Seit es die Gabelung der Straßenbahnlinien 1 und 2 gibt, muss eine Ansage der Linz Linien Fahrgäste der Einser Straßenbahn, die nach Süden fahren, darauf hinweisen, dass jene nicht dem Lauf des verlängerten Schienenwegs nach Ebelsberg folgt, sondern eben in Auwiesen endet. Der Umstand, dass diese Information mit der Warnung »Achtung« eingeleitet wird, sorgt für jugendliche BewohnerInnen dieses Stadtteils für Erheiterung. Sie verstehen diese Ansage nicht nur als Vorbereitung zum rechtzeitigen Umsteigen, sondern erkennen auch die Möglichkeit, diese Ankündigung als generelle Aufforderung, sich vor einem gefährlichen Stadtteil in Acht zu nehmen, ironisch interpretieren zu können.
In Linz gilt Auwiesen als gefährlicher Stadtteil, von »L.A.« (Linz-Auwiesen) oder »Sauwiesen« wird gesprochen, und im gesamten Stadtgebiet ist der negative Ruf bekannt. Das schlechte Image hat sich der Stadtteil in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zugezogen, als über Gewalt unter Jugendlichen, Vandalismus und andere Akte der Delinquenz in den lokalen Zeitungen berichtet worden war. Und vermehrt gibt es in letzter Zeit wieder solche Berichte in den Boulevard-Medien. Diese überraschen niemanden, Verbesserung ist jedoch gewünscht und die vermeintliche Klarheit der Situation (Auwiesen ist gleich Ghetto) verleitet die Politik sich der Thematik anzunehmen. Der Wahlkampf steht schließlich vor der Tür, und das Thema Sicherheit hat sich diesbezüglich schon oft als lukrativ erwiesen.
Die Wohnanlagen in Auwiesen waren einst als Mustersiedlung gedacht, und auf den ersten Blick fallen viele Vorzüge des Wohnungsbaus auf: Niedrige Häuser, viel Grün und quasi autofrei. Doch heute wird von Bausünde und mahnendem Beispiel gesprochen. Zuwenig Durchmischung gäbe es, und zudem sei die Architektur des Stadtteils gar nicht so lebenswert. Das vermeintliche Zentrum an der Einser-Endhaltestelle mit Einkaufsmöglichkeiten und Volkshaus erfülle gar nicht diese Funktion, wird konstatiert, denn die Straßenbahnschienen schneiden es von den BewohnerInnen ab und ermöglichen nur begrenzt Zugang. Zum sozialen Brennpunkt entwickelte sich die Gegend auch durch den Umstand, dass nach Fertigstellung der Wohnhäuser notwendige Infrastruktur erst langsam nachgereicht wurde. Für sozial besser gestelltes Publikum war diese Wohnadresse insgesamt schnell unattraktiv, für untere Schichten aber oft das einzig Leistbare. Wer kann, zieht also weg, was wiederum zur Verschärfung der Situation führt. »Hohe soziale Fluktuation führt zu einer geringeren sozialen Kontrolle. Es können sich keine stabilen Netzwerke bilden und die Gemeinschaft ist nicht in der Lage das abweichende Verhalten zu kontrollieren.«1
Jugendliche, vor allem sozial schwache, die in so einem sozialen Brennpunkt aufwachsen, sind meist die ProtagonistInnen abweichenden Verhaltens. Für sie ist Auwiesen Heimat und Gefängnis; ihre Umwelt, die ihnen Möglichkeiten eröffnet und Schranken auferlegt und mit der sie interagieren. Ihr Stadtteil bietet ihnen nur begrenzte Möglichkeiten an Bildung und Arbeit zu gelangen. Eine oft gemachte Erfahrung ist die des Scheiterns, schulisch oder beruflich. In Auwiesen gibt es nur sehr wenige Schulen, darunter kein einziges Gymnasium, obwohl dort im Vergleich zu anderen Stadtteilen sehr viele Jugendliche leben. BesucherInnen von höheren Schulen pendeln in andere Gegenden der Stadt und werden im Stadtteil auch nicht auffällig. Diejenigen, die für den schlechten Ruf von Auwiesen verantwortlich sein sollen, die, von denen in der Zeitung zu lesen ist, haben, meist aufgrund der Abstammung aus sozial schwachen Verhältnissen, nicht die Chance sich dem Viertel durch höhere Bildung zu entziehen, sie müssen ihr Glück vor Ort versuchen. Glück heißt für sie, ein Netzwerk aus Freunden zu haben und ihr Selbstwertgefühl auf andere Weise als durch schulischen und beruflichen Aufstieg zu entwickeln. Sie treffen sich dort, wo es Raum dafür gibt, um ihre sozialen Beziehungen zu pflegen und ein soziales Zuhause zu erschaffen.
Das Angebot an Treffpunkten für Jugendliche offenbart aber ein weiteres Defizit der auf vermeintliche Musterbiographien ausgerichteten Siedlung. Es gibt fast keine. Ein Jugendzentrum und ein Skatepark sollen die Bedürfnisse befriedigen. In der Tat sind diese Orte aber zu wenig. Die Lage hat sich sogar verschlechtert, weil vormals existierende Räume, wie der Fun-Court oder ein sogenanntes »Treffpunkthäuschen« einer Wohnungsgenossenschaft verschwunden sind. Da aber die Jugendlichen nicht so einfach verschwinden können, eignen sie sich weiterhin ihre Räume an. Wie junge Menschen einen Raum benützen, entspricht dabei meist nicht den Funktionen, die ihm Erwachsene beimessen. Allein dadurch kommt es zu Interessenskonflikten. Die Wohnanlagen an der Auwiesenstraße weisen eine hohe Bevölkerungsdichte, enge Gassen, Einsichtbarkeit (»gläserne Bauweise«) und eine hohe Funktionalität auf. Jugendlicher Leichtsinn, Übermut, Erfahrungen sammeln und das Ausverhandeln von sozialen Beziehungen scheinen nicht zu diesen Funktionen zu gehören. Die räumlichen Gegebenheiten führen vielmehr dazu, dass sich BewohnerInnen belästigt und bedroht fühlen, wenn sich junge Menschen ihrem Naturell entsprechend verhalten. Diese ausgeprägte Sensibilität wird vollends überstrapaziert, wenn delinquente Formen des Verhaltens sichtbar werden. Mangels eines funktionierenden Sozialgefüges, das viele deeskalierende Möglichkeiten wie respektvolle Kommunikation oder Verständnis beinhalten könnte, wird der Ruf nach der Exekutive auch bei minimalen Vergehen als einzige Lösung angesehen.
Die Spannungen zwischen Bevölkerung und Jugendlichen, die viel Zeit auf der Straße verbringen, also jener Generationenkonflikt, den jede urbane Wohnsiedlung mehr oder weniger kennt, könnte in Auwiesen durchaus auch als Kulturkonflikt gesehen werden. Denn das geplante Idyll einer bürgerlichen Musterkultur stößt hier auf die unter den Jugendlichen weit verbreitete Hip Hop-Kultur, genauer gesagt den Gangster-Rap. In dieser Strö-mung werden Perspektivenlosigkeit, Gefährlichkeit und Disorder als identitätsstiftendes Moment angesehen und zu einem ortsgebundenen Stolz aufgebaut. Das problemhafte Stadtviertel wird dabei mit lokalpatriotischem Sprechgesang musikalisch glorifiziert (»Mein Block, meine Straße«). Der Ruf, das dem scheinbar problematischsten Linzer Stadtviertel anhaftet, wirkt sich auf die in Auwiesen lebendenden und nicht nur wohnenden Jugendlichen insofern aus, dass sie die negativen Zuschreibungen in ihre Identität aufnehmen und darauf stolz sind (»Auwiesen bleibt Untergrund«, »Ghetto von Linz«). Natürlich gibt es Streitereien, gewalttätige Aus-einandersetzungen, Vandalismus und noch viel schwerwiegendere Probleme, eben die klassischen Symptome sozialer Brennpunkte, aber eine »Verbrecherkarriere« wird von niemandem aus sich selbst heraus angestrebt.
In der öffentlichen Diskussion und in den Schlagzeilen über den Linzer Süden werden kaum statistische Daten über die Jugendkriminalität herangezogen. Es ist auch sehr schwierig solche Daten überhaupt zu bekommen. Es fällt daher schwer Auwiesen diesbezüglich in Relation zu anderen Gebieten von Linz zu stellen. Die Vergleichbarkeit wird schon alleine dadurch erschwert, dass etwa die Anzahl von Anzeigen bei der Polizei keine Aussage über eine tatsächliche kriminelle Situation machen kann, sondern lediglich die Anzeigebereit-schaft der BewohnerInnen misst.
Um eine soziale Lage zu verbessern bedarf es keiner Feuerwehraktionen, wie von wahlkämpfenden Sicherheitshysterikern in Form von Verboten, Überwachung oder einer städtischer Ordnungswache gefordert. Nur eine behutsame Sozialarbeit unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren kann langsam aber nachhaltig Erfolge erzielen. Diesbezüglich weisen die MitarbeiterInnen des Jugendzentrums, dessen Kapazitäten nicht für alle Jugendlichen und alle Altersgruppen reichen können, darauf hin, wie wichtig der Einsatz von Streetworkern, die es momentan nicht (mehr) gibt, wäre.
Eine wahlkampfbestimmte Brutalrhetorik seitens der Linzer ÖVP ist jedenfalls nur wenig hilfreich. Viel mehr trägt sie dazu bei, einen von außen auferlegten Ruf zu verstärken, die Stigmatisierung der dort lebenden jungen Menschen zu festigen und damit ihre Chancen weiter zu verschlechtern (Jobabsage wegen Wohnadresse). Eine Beschreibung der Situation mit Formulierungen wie »Nach neuerlichen nächtlichen Randalen im Stadtteil Auwiesen…«, »Ausschreitungen«2, »bevor die Lage wie jetzt in Auwiesen endgültig eskaliert«3 ist nicht angebracht. Ausschreitungen und Randale sehen anders aus. Oder wollen die schwarzen StadtpolitikerInnen eine Situation wie neulich in Athen heraufbeschwören?