Die bildungsbürgerliche Wohlfühlposition, man könne Fernsehen als Medium der Bildung und der Wissensvermittlung verstehen, hält sich hartnäckiger als man vermuten könnte. Diese Position beinhaltet ebenfalls, dass jene, die sie vertreten, über das Medium erhaben seien, und jene die dem Medium verfallen, allenfalls mit einen schlechten Charakter ausgestattet. Ali Grasböck, seines Zeichens Fernsehkolumnist bei den Oberösterreichischen Nachrichten, zeigte sich kürzlich wieder besonders gescheit und proklamierte: »Fernsehen macht klüger oder dümmer, man muss nur die richtige Auswahl treffen.« Dass es sich bei dieser Position bestenfalls um die Erfüllung der Distiktionsbedürfnisse des Fernsehkritikers handelt, scheint evident. Wer vorgibt Medienkritiker zu sein, sollte nicht sein ganzes Wirken darauf ausrichten, das Medium zu affirmieren. Man muss nicht Günther Anders strapazieren, der bereits in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Menschentypus des vereinzelten Masseneremiten, den das Fernsehen produziert habe, beschrieben hat. Anders These vom Fernsehbild, welches vorgibt, ein Abbild der Realität zu sein, stattdessen zum Vorbild der Realität werde, hat sich, obwohl das Fernsehen zu dieser Zeit in den Kinderschuhen gesteckt ist, ebenfalls auf bestürzende Weise bewahrheitet. Wie auch das Auslöschen der Differenz von Abbild und Realität. Man muss heute selbstverständlich weiter gehen, als Anders dies zu seiner Zeit konnte. Für viele Menschen ist Fernsehen die einzige Möglichkeit geworden mit Welt in Kontakt zu treten. Die Frage, was gesendet wird und ob das was gesendet wird der Wahrheit entspreche ist hinfällig, weil es die einzige Erfahrung von Welt geworden ist. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig, mit charakterlicher Schwäche hat es nichts zu tun, wenn das Erfahren von Welt, im wörtlichen Sinne, wie Anders dies formuliert hat, nicht mehr stattfinden kann.
Trottel vor der Glotze
Was Grasböck bezüglich der nur gelinde peinlichen Wissens-Show »Die Welt der Wunder« angemerkt hat, nämlich, dass die Produzenten so täten, als »säßen Riesentrottel vor der Glotze« dient wohl einerseits seiner eigenen Rechtfertigung (obwohl ich mir diese Show ansehe, bin ich doch bitte sehr kein Trottel), andererseits ist es eine Zuspitzung des Zynismus der vorherrschenden Fernsehwelt. Einer Fernsehwelt, deren Leitformat die Reality-Show ist, deren dramaturgische Hauptelemente die Unmündigkeit der Menschen und die Willigkeit zur Unterwerfung sind. Aus Sicht des guten, gebildeten Menschen kommt zum »Riesentrottel vor der Glotze« der Riesentrottel vor der Kamera, der sich vor dem versammelten Fernsehpublikum zum Deppen macht. Der heuchlerische Zynismus besteht darin, dass hier das Bild eines Sender/Empfänger Schema aufrechterhalten wird, das längst schon zerronnen ist. »Die Menschen sehen so fern, wie sie leben, sie leben so wie sie fernsehen und beides, das Leben wie das Fernsehen, wird dort fabriziert, wo sie nicht hinreichen«, sagt Georg Seeßlen.
Dramaturgie der Demütigung
Das absolute Leitformat beim hegemonialen Fernsehen ist die Reality Show. Nicht die Nachrichten, nicht der Film, schon gar nicht die Kunst und nicht die Fernseh-Serien. Die Reality Show kommt in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen daher: Als Castingshow, als Daily Talkshow, als Koch- und Einladungsshow, als Dating Show, als Personal Help Show, als Gerichtsfernsehen, als Medizinshows, als Coaching Show. Die Unterformen dieses Genres sind vielfältig, sie bilden die Basis des heutigen Fernsehens, die Sendezeiten, die mit Reality Shows gefüllt sind, sind zu Beginn unseres Jahrhunderts sprunghaft angestiegen. Kein anderes Format hat derartige Zuwächse erlebt. Das hängt mit den geringeren Produktionskosten der Reality Show zusammen, aber auch damit, dass in ihnen das prekäre Leben in all seiner Mangelhaftigkeit gefeiert werden kann. Sie sind ein Hochamt des Mangels und des Defizits, welches Opfer wie Täter gleichermaßen vorführt. Das Format der Reality Show betrifft beinahe alle Felder gesellschaftlichen Lebens und persönlicher Beziehungen: Die Sexualität, Familie, Arbeit, Ernährung, Erziehung, Kultur, Unterhaltung. Die Welt ist alles, sagt Georg Seeßlen, was Reality-TV werden kann. Und: Reality TV ist inszenierte Grenzüberschreitung, die sich der Dramaturgie der Demütigung und der Beleidigung bedient.
Wir haben es mit Popstars zu tun, die nicht singen können, das aber ausstellen müssen, weil sie als nicht singen-könnende Popstars gecastet worden sind. Dass abgehalfterte Sänger von Rock-Kapellen, wie Herr Gregory von Alkbottle, deren vermutlich letzter sozialer Rettungsanker die Teilnahme an Jurys von Shows wie Starmania ist, hierbei ihren präpotenten, dummen, vermessenen wie einfältigen Sermon abgeben, potenziert die Infamie dieser Formate. Es zeigt aber auch, dass die Prekarisierung nicht nur die Opfer dieser Shows betrifft, sondern auch die Täter. Den besonders talentfreien Selbstüberschätzern als welche die TeilnehmerInnen gecastet worden sind, sitzen die besonders talentfreien Selbstüberschätzer in der Jury gegenüber, deren Probleme letztlich die gleichen sind. Für ein homöopathisches Döschen gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und einem erbärmlichen Salär sind sie bereit, sich im Fernsehen zum Affen zu machen.
Aufseherin/Wärterin Klum
Wir haben es mit Model-Anwärterinnen zu tun, deren Figuren nicht dem herrschenden Body-Maß-Index entsprechen. Sie bekommen von so genannten Profis dann eingebläut, wie sie ihren Körper, aber auch ihren Geist den Erfordernissen des neoliberalen Kapitalismus anpassen können. Ihnen wird gezeigt, dass ihre ganze Persönlichkeit ein einziges Defizit ist, das sie nur mit äußerster Anstrengung und dem Erdulden körperlicher wie seelischer Pein beheben können. Wenn die ein Meter achtzig große, blonde Deutsche Klum junge Frauen anschnauzt und niedermacht, ist das Bild der KZ-Aufseherin zumindest aber der Gefängniswärterin nicht fern. Keineswegs fern ist auch das von der Gesellschaft erwünschte Frauenbild, welches genau mit diesen Formaten erzeugt wird - als Matrize für die weitere Entwicklung der Gesellschaft, um mit Anders zu reden.
Wir haben es mit unbeweibten Bauern zu tun, die mittels Reality-Show doch noch zu einer Bäuerin kommen sollen. Eine besonders perfide Show, weil darin der heterosexuellen Normierung und Formatierung noch ein reaktionärer Heimat-Diskurs hinzugefügt wird. Dass diese Sendung von der Kronenzeitung mitproduziert wird, ist nur logisch. Dem tüchtigen Bauerntölpel, der nicht einmal eine Frau abbekommt, aber täglich die heimatliche Scholle beackert und besät und sonntäglich in die Kirche rennt, gilt die Empathie der Krone, weil er für Volksgemeinschaft und Heimatverbundenheit steht. (Warum hat denn der Ja-natürlich-Bauer noch keine Frau, sondern ein Schweinderl?)
Ideal von Gleichheit gelöscht
Die Liste wäre beliebig fortzusetzen. Mit StudentInnen, die nicht kochen können. Ihnen zeigt dann ein Profi-Koch, wo der Hammer hängt. Mit straffällig gewordenen Jugendlichen, welchen mit öffentlicher Demütigung und Beleidigung gezeigt wird, dass sie bessere Menschen werden müssen. Mit rabiaten Kleingartenbesitzern, die in ihrem Rechtsempfinden gestört worden sind. Jenen, denen Unrecht geschah, wird in diesen Sendungen gezeigt, dass sie ohnehin nur lästige Querulanten seien und nahe gelegt, dass sie sich bei Ihren Widersachern zu entschuldigen hätten. Eine Umkehr des Täter und Opfer Verhältnisses, das aber bezeichnend für dieses Format ist. Das sind nur einige wenige Beispiele des derzeit vorherrschenden Fernsehens, aber es sind signifikante Beispiele. Beispiele, die aber auf alle anderen Fernsehproduktionen, egal ob alternativ oder Mainstream wirken, mehr als wir uns das wünschen. Sie wirken, weil hier ein Menschenbild vermittelt wird, das Lichtjahre vom bürgerlichen Ideal der Gleichheit entfernt ist, ein Menschenbild, das, ich sagte es schon, auf Unterwerfung, Beleidigung und Erniedrigung basiert. Und es bedient sich einer Dramaturgie, die ausschließlich Affekte evoziert; Denken ist in diesem Zusammenhang nicht mehr möglich, wie es auch nicht erwünscht ist. Diese Affekte beruhen ausschließlich auf persönlichen Konflikten, gesellschaftliche Verhältnisse sind so nicht mehr verhandelbar.
Waren früher Reality-TV-Formate angetreten, die Realität möglichst genau abzubilden, voyeuristisch, obszön, so sind heute nur noch die Affekte, welche dieses Fernsehen erzeugt real. Es sind die Affekte eines radikalisierten, volksgemeinschaftlichen Mobs, der die Manieren, die im Reality-TV vorherrschen, angenommen hat. Und das hat mit zivilisatorischen Errungenschaften, derer wir uns so sicher schienen, nichts zu tun. Die Frage des Publizisten Klaus Hofmann, ob diese sadistische Zurschaustellung, diese Entblößung von Menschen eine Diskussion über den Begriff der Menschenwürde im neuen Millenium bedürfe, hat durchaus ihre Berechtigung.