Außerfamiliäre Fürsorge

Der Historiker Felix Berth zeigt, wie die Geschichte der Säuglingsheime in der BRD und DDR mit der vergessenen Bindungstheorie des Kinderpsychologen John Bowlby zusammenhängt. Von Magnus Klaue.

Die Kehrseite der Pragmatisierung der Psychoanalyse, ihrer Herabsetzung zu einer bloßen Therapieform, war ein Gedächtnisverlust: die Ausblendung ihrer sozialgeschichtlichen Genese. Denn so wenig die Psychoanalyse in ihren praktischen Anwendungsformen aufgeht, so wenig war sie je eine überhistorische, auf biologische Determinanten zielende Theorie. Im Gegenteil: Als fungible Natur- und Verhaltenswissenschaft wird sie erst missverstanden, seit sie von den sozialgeschichtlichen Bedingungen, unter denen sie sich entwickelte, immer weniger wissen will. Beispielhaft für diesen Schwundprozess war in der Bundesrepublik der sechziger Jahre die doppeldeutige Rolle von Alexander Mitscherlich. Einerseits schien er, als erster Direktor des 1959 in Frankfurt am Main gegründeten Sigmund-Freud-Instituts, die Wiederkehr der Psychoanalyse nach Deutschland zu repräsentieren. Andererseits war er, der in den Dreißigern zum nationalrevolutionären Zirkel um Ernst Niekisch gehört hatte, lebensgeschichtlich mit dem Nationalsozialismus verbunden. Ausgebildet als Mediziner und Neurologe, fand er erst im Zuge der Entstehung des 1949 mit Fred Mielke veröffentlichen Buches »Wissenschaft ohne Menschlichkeit«, in dem er sich mit der Rolle von Ärzten im »Dritten Reich« beschäftigte, zur Psychoanalyse. Auch blieb sein Blick auf Freud von der Verhaltenswissenschaft Konrad Lorenz‘ geprägt. Historisch aufgearbeitet werden diese Zusammenhänge erst seit Mitte der neunziger Jahre. Zugleich hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren der Sinn für die sozialgeschichtlichen Bedingungen der miteinander verfeindeten kinderpsychologischen Schulen von Melanie Klein und Anna Freud geschärft.

Die Emphase, mit der sowohl Klein wie Anna Freud die Bedeutung einer Psychoanalyse des frühen Kindesalters betonten, entsprang der Konstellation zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, die Freuds – der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprungenen – Begriffe in neuem Licht erscheinen ließ. Mit der kriegsbedingten Abwesenheit der Väter aus den Familien, der dadurch erzwungenen Berufstätigkeit der Mütter und deren größerer Eigenständigkeit in Fragen der Kindererziehung schien die Geltungskraft des Freudschen Modells der familialen Triade neu begründet oder gar revidiert werden zu müssen. Anna Freuds kinderpsychologischer Ansatz war ein Versuch der Neubegründung, der an der psychoanalytischen Orthodoxie festzuhalten bemüht war; Kleins Objektbeziehungstheorie tendierte dazu, in der Konfrontation von Freuds Begriffen mit der zeitgenössischen Wirklichkeit jene völlig neu zu reorganisieren. Der Psychosozial-Verlag erinnert nun mit einer Studie des Historikers Felix Berth über die Geschichte der Säuglingsheime in der BRD und DDR in den fünfziger und sechziger Jahren an einen im Gegensatz zu den Objektbeziehungstheorien weitgehend in Vergessenheit geratenen Ansatz der Kinderpsychologie: an die Bindungstheorie des britischen Psychiaters John Bowlby.

Wesentlich jünger als Melanie Klein und Anna Freud, wuchs der 1907 geborene Bowlby in einer Arztfamilie auf, in der er mit dem Vater, einem Chirurgen, nur wenig Kontakt hatte und eher von einem Kindermädchen als von der Mutter erzogen wurde. Allzu enge emotionale Beziehungen zwischen Müttern und ihren männlichen Kindern wurden im englischen Bürgertum als problematisch angesehen, weil sie die Gefahr der »Verweichlichung« in sich trügen. Bowlby studierte Psychologie und interessierte sich infolge seiner Erlebnisse als Internatszögling im Ersten Weltkrieg für die Wirkung, die Kriegserfahrungen auf Säuglinge und Kleinkinder ausübten. In den zwanziger Jahren arbeitete er als Internatslehrer mit verhaltensauffälligen Kindern und ließ sich zum Kinderpsychiater ausbilden. Während des Zweiten Weltkriegs baute er an der Londoner Tavistock Clinic eine Abteilung für Kinderpsychotherapie auf, deren Direktor er wurde. Trotz theoretischer Kontroversen arbeitete er in dieser Zeit mit Mitgliedern der British Psychoanalytical Society (BPAS) wie Melanie Klein und Joan Riviere eng zusammen. Zum Bruch mit der BPAS, insbesondere mit Klein, kam es erst 1952. Damals zeigte deren Mitarbeiter James Robertson den Kollegen zu Ausbildungszwecken eine Dokumentation mit dem Titel »A two year old goes to Hospital«, die psychische und motorische Störungen festhielt, welche Säuglingen durch wochen- und monatelange Trennung von den Erziehungspersonen an Orten widerfuhren, die eigentlich ihrer »Heilung« dienen sollten.

Bowlby sah sich durch dieses Dokument in seiner schon in den vierziger Jahren vertretenen Ansicht bestätigt, dass in der frühkindlichen Entwicklung – jenseits von Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Ödipuskomplexes – durch eine früh zerrüttete Mutterbindung oder auch durch Erfahrungen des Entzugs emotionaler Zuwendung (Verlust eines Elternteils, Trennung der Eltern, längerfristige Klinik- und Heimaufenthalte) psychische Schäden verursacht werden können, zu deren Therapierung die Psychoanalyse allein wenig beitragen könne. 1951 entwickelte er ausgehend von dieser Diagnose in seiner für die WHO erstellten Studie »Maternal care and mental health« und später in dem 1958 im International Journal of Psychoanalysis publizierten Essay »The nature of the child’s tie to his mother« seine Theorie frühkindlicher Mutterbindung zu einem Gegenentwurf sowohl zur Freudschen Psychoanalyse wie zur Objektbeziehungstheorie Melanie Kleins weiter. Klein empfand Bowlbys Schriften als Provokation, nicht zuletzt, weil sie auf der Grundlage empirischer Befunde beruhten, die auch am Ursprung von Kleins Denken lagen: der Einsicht in den Widerspruch zwischen dem Gehalt der psychoanalytischen Begriffe und der sich rasant verändernden Lebenswelt von Kindern, Müttern und Vätern, die mit den ihnen von der Theorie zugesprochenen Positionen scheinbar immer weniger in Einklang zu bringen waren. Was in Kleins Objektbeziehungstheorie noch verschwiegene realhistorische Voraussetzung war, das sprach Bowlby aus. Überdies betonte er die Bedeutung der realbiographischen Mutter-Kind-Beziehung gegenüber dem psychoanalytischen Begriff frühkindlicher Entwicklung. Daraus resultierte ein konservativ-pragmatischer Impuls der Bindungstheorie – die Verteidigung der lebensweltlichen Gegeben-heiten der bürgerlichen Kleinfamilie und der darin implizierten Rolle der Mutter –, die Bowlby wiederum Anna Freud nahebrachte, die seit den fünfziger Jahren die Bewahrung der bürgerlichen Familie als Lebensform für eine notwendige Voraussetzung erwachsener Mündigkeit hielt.

Berth zeigt, wie Bowlbys Theorie in den fünfziger und sechziger Jahren voneinander unabhängig in der BRD und der DDR zum theoretischen Bezugspunkt verschiedener Reformen des Fürsorgesystems werden konnte. Die Spezifik der Säuglingsheime in beiden deutschen Staaten bestand damals darin, dass ihre Existenz sich nicht den unmittelbaren Folgen des Krieges verdankte. Vielmehr waren sie ein Phänomen des Übergangs in der Geschichte der beiden postnazistischen Staatsgebilde: »In der Bundesrepublik wie auch in der DDR gab es die meisten Säuglingsheim-Unterbringungen nicht in den späten 40er Jahren, auch nicht in den 50er Jahren, sondern in den frühen 60er Jahren – also in einer Zeit, in der der allgemeine Wohlstand in beiden Landesteilen längst deutlich wuchs.« Auch handelte es sich bei den Heiminsassen mehrheitlich nicht um Kinder, die ihre Eltern oder ein Elternteil im Krieg verloren hatten: »In Säuglingsheimen der Bundesrepublik und der DDR lebten kaum Waisenkinder.« Dass Eltern sowohl in der DDR wie der BRD ihre Kinder im Säuglingsalter für Monate, manchmal für Jahre an Heime übergaben, lag auch nur in Ausnahmefällen an akuter Armut. Vielmehr ist die Ursache in einem Konglomerat aus sexual- und familienpolitischen Vorurteilen sowie in den damaligen weiblichen Erwerbsverhältnisse zu suchen.

Die Mehrzahl der Heimeinweisungen von Säuglingen in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren stand, so Berth, in beiden deutschen Staaten »mit der Erwerbstätigkeit der häufig unverheirateten Mutter« im Zusammenhang, »die keine Tagesbetreuung für ihr Kind fand, weder in Kinderkrippen noch bei Verwandten«. Ressentiments gegenüber unehelichen Kindern und alleinerziehenden Müttern, der Mangel an außerinstitutionellen Hilfen bei der Kinderbetreuung, die Scham angesichts unehelicher Mutterschaft und die unbefriedigende Wirklichkeit weiblicher Erwerbstätigkeit: All das war sowohl in der DDR wie in der Bundesrepublik ein Grund für Frauen, Säuglinge und Kleinkinder temporär in Heime zu geben. In der DDR kam hinzu, dass die ideologische Nötigung zu weiblicher Erwerbstätigkeit es Müttern schwierig machte, eine Berufstätigkeit zugunsten privater Fürsorgeaufgaben auszuschlagen. Es handelte sich bei den verantwortlichen Frauen also eher um überforderte Mütter als um »Rabenmütter« mit geringer emotionaler Bindungsfähigkeit. Das weibliche Fürsorgepersonal in den Heimen, über das es wenige Informationen gibt, scheint dagegen dem Sozialcharakter der empathielos-sadistischen Menschenverwalterin entsprochen zu haben. Schläge, Strafen mittels Wasserbädern und Nahrungsverweigerung, ständig wechselnde Bezugspersonen unter den »Betreuern« und eine anarchische heiminterne Arbeitsteilung scheinen – in der DDR wie der BRD – in den Säuglingsheimen an der Tagesordnung gewesen zu sein. Seit den späten sechziger Jahren ging das sich schärfende Bewusstsein für die Unerträglichkeit der Zustände in den Heimen denn auch mit der Entdeckung der Bindungstheorie Bowlbys einher, der stärker als Melanie Klein und Anna Freud die Notwendigkeit des Vorhandenseins einer ansprechbaren und »untauschbaren« Bezugsperson betonte. Was in der Bundesrepublik von Jugendämtern ausging, die sich nicht länger als Erfüllungsgehilfen von Eltern oder Vollzugsagenturen des Staates sahen, nahm in der DDR innerhalb der SED mit dem Einspruch durchaus ideologiekonformer Pädagoginnen seinen Anfang: die Kritik am »Hospitalismus«, an den psychischen Deformationen eines Systems außerfamiliärer Fürsorge, das in den meisten Fällen systematische Vernachlässigung bedeutete.

An zwei Pädagoginnen zeigt Berth beispielhaft, wie völlig verschieden sozialisierte Frauen mit völlig verschiedenen politischen Ansichten aufgrund ihrer Untersuchungen zu den negativen Folgen des Aufenthalts in Säuglingsheimen unabhängig voneinander auf Bowlbys Bindungstheorie zurückgriffen, um ihre Kritik an der öffentlichen Fürsorge zu begründen: Die 1916 geborene Arzttochter Annemarie Dührssen, die im Nationalsozialismus Mitglied der Reichsärztekammer war, sich aber seit den fünfziger Jahren einer Humanisierung der Kinderfürsorge in der Bundesrepublik verschrieben hatte, fand fast gleichzeitig zu Bowlby wie die aus einer jüdischen Familie stammende Eva Schmidt-Kolmer, die nach ihrer Rückkehr aus dem Schweizerischen Exil in der DDR Karriere machte und eine der wichtigsten »Sozialhygienikerinnen« im realexistierenden Sozialismus war. Beide Pädagoginnen nahmen durch ihre Kritik an den Säuglingsheimen in ihren angestammten Milieus, in denen sie Anerkennung gefunden hatten, drastische Anfeindungen in Kauf, und beide hatten mit ihrer Initiative langfristig Erfolg: Sowohl in der DDR wie in der BRD verschwanden die Säuglingsheime seit den siebziger und achtziger Jahren fast vollständig oder wurden durch transparentere Institutionen ersetzt, die einen besseren Austausch zwischen Eltern, Erziehern und staatlicher Verwaltung sicherstellen sollten.

Gelungen ist das bis heute nicht. Kinder- und Jugendheime sind in Deutschland neben Psychiatrien und Altenheimen bis heute die grässlichsten, traurigsten Orte, die sich denken lassen. Dass dennoch die Geschichte der Säuglingsheime in der BRD und DDR seit einigen Jahren aufgearbeitet wird und dass Menschen, die durch dortige Aufenthalte geschädigt wurden, Aussichten auf Kompensation haben, zeigt aber, dass die zwischenzeitlich vergessene Episode der gesamtdeutschen Geschichte allmählich ins politische Bewusstsein tritt. Berth erzählt von dieser Episode so, dass dabei zugleich ein vergessener Aspekt der psychoanalytischen Ideen- und Sozialgeschichte gegenwärtig wird.

 

Literatur

Felix Berth: Die vergessenen Säuglingsheime. Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland. Psychosozial-Verlag, Gießen 2023, 186 Seiten, 29,90 Euro

Eröffnung des zum Zeitpunkt größten Säuglingsheims der DDR in Cottbus am 18.3.1955 (Bild: Bundesarchiv, Bild 183-19489-0001 / CC-BY-SA 3.0)