Mit Ethnostress gegen das Glück

Finnland gilt in vielen Bereichen als Vorbildland, Paul Schuberth hat sich angesehen, inwieweit das gerechtfertigt ist.

»Niemand auf der Welt ist glücklicher als die Finnen.« So fasst der Spiegel in einem aktuellen Artikel die World-Happiness-Reports der Jahre 2018–2023 zusammen. Die Reichen, Verliebten und Teneriffa-Urlauber*innen haben wieder einmal das Nachsehen! Das Ergebnis dürfte kaum anzufechten sein, entspricht doch auch der letzte Platz im Ranking (Afghanistan) dem gesunden Menschenverstand. Dem finnischen Glück, mit dem vor allem die finnische Tourismusbehörde gerne wirbt, fühlen selbst manche europäische Linke nur ungern auf den Zahn. Dienen vielleicht die nordischen Staaten, in denen sich demokratischer Sozialismus und Kapitalismus doch gut zu vertragen scheinen, als Fluchtpunkt der eigenen berechtigten Perspektivlosigkeit?

Zum ungetrübten Glück der Finn*innen könnte die herrschende Ansicht beigetragen haben, während des Zweiten Weltkrieges zu den absolut Guten unter den Bösen gehört zu haben. Die Kooperation mit Nazi-Deutschland während des Fortsetzungskrieges (1941–1944) sei demnach pures Mittel zum Zweck gewesen, die Sowjetunion zurückzudrängen. Zu ideologischen Überschneidungen oder gar Kriegsverbrechen sei es nicht gekommen. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten rüttelten zwei wichtige Veröffentlichungen von Historiker*innen an dieser Erzählung. Elina Sana beschreibt in ihrem Buch »Die Ausgelieferten – Finnlands Auslieferungen an die Gestapo« die Überstellung von 3000 Juden und russischen Kriegsgefangenen. Oula Silvennoinen ergänzte 2008 diese Erkenntnisse in seiner Dissertation »Geheime Waffenbrüderschaft«: Die finnische Staatspolizei (Valpo) war durch ihre Zusammenarbeit mit dem bis 2008 unbekannten »Einsatzkommando Finnland« direkt an Kriegsverbrechen wie Folter und Massenerschießungen, auch mit jüdischen Opfern, beteiligt. All das geschah ohne großen direkten Einfluss finnischer faschistischer Bewegungen. Die Lapua-Bewegung hatte sich bereits 1932 aufgelöst, mitunter auch deswegen, weil ihr moderater Flügel wesentliche Ziele – Ausschaltung der internen Kommunisten, Verfassungsreform mit dem Ergebnis eines autoritären Präsidialregimes – durch die konservativen Regierungen umgesetzt sah. 

Dass sich die heutigen Faschisten Finnlands genötigt sehen, eine neue Partei zu gründen, spricht immerhin dafür, dass die aktuelle Politik des Landes nicht ganz nach ihrem Geschmack ist. Die Sinimusta Liike / Blåsvarta Rörelsen (»Blauschwarze Bewegung«) schaffte dieses Jahr ihre Aufnahme ins Parteienregister und trat auch bei den Parlamentswahlen an. Die Partei spricht sich gegen eine öffentliche Präsenz von nicht-christlichen Religionen aus, mit der Ausnahme des finnischen Paganismus im Geschichtsunterricht. Laut ihrem Vorsitzenden Tuukka Kuru stünden die »Interessen« und »Erbanlagen« der Juden in Konflikt mit denen der ursprünglichen europäischen Population. Die Sinimusta Liike kommt nicht aus heiterem Himmel, sondern direkt von der Basis: De facto ist sie eine Abspaltung der rechtsextremen Perussuomalaiset/Sannfinländarna (»Basisfinnen«). Die Basisfinnen saßen schon zwischen 2015 und 2017 in der Regierung, wurden bei den Parlamentswahlen 2023 zweitstärkste Partei und befinden sich auch aktuell (knapp vor Redaktionsschluss) in Regierungsverhandlungen mit konservativen Kräften und der parlamentarischen Vertretung der finnlandschwedischen Minderheit. Diese dürfte die wichtige Forderung der Basisfinnen, die Pflicht zum Erlernen der zweiten Amtssprache Schwedisch in der Schule abzuschaffen, nicht leichtfertig akzeptieren. Laut den Basisfinnen untergräbt das Erlernen der schwedischen Sprache (in der finnlandschwedischen Ausprägung) das finnische Selbstverständnis. Ein fragiles Selbstverständnis muss das sein. Die Partei sieht Finnland, mit seinen 338.472 Quadratkilometern Landesfläche und einem Ausländeranteil von 4%, von muslimischen Migranten überrollt. Der Erfolg der Perussuomalaiset ist ein gutes Argument gegen die hierzulande bekannte Position, nur nicht zu viele Flüchtlinge aufzunehmen, damit die Rassist*innen nicht gestärkt werden – also »das Asylrecht vor den Flüchtlingen zu schützen« (Max Uthoff und Claus von Wagner). Zum Wahlkampf der Basisfinnen gehörten Plakate, die suggerierten, Familien mit finnischen Nachnamen würden bei der Wohnungsvergabe gegenüber Ausländern massiv benachteiligt. Wie der Integrationsexperte Ahmad Moussa 2021 in seiner Dissertation zeigen konnte, führt die tatsächliche Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt zu einem höheren Risiko für Asylsuchende und Asylberechtigte, in die auch in Finnland existente offene oder verdeckte Obdachlosigkeit zu rutschen. Einem Bericht der linksliberalen Zeitschrift »Voima« (»Kraft«) zufolge traut sich jedoch kaum eine*r der finnischen Journalist*innen, den Basisfinnen öffentlich Rassismus zu unterstellen. Was die Wähler*innen der Partei selbst gerne zugeben, macht aber ohnehin jede Unterstellung überflüssig. Vierzig Prozent von ihnen stimmten vor der Wahl bei einer Umfrage der Aussage zu: »Die intellektuellen Fähigkeiten der Schwarzafrikaner sind schwächer als die der weißen Rasse, die in westlichen Ländern lebt.«

Woher rührt der bei den heurigen Parlamentswahlen erlittene Absturz der finnischen Sozialist*innen, die mit einer der weltweiten Hoffnungsträgerinnen der Sozialdemokratie an der Spitze angetreten waren? Die Hetze der konservativen Presse gegen die junge Premierministerin Sanna Marin, die beim Feiern und Tanzen gefilmt worden war, könnte das Zünglein an der Waage gewesen sein. Womöglich begeisterten diese – nie sozialkritischen, sondern nur moralisierenden –Kampagnen aber auch Teile derjenigen Bevölkerungsschicht, die sich regelmäßiges Ausgehen und Feiern nicht mehr leisten kann. Die stetige Verschlechterung der Lebensumstände setzt einen schon längeren Trend fort, für den auch die immer höhere Vermögenskonzentration ein Anzeichen ist: Die reichsten zehn Prozent Finnlands besitzen aktuell 49,6 Prozent des gesamten Vermögens, 2009 waren es noch 43,9 Prozent gewesen. Während Profite, etwa in der Holz- und der Elektronikindustrie steigen, verschärft sich die Situation der Arbeiter*innen. Mit dem Ausrufen eines Streiks durch die Industriegewerkschaft am 1. Februar begann die Streikwelle des finnischen Spätwinters, der durch den Slogan #Palkkaliitto (»Gehaltsunion«) im Zeichen der Solidarität der verschiedenen Teilgewerkschaften untereinander stand. Die Verhandelnden der Industriegewerkschaft akzeptierten eine Gehaltserhöhung von 7 %, was beinahe an die Inflationsrate von 9 % (Dezember 2022) herankommt. Die von den Transport- und Eisenbahngewerkschaften ausgerufene Arbeitsniederlegung brachte große Teile des öffentlichen Verkehrs zum Stillstand. Zuvor war in den Medien viel über die Arbeitsbedingungen etwa der Busfahrer*innen berichtet worden: Manche würden zum Beispiel während einer 11,5-Stunden-Schicht auf das Trinken verzichten, da nicht sicher sei, ob sich die Toilettenpause nach vier Stunden einhalten lasse. Im Februar nutzte die staatliche Vermittlerin ihre Verfügungsfreiheit, um einen von der Dienstleistungsgewerkschaft PAM angekündigten Streik vorerst zu verschieben – was die Vorsitzende der PAM Annika Rönni-Sällinen veranlasste, von einer Limitierung des Streikrechts der Angestellten zu sprechen. Auch hier scheint sich ein Muster abzuzeichnen: Schon 2022 hatte die Stadt Helsinki/Helsingfors erfolgreich beim Bezirksgericht um eine Verhinderung des Streiks der Pflegekräfte – die unter höchster Überarbeitung leiden und massiv unterbezahlt sind – angesucht. Auf die Drohung der Pflegekräftegewerkschaften, Massenkündigungen zu veranlassen, reagierte die Fünf-Parteien-Koalition Marins mit der Verabschiedung eines Patientensicherheitsgesetzes. Diese Sicherheit soll allerdings nicht durch eine Verbesserung der Situation im Gesundheitswesen erreicht werden, sondern durch Zwangsarbeit – mit diesem Begriff zumindest charakterisieren die Gewerkschaften das Gesetz. Es beinhaltet die Möglichkeit, sowohl Streikende zur Arbeit anzuhalten, wie auch im Falle von Massenkündigungen einzelne Pflegekräfte zurück an den Arbeitsplatz zu zwingen. Das finnische Gesundheitswesen befindet sich indes in einem Teilkollaps. Hinweise darauf sind etwa Berichte, dass Krankenwägen im Dezember das große Jorvi-Krankenhaus wegen heilloser Überfüllung der Notaufnahme zehn Tage nicht anfahren konnten; kolportierte Aussagen von Oberärzt*innen, dass sie nicht sagen können, wie eine adäquate Versorgung noch zu gewährleisten sei. Das finnische Gesundheitssystem ist sehr parzelliert, was mit Ungleichheit einhergeht. In Helsinki beispielsweise leben die kränksten Einwohner*innen im nördlichen Jakomäki, wo nur 17 Prozent der Bevölkerung auch Privatärzt*innen aufsuchen, die gesündesten auf dem Inselstadtteil Kulosaari, wo dies über 40 Prozent tun. Auch in Finnland gehen solche Entwicklungen mit einem schrecklichen Diskurs darüber einher, ob nicht sehr kranke, sehr alte Patient*innen überversorgt seien. 

Droht sich der Frust über die soziale Situation gegen die im Norden lebende indigene, ebenso finno-ugrische Sprachen sprechende Minderheit der Sámi zu entladen? Nach Angaben des Vorsitzenden der Sámi-Versammlungen jedenfalls nehmen die Hassreden gegen Sámi zu. Lange galten Sámi in Finnland als zurückgebliebenes Volk, über das man sich gerne etwa in Fernsehsendungen lustig machen konnte. Waren sie in Schweden vor allem in den 1920er-Jahren Objekt rassistischer Forschung durch das (von Sozialdemokraten vorangetriebene) Staatliche Institut für Rassenbiologie, so wurden in Finnland noch von 1966–1973 im Rahmen großangelegter Forschungsprojekte – mit 130 beteiligten Forscher*innen – die Schädel von Sámi vermessen. Anni-Kristiina Juuso, gewählte Generalsekretärin der samischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, beschreibt, wie sich das herrschende Bild der Sámi in den letzten Jahrzehnten veränderte: »Von Rechten war damals, als es furchtbar ruhig war, keine Rede. Jetzt, wo die Sámi begonnen haben, selbst über ihre Rechte zu sprechen, werden wir als irgendwie gefährlich angesehen.« Heute ist im Zusammenhang mit der finnischen Politik gegenüber der Minderheit von »grünem Kolonialismus« die Rede. Gemeint sind damit in Planung befindliche Windkraftparks oder Minenprojekte zum Abbau etwa von Kobalt, deren Umsetzung die traditionelle Rentierhaltung der Sámi gefährden könnte. Betreffende Ängste und Widerstände werden durch die historische Erfahrung begünstigt: In den 1960er-Jahren hatte der finnische Staat in Sápmi (dem Siedlungsgebiet der indigenen Einwohner*innen) Wasserkraftwerke gebaut, was zur Zwangsumsiedlung Hunderter Sámi führte. Ein UN-Ausschuss befand 2022, dass Finnland das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung verletzt. Konkret geht es um das schon lange zur Diskussion stehende Gesetz, wonach der finnische Staat entscheidet, wer sich an den Wahlen des Sámi-Parlamentes beteiligen darf. Nur scheinbar konträr zu diesen Phänomenen ist die Entwicklung, dass von den Sámi immer öfter als Opfer des Kolonialismus gesprochen wird. Laut dem Professor für samische Kultur Veli-Pekka Lehtola nimmt auch dadurch der Druck auf die samische Jugend zu, »die Identität ihres eigenen Volkes zu erkennen«. Die samische Forscherin Rauna Kuokkanen hat dafür eine eigene Bezeichnung geprägt: etnostressi – Ethnostress.

Man kann nur hoffen, dass sich die rechtsextremen Basisfinnen in der kommenden Koalition nicht mit vielen ihrer Forderungen und mit ihrem eigenen, hausgemachten finnischen Ethnostress durchsetzen. Ansonsten dürfte dem Unglück der Finn*innen nicht viel im Wege stehen.

Der Autor bedankt sich bei Siri Maria S. für Hilfe bei der Recherche und Übersetzung der Originalquellen.

Finnland: Der Ort, wo selbst Anlegepoller glücklich sind. (Bild: Jori Samonen (CC BY 2.0))