düsenjäger, modernste Kriegsschiffe und Lenkwaffen der neuesten Generation standen und stehen in den Bestellscheinen. Eigenartigerweise sind Portugal und Griechenland jene Staaten, an denen die deutsche Rüstungsindustrie in den letzten Jahren am meisten verdiente. Groll verstand nun, weshalb die deutsche Kanzlerin und ihr französischer Kollege so erpicht darauf sind, Griechenland mit neuem Geld auszustatten – ein großer Teil der Zahlungen (jener, der nicht an die Banken geht) landet nämlich beim deutschen und französischen Militärkomplex. Um diese Wahrheit zu verschleiern, werden alle möglichen Ressentiments gegen die Griechen mobilisiert, nicht nur deutsche Politiker und Medienleute überbieten einander in Vorwürfen, die Griechen seien faul, unfähig, korrupt trommeln sie. Daß eine kleine Schicht von Vermögenden und ihr grotesk aufgeblähter Militärapparat den Kern der griechischen Misere bildet, wird tunlichst verschwiegen. Einige zornige alte Frauen und Männer haben sich nun dem Widerstand gegen die schleichende Kolonialisierung des Landes angeschlossen. Der bekannte griechische Widerstandskämpfer Manolis Glezos (89), marschiert bei den Demos ebenso in erster Reihe wie die Philosophin Aroulla Vasmenis (92) und der Komponist Mikis Theodorakis (87). Im Jahr 1941 war Manolis Glekos auf die Akropolis geklettert, um eine Hakenkreuzfahne der deutschen Besatzer herunterzureißen, nur durch einen Zufall entkam er dem Tod, sein Bruder wurde von den Deutschen hingerichtet. Nach dem Bürgerkrieg, der erst 1949 endete, saß Manolis Glezos zwölf Jahre im Gefängnis. Sein Dreier-Vorschlag zur Lösung der aktuellen Misere lautet: Erstens: Griechenland muß sich selbst aus dem Schlamassel herausziehen. Zweitens: kein Cent mehr für das Militär, und drittens: rigorose Bekämpfung des Steuerbetrugs und der Kapitalflucht durch die herrschende Elite. Schließlich müsse ein hoher Teil des gewonnen Gelds für Gesundheit, Bildung und Forschung verwendet werden, nur so könne das Gemeinwesen wieder auf die Beine kommen.
Grolls Begleiterin kam zurück. Sie habe einen Tisch ergattert, rief sie, es gebe fünfzehn Stufen und zwei kräftige Jungkellner. Außergewöhnlicher Hunger erfordert außergewöhnliche Maßnahmen, dachte Groll und steckte die Zeitung ins Rollstuhlnetz.