Als 2014 Akif Pirinçcis Buch »Deutschland von Sinnen: Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer« in der Edition Sonderwege des Manuscriptum-Verlags erschien, war das keineswegs jenes rechtsradikale Outing, als das es von Pirinçcis Verächtern seitdem zum Zweck seiner politischen Diskreditierung dargestellt worden ist. Vielmehr hat Pirinçci den Stil der enthemmten Invektive seit Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn gepflegt. Sein Kriminalroman »Felidae«, der ihn 1989 bekannt gemacht hat, ist aus der Perspektive des Katers Francis erzählt, der zugleich detektivischer Akteur ist. Ähnlich wie in den sieben Fortsetzungen, die bis 2012 veröffentlicht wurden, steht hier die Wahl eines tierischen Protagonisten im Zusammenhang mit einem Bekenntnis zum Unreinen, Sträunerischen und Unbotmäßigen – zu allem Abseitigen, das die Zivilisation, da sie ihr Versprechen nicht erfüllen kann, aus sich selbst heraus erzeugt. Die außerhalb der Katzenkrimireihe erschienenen Romane »Der Rumpf« (1992) und »Yin« (1997) setzen dieses Thema fort. »Der Rumpf«, ebenfalls ein Kriminal-roman, der den Topos des unmöglichen Verbrechens aus E. A. Poes »Die Morde in der Rue Morgue« aufgreift, erzählt von einem ohne Beine und Arme geborenen Mann, der seine Verkrüppelung nutzt, um in einem Behindertenheim den perfekten Mord zu planen; in »Yin« hat ein Virus den männlichen Teil der Weltbevölkerung ausgelöscht, sodass die verbliebenen Frauen zwecks Überlebens angehalten sind, Forderungen des Radikalfeminismus wie die Reproduktion ohne heterosexuellen Geschlechtsverkehr in die Tat umzusetzen.
Schon in diesen frühen Büchern erprobt Pirinçci Schreibweisen, in denen sich Umgangssprache und Hochsprache, Vulgarität und Akademismus (wie angloamerikanische Rätselkrimis haben manche seiner Romane Fußnoten) miteinander verschränken. Der in diesem Sinne schmutzige Stil seiner Literatur hat deshalb auch wenig mit der interkulturellen Migrantenliteratur und der »Kanak Sprak«-Dichtung der achtziger und neunziger Jahre zu tun, der sein Frühwerk gewöhnlich zugrechnet wird. Zwar greift Pirinçci immer wieder auf türkischdeutsch verballhornte Syntax und Grammatik und »migrantisches« Vokabular zurück, doch anders als in der »Kanak Sprak« dient ihm dies nicht als Mittel identitärer ethnischer Selbstmarkierung, sondern im Gegenteil zur sprachlichen Zerstörung und Lächerlichmachung des Identitätskults. Entsprechend ist auch »Deutschland von Sinnen: Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer« ein ästhetischer Hybrid, in dem sich empirische Informationen zur islamischen Migration, zur Ehe- und Familienpolitik, mit Formen der Polemik, Satire, Beleidigung und Schmährede verbinden. Die Frage, um welche Form von Text es sich bei »Deutschland von Sinnen« überhaupt handelt, und ob es in der Kategorie »Sachbuch«, in der es im »Spiegel« Anfang 2014 zu den Top-Ten der Taschenbücher gehörte, gut aufgehoben war, ist nie gestellt worden.
Rechte Provokationen
Ein Grund dafür war, dass es durch eine Rede überlagert wurde, die Pirinçci 2015 in Bonn vor Vertretern der »Pegida«-Bewegung gehalten hatte, weshalb die mediale Öffentlichkeit sich fast nur noch für die von ihm provozierten Skandale und deren juristische Langzeitfolgen interessierte. Infolge der Bonner Rede, in der er die Grünen als »Kinderfickerpartei«, Deutschland als »Scheißstaat« bezeichnet und dem Islam attestiert hatte, mit der deutschen Kultur so viel gemein zu haben »wie mein Arschloch mit Parfümherstellung«, beendete die Verlagsgruppe Random House die Auslieferung seiner belletristischen Titel, und selbst der rechte Kopp-Verlag kündigte die Zusammenarbeit. Anlass dafür war neben den genannten Schmähungen die Fehlinterpretation einer Passage der Rede, in der Pirinçci sagte, die Mächtigen in Deutschland hätten »die Angst und den Respekt vor dem Volk« so restlos abgelegt, »dass man ihm schulterzuckend die Ausreise empfehlen kann«, und hinzugefügt hatte: »Es gäbe natürlich auch Alternativen, Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.« Zahlreiche Tageszeitungen deuteten diese, eine Internierung von Angehörigen des »Volkes« durch die Mächtigen ausmalende Passage als Wunsch, Konzentrationslager für Flüchtlinge zu errichten. Obgleich die missverstehende Berichterstattung nachträglich reflektiert wurde – etwa von dem Journalisten Stefan Niggemeier –, ergingen seitdem vielfach und teilweise mit Erfolg Anzeigen wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Schmährede gegen Pirinçci.
Unabhängig davon, ob Pirinçcis Äußerungen nun überspitzt, unbedacht oder einfach unhaltbar und inwieweit sie justiziabel sind, ist gerade deswegen sein Fall beispielhaft für eine sprachpolitische Entwicklung, die seit etwa zehn Jahren nicht nur den Literaturbetrieb, sondern auch die sprachliche Form seiner Hervorbringungen betrifft: die Fusionierung von Moral und Recht, die sich an die Stelle des ästhetischen Urteils über das Werke selbst setzt. Der Einwand, Pirinçci trete als öffentliche Person mit einem offenkundigen politisch-propagandistischen Anliegen auf, müsste dabei zumindest der Tatsache Rechnung tragen, dass die Sprachformen der Schmähung, Beleidigung und obszönen Invektive bereits in seinen früheren literarischen Texten – ebenso wie sein Alter Ego, die Kunstfigur »Der kleine Akif« – genuiner Bestandteil des Werks waren. Während derlei Rechtsgüterabwägungen die bürgerliche Epoche hindurch, wie sich an den Prozessen wegen Pornographie gegen Felix Salten über Arthur Schnitzler bis zu Arno Schmidt zeigen ließe, so ernst genommen wurden, dass bis zum entsprechenden Gerichtsbeschluss manchmal Jahrzehnte vergingen, spielte die Inbetrachtziehung der sprachlich-ästhetischen Form bei den Urteilen zu Pirinçci kaum mehr eine Rolle. Mit der Vernachlässigung der ästhetischen Form geht dabei eine systematische Verwischung der Differenz zwischen Moral und Recht einher. Deutlich wird dies an den Begriffen der Beleidigung und Schmähung, die in den Urteilen zu Pirinçci, vor allem aber in der sie begleitenden Berichterstattung, eher als moralische Verfehlungen denn als Verletzungen eines Rechtsguts gewertet wurden.
Politisch-moralisches und ästhetisches Urteil
Rechte, auch Grundrechte, bezeichnen im bürgerlichen Recht das spezifische Verhältnis der Individuen zu den ihnen verfassungsmäßig garantierten oder privatrechtlich geschützten Rechtsgütern. In diesem Sinne »hat« niemand Rechte, sondern die jedem zukommenden Rechte garantieren den Rechtsgüterschutz. Zu den wichtigsten verfassungsmäßig geschützten Rechtsgütern gehört die Menschenwürde, deren Verletzung aber eben wegen ihres Ranges nicht einfach – sei es auch intersubjektiv nachvollziehbar – »gefühlt«, sondern nachgewiesen werden muss, damit ein entsprechender Verstoß sanktioniert werden kann. Der handlungspragmatische Status des vermeintlichen Verstoßes – also auch der sprachliche Status der Aussage, der Rede und der Handlung, in dem er erfolgt sein soll – ist daher bei der juristischen Beurteilung der Frage, ob durch Beleidigung oder Schmähung Persönlichkeitsrechte verletzt wurden, konstitutiv bedeutsam. Beleidigung, Diffamierung, Verleumdung etc. bezeichnen in diesem Sinne Rechtstatsachen, die nicht unabhängig, aber auch nicht identisch sind mit den an sie sich heftenden Gefühlen und Werturteilen.
Was sich seit einiger Zeit unter den Vorzeichen von Political Correctness und »Sensitivity Reading« im Kulturbetrieb, besonders auf dem Literaturmarkt, abspielt, ist eine durchgreifende, zivilstaatlich und administrativ gestützte Subjektivierung des Rechtsgüterbegriffs mit den Mitteln erpresserischer Emotionalisierung und Moralisierung. Ob ein Text oder ein Kunstwerk nicht durchaus in ein und demselben Urteilsakt als politisch gefährlich, moralisch anstößig und ästhetisch gelungen gewertet werden kann, ob womöglich sogar die moralische Anstößigkeit und politische Fragwürdigkeit selber zu solchem ästhetischen Gelingen beigetragen haben, und ob nicht selbst dann, wenn ein politisch und moralisch fragwürdiges Werk ästhetisch misslungen ist, die Freiheit ästhetischen Ausdrucks, die unabhängig von dessen Gelingen garantiert ist, gegen Versuche, sie einzuschränken, auch für jemanden wie Pirinçci verteidigt werden muss – solche Fragen, die die Debatten um Kunst und Zensur seit dem 19. Jahrhundert orchestrierten, gelten im frühen 21. Jahrhundert an sich schon als unbotmäßig, weil die Kunstfreiheit mittlerweile kaum noch als unabhängig von den sich auf sie richtenden und an sie heftenden Bedürfnissen und Emotionen bestehendes Rechtsgut mehr gilt. Stattdessen ähneln diejenigen, die sich aus guten oder schlechten Gründen auf die Kunstfreiheit berufen, denjenigen, die diese – aus politisch sympathischen oder unsympathischen Gründen – beschneiden wollen, darin, dass ihnen Kunst nichts anderes als ästhetischer Ausdruck subjektiver Gesinnung ist und deshalb nicht an sich selbst, an ihrem eigenen Formgesetz, zu messen sei, dem sie gerecht werden oder an dem sie scheitern kann, sondern an der wahlweise zulässigen oder unzulässigen politisch-moralischen Haltung.
Ästhetischer Sinn und Sensitivity
Der Begriff der Zulässigkeit trifft den erkennungsdienstlichen Gestus deshalb gut, weil in ihm Moral und Recht, Legalität und Legitimität verschwimmen. Dabei kommt zu sich selbst, was seit den siebziger Jahren durch die Rezeptionsästhetik vorbereitet worden ist: Ein Kunstwerk gilt seither nicht als eigenständiges Objekt, sondern als der Effekt der Kräfte, aus denen es produktionsästhetisch hervorgegangen ist und die es wirkungsästhetisch auslöst. Es ist identisch mit dem, »was es mit mir macht«, und woraus es gemacht worden ist: Gefühle, Affekte, Gesinnungen, gute oder böse Absichten. Was in der bürgerlichen Ära wenigstens dem Anspruch nach die Autonomie-ästhetik ausmachte, die Einsicht, dass das Kunstwerk kraft seiner eigenen Konstitution über die Impulse, die in es eingehen und die sich an ihm entzünden, hinausweist auf ein Objektives, und damit auf Wahrheit und Freiheit, das ist längst vergessen. Mit dem Gespür für die Konstellation, in der die Kunstwerke aus sich selbst heraus auf Wahrheit verweisen, geht aber auch die Fähigkeit zur Erkenntnis ihres historischen Sinns verloren. Daher die Begeisterung des sprachverbesserischen »Sensitivity Reading« für historisch gewordene Texte. »Sensitivity Reading« bemüht sich, von Rudyard Kipling über Agatha Christie und Astrid Lindgren bis zu Michael Ende, vor allem aus der Abenteuer-, Kriminal- und Kinderliteratur böse Worte, Figuren und Handlungsstränge zu tilgen und jeweils durch angeblich zeitgemäßere Pendants zu ersetzen. Wenn es aber bei Kipling so wenig wie bei Lindgren »Neger« und bei Christie keine dubiosen Chinesen mehr gibt, wird durch die indoktrinierende Aktualisierung mit den historisch aufgeladenen Worten und Bildern auch der ästhetische Sinn zerstört. Alle mit Einbildungskraft vollgesogenen, sei es glorifizierenden oder abwertenden, Bedeutungsgehalte der Worte geben der ästhetischen Form, in der sie begegnen, ihre Prägnanz und damit ihren Sinn. Werden sie mit saubermännischem Gestus zum Schutz von Kindern und sensiblen Lesern getilgt, wird der Sinnzusammenhang zerschlagen, innerhalb dessen sich ihre politische und moralische Bedeutung überhaupt erst erschließen lässt.
Solche sprachadministrativ (selbst)verordnete Entsinnung ist zugleich eine Entsinnlichung, denn Einbildungskraft und Phantasie bilden das Bindeglied zwischen leiblicher Wahrnehmung und geistiger Reflexion, Anschauung und Begriff. Übrig bleiben dann vom Sinnzusammenhang, den die Worte in ihrer sprachlichen Konstellation stiften, nur die beziehungslosen Worte selbst, die gemäß der Performativitätstheorie der Sprache nichts anderes als Sprechhandlungen sind, die beleidigen, diskriminieren oder sensibilisieren, aber nicht zur Wahrheitserkenntnis beitragen. Umso aggressiver eine Armada von Politikern, Medienleuten, Verlagsleitern, Lektoren und Redakteuren solche Entsinnung betreibt und potentiellen Lesern damit im Namen verrechtlichter Lesemoral die »Lust am Text« (Roland Barthes) nimmt, desto plumper fallen aber auch die politisch unkorrekten Antworten der solcherart ins Abseits beförderten Autoren aus.
Tabubrüche statt Arbeit an der Sprache
Deshalb ist der Fall von Akif Pirinçci aufschlussreich, denn je mehr er, selbst unter seinen neugewonnen Freunden im Umfeld von »Achse des Guten« und »Eigentümlich frei«, als persona non grata behandelt wurde, desto enthemmter und schamloser ist sein kalkuliert diffamatorisches Schreiben geworden. Ähnliches ließe sich auch bei Thor Kunkel und auf künstlerisch niedrigem Niveau bei Matthias Matussek zeigen: Der sich selbst immer mehr in eine Art von Schreib- und Verlagsjustiz transformierende Sprachpuritanismus begünstigt durch seine irre Prüderie und verwalterisch organisierte Vulgaritätsvermeidung die affektbefangene, tumbe Tendenz, die neuverordneten Regeln einfach nur zu brechen, statt sie in der Arbeit an der Sprache zu suspendieren und auszuhebeln – wie manche Kinder nur deshalb notorisch kleckern, weil es ihnen immer wieder verboten wird. Eine Literatur aber, die nur errichtete und gebrochene Tabus kennt und in diesem vorhersehbaren Reiz-Reaktions-Schema verbleibt, ist weder überraschend noch schockierend, weder verführerisch noch augenöffnend, sondern so banal und langweilig wie ihr eigenes Personal.