Vom Bettel zu den Roma

Oder: Warum ich manchen Worten und Bildern misstraue. Von Simone Schönett.

Möglicherweise liegt es an meinem Beruf. Dass ich Wörtern oder, genauer gesagt, der scheinbaren Harmlosigkeit von Worten, kritisch gegenüber stehe. Dass ich an das harmlose Wort überhaupt nicht glaube. Und auch nicht an all das, was so scheinbar »normal« daherkommt, in der Sprache.
Möglich auch, dass meine Vorsichtigkeit gegenüber Wörtern von meiner Herkunft rührt. Gewiss ist jedenfalls, dass ich auf eine ganz Reihe von Wörtern förmlich allergisch reagiere. Und dass diese »Allergie« derzeit immer stärker wird. Sogar dort, wo man keine »allergieauslösenden Stoffe« vermuten würde. Zum Beispiel im Wort »Antiziganismus«. Einmal abgesehen davon, wie viel in diesem Wort mitschwingt, in der Definition des Begriffes tauchen noch dazu kein einziges Mal die Wörter Roma, Sinti oder Jenische auf, bloß jene Fremdbezeichnung, die ich nicht einmal mehr in den Mund, geschweige denn aufs Papier nehmen will, vor der aber selbst jene, die es ja eigentlich »gut« meinen, glauben, nicht darauf verzichten zu können.
Doch selbst, wenn der (Über)Begriff Roma verwendet wird: An dem transportierten Bild ändert das kaum etwas. Und an der Geisteshaltung einer ganzen Mehrheit schon gar nicht. Besonders deutlich wird dies in Österreich, wenn es um Bettler_innen geht. Denn Bettler_innen und Rom_nia werden mittlerweile ja synonym gebraucht, also in der Vorstellung gleichgesetzt. Die ohnehin menschenverachtenden »Bettelverbote« bekommen durch diese Gleichsetzung gleich einen noch mieseren Geschmack, als sie es ohnehin bereits haben. Denn wegen dieser im öffentlichen Diskurs fest verankerten Bedeutungsgleichheit von Bettler = Rom müsste man ja eigentlich nicht von Bettelverboten, sondern konsequenter- oder korrekterweise von Roma-Verboten sprechen. Doch davon ist so direkt natürlich nie und nicht die Rede.
Schon deutlich ausgesprochen werden in der Debatte aber Argumente wie: »Kampf gegen das Bettelunwesen«, organisiertes Gewerbe, mafiaähnliche Organisationen. Und – traurig, aber leider wahr – den wenigsten ist bewusst, dass diese Wörter, Sätze, als es in NS-Deutschland zur so genannten »Bettler-razzia vom September 1933« kam, genau so in allen Zeitungen standen.
Die Wörter, mit denen völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen untermauert werden, sind damals wie heute dieselben geblieben. Und die dazugehörigen Bilder auch.
Interessant, in dem Zusammenhang: Es waren zwei Künstler, die das Bild der »unterirdischen Bettlerorganisationen« enorm mitprägten, nämlich Fritz Lang mit dem Film »M. Eine Stadt sucht einen Mörder« und Bert Brecht mit seiner »Dreigroschenoper.« Wobei aber auch gesagt werden muss, dass es das Bild der »eigentlich nicht bedürftigen« Bettler schon davor existierte. Dass bereits 1494 im »Narrenschiff« von Sebastian Brant stand: »Mit Betteln nähren sich viele, die reicher sind als du und ich.«

Das Bild der »reichen«, die Arbeitenden ausnutzenden Bettler_innen liegt seit über 500 Jahren quasi »auf der Straße«. Und in etwa ebenso lange existiert das allgemeine Bild, das man gemeinhin von Roma, Sinti, Jenischen hat - und das irgendwie unveränderlich zu sein scheint. So, wie es in der »Sachsenchronik« von Albert Kranz aus dem Jahre 1529 steht: »Als man schrieb das Jahr 1417, da wurden in unseren Landen, nach dem Deutschen Meer gelegen, die gräulichen und schwarzen Leute, von der Sonne verbrannt, welche hässlich gekleidet und mit all ihrem Tun unflätig sind, behände und geschwind aufs Stehlen aus, sonderlich das Weibervolk, denn die Männer ernähren sich von dem, was die Weiber stehlen. Man nennt sie gemeinhin Tattern und in Italien Cigani… Es ist eine Art von Leuten, die da geboren werden und sich sammeln über dem Umherziehen durch das Land, tun nichts als reisen und treiben Müßiggang und Faulheit. Kennen kein Vaterland, …leben wie die Hunde, achten keine Religion, leben ohne Sorge.«

Dieses Bild ist über fünf Jahrhunderte fast beinah das gleiche geblieben. Nicht auf die Wirklichkeit bezogen. Aber dauerhaft verankert.
In den Köpfen. Und in der Sprache.
Wo es bleibt. Auf ewig gekettet an Vorurteile, Stereotypen und schlimmste Klischees. Was aber fast niemandem auffällt. Sind doch die Roma-Bilder – die negativen wie die verromantisierenden – so derart präsent in den Köpfen; glaubt doch jeder zu wissen, was gemeint ist, wenn das Z-Wort fällt. Da ist dann schnell klar, dass es entweder um »Massen von Armen und Kriminellen oder eben um das geht, wofür man Roma gemeinhin hält: romantisch, verwegen oder »frei«. Aber sein Bild, das hat man. Bloß eben in den allermeisten Fällen nicht aus der tatsächlichen Realität bezogen. Weil man in Europa mit den »Romas« (©Ursula Stenzel) ja eher selten tatsächlich in Kontakt tritt. Was wohl an den fest verankerten Bildern liegen mag.
Unlängst, in der ersten Folge der »Dancing Stars« wurde – wieder einmal – ein Beispiel für das »romantische« Bild gegeben: Da wurde einer »Promi-Frau« von ihrem »Profi« attestiert, in ihr würde eine richtige Romni schlummern. Was er so natürlich nicht sagte, er verwendete das andere Wort, in der weiblichen Form. Was dann sowohl von der Dame in der Jury wie auch von der am Moderationsmikrofon mit Freuden, fast schon begeistert aufgegriffen wurde. Abgesehen davon, dass sie natürlich nicht von »einer richtigen Romni« sprachen – was meinten die eigentlich damit?
Ich meine: Welches Bild schwebte ihnen wohl vor?
Nun, vorstellen kann ich mir das schon. Da geht’s halt um das »Feurige«, das nachgesagte Temperament, die angeblich angeborene, nein, im Blut liegende Musikalität, usw.  
Aber dieser ganze Paprika-Im-Arsch-Quatsch, der widert mich eigentlich nur an. Weil man ihn nicht los wird, den ganzen Paprika, und das Scharfe.

Mittlerweile wird ja in fast allen großen TV-Sendern getanzt. Und Wert auf das Feurige gelegt. Wenn man sich nicht gerade in den Tiefen der Unterhaltungsindustrie versenkt und mal die Nachrichten hört, wundert das eigentlich nicht; man scheint Ausgleich zu brauchen zu der zunehmenden Autoritätshörigkeit.
Denn: Momentan wird in Europa ja die Angst wieder geschürt. Und Gehorsam vermehrt eingefordert. Momentan steigt wieder die Bereitschaft, erhebliche Teile von Freiheit zu opfern, in der Erwartung, dafür Sicherheit zu bekommen. Die Ausgaben dafür steigen, während in unserer Sozialgesellschaft an den unteren Rändern bereits ganze Teile abbröckeln.
Die Bereitschaft, Armut zu kriminalisieren steigt. Und Sicherheit und Überwachung werden wieder vorrangig. Aber zu mehr Menschlichkeit oder gar sozialer Gerechtigkeit wird das bestimmt nicht führen. Im Gegenteil. Es wird dabei nur die soziale Ungerechtigkeit steigen, die Zwei-oder Mehrklassengesellschaft weiter wachsen, und das, was der Soziologe Zygmunt Bauman so treffend »die Kluft zwischen den Habenden und den Habenichtsen« nennt.
Aber solange noch getanzt wird, kann es ja nicht so schlimm sein, oder? (Tanzten die auf der Titanic nicht auch bis zum bitteren Ende?).
Dass die Freiheit des Einzelnen zunehmend als Bürde empfunden wird, das macht mir irgendwie Angst. Weil dann so was wie Zivilcourage noch seltener wird. Sie wird aber ohnehin bereits, wie mir scheint, jetzt schon immer lieber aufgegeben zugunsten eines vermeintlich sicheren »Wir« - das mir suspekt ist. Nicht wegen des Wortes allein, sondern wegen allem, was so hinter einem Wort steht und mitklingt. (Auf dem Altar eines gemeinsamen Ganzen wurde schon viel zu oft viel zu viel Blut vergossen.)
Aber: Was nimmt man nicht alles hin, als Gesetz, ohne Protest, ohne Widerstand, im Vertrauen, dass es wohl gut gemeint, richtig oder gar wahr ist? Zumal, wenn es um die geht, von denen jeder ein Bild hat, ein ziemlich fremdes.

Das Bild der Roma in Europa ist eigentlich eine Fiktion. Eine Massenfiktion quasi. Außer den ihnen ohnehin schon zugedachten Rollen als entweder armes Opfer oder feuriges Temperamentsbündel kommt derzeit eine auch nicht ganz neue dazu. Derzeit werden sie in Europa wieder zu Sündenböcken gemacht. Die, zu denen einem immer auch das Wort Freiheit einfällt, und die deswegen immer schon als verdächtig galten. Die, an deren Namen man sich in Europa nur langsam und anscheinend schwer gewöhnt. Roma. Zu Sündenböcken gemacht werden sie aber unter einem anderen Namen. Aber schon wieder unter denselben Vorzeichen. Das erfolgt jetzt, aktuell, und bleibt doch quasi unbemerkt.
Begleitet von Stiefelklängen und Hetzrufen wird in weiten Teilen Europas aufmarschiert vor Roma-Häusern. So genannte Bürgerwehren werden gebildet, die Roma zuerst zu Kriminellen erklären, um dann – paramilitärisch organisiert – für »Sicherheit« zu sorgen.
Da werden nicht nur die Roma verbal wieder ins Gas geschickt, da wird ganz real auch Feuer gelegt, da wird Blut vergossen, da wird gemordet. Aber das regt in Europa irgendwie nur wenig auf. Und noch weniger, wenn es, so wie in Ungarn, bloß um Zwangsarbeit für Roma geht. Der schweigenden Mehrheit muss das wohl ins Bild passen.
»Sündenböcke« werden wieder geschaffen. Vor aller Augen. Die Bereitschaft zum Blindsein hierfür (oder die blinde Bereitschaft?), die existiert schon. Dass sich da Geschichte zu wiederholen droht – hat man zwar im Ohr, doch man ist nicht wirklich hellhörig.
Was bleibt?
Ein Wort: Stumm-blinde-Taubheit. Und die Befürchtung, dass diese mehrheitlich auch dann anhielte, wenn die »Sündeböcke« – in letzter Konsequenz – ihrer grausamen »Bestimmung« zugeführt, wenn sie also am Ende tatsächlich geschlachtet würden.

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Quellen: Ayas, Wolfgang: »Asoziale« in Nationalsozialismus, Klett Cotta, 1995
Gilsenbach, Reimar. Oh Django singe deinen Zorn, BasisDruck Verlag , 1993