Die Entwicklung erschwinglicher und qualitativ hochwertiger Aufnahmetechnik, mit deren Hilfe sich Klänge fixieren und wiedergeben ließen, beeinflusste die Musikwelt spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts auf allen Ebenen. Durch diese Möglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit konnte das einmal Verklungene vor dem Verschwinden bewahrt und immer wieder zurückgespielt werden. Das befähigte nicht nur Jazzmusiker wie Miles Davis, einen ganz eigenen »Sound« zu entwickeln, wie Michel Chion einmal mutmaßte, sondern erlaubte auch das genaue Untersuchen fixierter Geräusche jeglicher Herkunft sowie ihre präzise Anordnung in der Zeit durch Montage.
Begeistert von diesen technischen Möglichkeiten, die ihm in den 40er Jahren im Studio des französischen Rundfunks zur Verfügung standen, entwickelte der junge Ingenieur Pierre Schaeffer eine Musik ausschließlich aus Geräuschen, die so ziemlich alles enthalten konnte, was das Archiv hergab oder ihm vors Mikrofon kam. Für seine dezidierte Geräuschmusik schlug er 1948 in der Zeitschrift »Polyphonie« die Bezeichnung »Musique concrète« vor. Diese benutzte er fortan zur Abgrenzung von der bisherigen abendländischen Musiktradition, vor allem aber von den kompositorischen Vorstellungen des Serialismus, deren Vertreter zeitgleich mit den Bestrebungen in Paris im Kölner Studio des NWDR elektronische Musik realisierten. In ihm sah Schaeffer das Paradebeispiel für einen Kompositionsprozess, der bei der abstrakten Ordnung beginnt und beim sinnlichen Werk (etwa bei einer Aufführung) endet, während er für die Musique concrète den umgekehrten Weg proklamierte: Ihre Methode konzipierte er als die Arbeit am konkret-sinnlichen Klang.
Während die frühen Arbeiten von Schaeffer und seinem ersten Mitarbeiter Pierre Henry noch vordergründig an den alltäglichen Ursprung der Klänge geknüpft bleiben, verweisen bereits die häufigen Wiederholungen, die den Stücken ihren eigenen, geradezu clownesken Charakter verleihen, auf ein beginnendes Unbehagen im Zusammenhang mit dem assoziativen Hören von Geräuschen, welches diese auf einen außermusikalischen Sinnzusammenhang festlegen will. Denn durch den unnatürlichen Charakter der mehrmaligen exakten Wiederkehr eines Fragments, schien deren eigentliche Herkunft zu verblassen, und der Blick auf das »Objet sonore«, auf die innere Beschaffenheit des Klangobjekts, wurde frei. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hielt diese Voraussetzung für eine gelingende Geräusch-musik folgendermaßen fest: »Dass die äußeren Beziehungen unterdrückt werden, ist die Bedingung eines Hervortretens der inneren.« Erst wenn Geräusche dezidiert ästhetisch-musikalisch wahrgenommen werden, wird es möglich, »innere Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen, Beziehungen, durch die sich Geräuschmusik als Musik konstituiert: Verhältnisse der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, der partiellen Übereinstimmung oder des ausschließenden Gegensatzes.«
Nachdem die traditionelle musikalische Sprache, die hauptsächlich auf Tonhöhen – oder genauer: auf Tonhöhenverhältnissen, also Intervallen – beruhte, hier nicht mehr greifen konnte, musste eine solche Sprache der Geräuschmusik erst noch entwickelt werden. Vom Ohr her gedacht, für das Schaeffer einen Primat forderte, konnte diese aber weder von physikalisch-akustischen Eigenschaften noch von einem System sogenannter Parameter des Serialismus ausgehen. Die Vermittlung zwischen den Einzelmomenten müsste sich dann nicht etwa durch ein übergeordnetes abstraktes System ergeben, sondern quasi im Ohr selbst. Schaeffer begann daher zentrale Kriterien von Geräuschen für die Analyse und Komposition, wie Masse, Körnung, Dynamik und Klangfarbe, aufzustellen, die er in einer Morphologie der Klangobjekte zusammenfasste und in seinem Hauptwerk »Traité des objets musicaux« 1966 publizierte.
Das auditive Nachspüren dieser Charakteristika in den Klängen und den Beziehungen zwischen ihnen nannte Schaeffer »écoute réduite«, »reduziertes Hören«. Um dies zu veranschaulichen, verglich er sein Tonbandgerät im »Traité« mit dem pythagoreischen Vorhang. Der Überlieferung nach platzierte Pythagoras seine neuen Schüler hinter diesem Vorhang, um sie von jeglicher visuellen Information über die kontingente Herkunft des Gesprochenen abzuschirmen und sie so zum intensiven Hören des Unterrichts zu bewegen. Diese Schüler wurden Akusmatiker genannt. Der Komponist François Bayle verwendete den bis heute gängigen Begriff »Musique acousmatique« später synonym mit Musique concrète, um auf die Loslösung des Klangmaterials von seiner Quelle zu verweisen. Dafür erachtete er nicht nur das Speichermedium, sondern auch den Lautsprecher als zentral, da mit dessen Hilfe ein virtueller akustischer Raum in einem realen aufgerichtet werden kann.
Zur angemessenen räumlichen Interpretation entwickelte Bayle das Acousmonium, das dem Interpreten erlaubt, seine Musik über ein Mischpult auf ein Lautsprecherorchester zu verteilen, welches aus mehreren Gruppen besteht, die sich in Klangcharakteristik und Frequenzbereich unterscheiden und frei im Raum platziert werden können. Zum einen wird damit der Komponist bzw. Interpret in die Lage versetzt, in Echtzeit auf die raumakustischen Begebenheiten zu reagieren und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Zum anderen ist er dadurch auch befähigt, die jeweilige kompositorische Idee — ganz im Sinne des traditionellen Interpretationsanspruchs — so transparent und klar wie möglich hörbar zu machen. Es geht hierbei also weder um die bloße Lokalisation von Klängen im Raum, noch um eine heute vielbeschworene Immersion des Hörers, sondern um die möglichst adäquate räumliche Interpretation elektroakustischer Musik anhand ihrer inneren Logik. 1974 von Bayle konzipiert, wurde das Acousmonium im Espace Cardin in Paris im selben Jahr in Betrieb genommen. Damit feiert das fortan stetig optimierte Lautsprecherorchester in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen.
Zu diesem Anlass war das Acousmonium der Pariser Groupe de Recherches Musicales (GRM) im vergangenen März im Rahmen des diesjährigen Festivals MaerzMusik zu Gast im Haus der Berliner Festspiele. Neben älteren Werken wichtiger Protagonisten der Musique concrète wurden auf den insgesamt 60 Referenz- und Effektlautsprechern, die an diesem Abend bis in den Zuschauerbereich hineinreichten, auch eine Handvoll aktueller Stücke jüngerer Komponisten interpretiert.
Unter den herausragenden »klassischen« Werken wären »L’Orvietan« (1970) von Beatriz Ferreyra, das in vielerlei Hinsicht eigenartige »Orient-Occident« (1957-62) von Iannis Xenakis für den gleichnamigen Film von Enrico Fulchignoni und François Bayles Stück »L‘Infini du bruit« zu nennen, dessen Interpretation mit Hilfe des Acousmoniums die Komposition erst richtig zum Leben erweckte. Außerdem gab es erfreulicherweise auch ein zentrales Stück des Komponisten und Gründungsmitglieds der GRM Luc Ferrari zu hören, der seit 1964 trotz großer Kritik innerhalb der GRM das Konzept einer »Musique anecdotique« vertrat, bei der die Imagination der Geräuschquellen im Mittelpunkt steht. Während sein erstes Stück dieser Art »Hétérozygote« noch deutlich einer musikalischen Logik folgt und so den Hörer ständig beim assoziativen Hören unterbricht, geht Ferrari mit seinem späteren Zyklus »Presque Rien« noch ein Stück weiter. Die formale Ebene tritt hier hinter einen realitätsfälschenden Illusionismus zurück. Beim Konzertabend im Haus der Berliner Festspiele wurde allerdings das stärkste Stück des Zyklus »Presque rien avec filles« von 1989 gewählt, das verhältnismäßig größere kompositorische Ambitionen zeigt.
Auch wenn die intimsten Momente etwas unter der zerrüttenden Wirkung des Acousmoniums litten — Ferrari hatte seine Umgebung während der Aufnahmen meist lange über Kopfhörer belauscht —, zeigt gerade dieses Stück voller Spannung und Erotik, warum Ferrari von heutigen »Klangökologen« zu Unrecht vereinnahmt wird, die — in einer Mischung aus Primitivismus und Scientismus — ein durchgeformtes Stück Musik mit Audiomaterial zur Analyse des Paarungsverhaltens von Fröschen zu verwechseln pflegen. Denn von einer Musik als »Reibungszone« (Ferrari), einem Spannungsverhältnis zwischen assoziativer und musikalisch-logischer Ebene, sei sie auch noch so subtil, will man heute meist nichts mehr wissen. »Soundscape«, »Klangökologie« und »Fieldrecording« sind dagegen die Buzzwords, die den an »experimenteller Musik« interessierten, ökologisch bewussten Musikhasser in Wallung bringen. Im Gegensatz zu diesen Klangpositivisten, die in ihren Stücken die unmittelbare, von menschlichem sonischem Müll (»noise pollution«) befreite Natur zu präsentieren meinen, ist Ferraris Musik sich durchaus darüber im Klaren, dass sie eine gänzlich andere Realität darstellt, in der die Klänge der Natur, auf die ein unvermittelter Zugriff gar nicht möglich ist, immer schon in einen musikalischen Zusammenhang eingebettet sind.
Mit dem in Berlin lebenden Joseph Kamaru, alias KMRU, war unter den jüngeren Komponisten an jenem Abend auch ein »Fieldrecordist« vertreten, von dem allerdings ein Stück für Synthesizer zu hören war, das man im gegenwärtigen Jargon wohl als »epic ambient piece« bezeichnen würde. Insofern ist dieses Drone-Stück, das, »gewürzt« mit ein wenig Verzerrung, aus nicht viel mehr als einer einzigen stereotypen An- und Abschwellbewegung simpelster harmonischer Struktur besteht, repräsentativ für die schon einige Zeit andauernde unselige Tendenz einer Art Ambientisierung der elektroakustischen Musik. In einer Verkehrung von Brian Enos Beschreibung von Ambient-Musik — »as ignorable as it is interesting« — nimmt sich jene von KMRU allerdings als gleichermaßen aufdringlich wie uninteressant aus.
Deutlich andere Eindrücke verbleiben jedoch von Jim O’Rourkes »8 Views of a Secret«, das sowohl den Abschluss als auch den fulminanten Höhepunkt des Abends darstellte, von der »Étude spectrale« von François Bonnet, dem gegenwärtigen Leiter des Pariser Musikforschungsinstituts INA GRM, und von »22/12/2017 Guilin Synthetic Daydream« der besonders in der Klanggestaltung äußerst talentierten Eve Aboulkheir. Wie bei vielen heutigen Stücken — vermutlich ein unbewusster formaler Abdruck des allgegenwärtigen DJings — liegen die interessantesten Momente auch beim letztgenannten tektonisch angelegten in den Übergängen, in denen die statischen Szenarien dynamisiert werden und sich erneut in einem ostinativen Geflecht verfangen, bevor dieses sich wieder lockert. So oszilliert das Stück in ewigem Wechsel zwischen Erstarrung und Verflüssigung.
Überhaupt scheint Entwicklungsarmut heute der unausgesprochene Konsens fast aller progressiven Komponisten elektronischer Musik zu sein, von François Bonnet und Felicia Atkinson über Kali Malone und Oren Ambarchi bis zu Giuseppe Ielasi und Florian Hecker: wo man auch hinhört, ist Stasis. Darum verwundert es nicht, dass an diesem insgesamt sehr eindrucksvollen Abend kein Stück von Bernard Parmegiani vertreten war, der im Gegensatz zu François Bayle als ein Komponist der Zielgerichtetheit und Dynamik gelten kann. Das richtungsanzeigende »Vektoren-Moment« (György Ligeti), das die besten Stücke von Parmegiani inne hatten, scheint im Umfeld der GRM ausgestorben zu sein. Dagegen sollte heute nicht vergessen werden, dass Musique concrète ausgehend vom musikalischen Einzelereignis in ihren besten Momenten durch Formgefühl und Phantasie authentischer Ausdruck dessen war, was Adorno »Musique informelle« nannte: auskomponierte Zeit. Das Auftaktkonzert der diesjährigen MaerzMusik in Berlin hat diese Notwendigkeit einmal mehr vor Augen geführt.