Gegen rechts: Poesie!

Um dem Leben Atem zu geben. Rubia Salgado schreibt für das kollektiv.

Poesie und Forderungen von: das kollektiv, maiz, VIMÖ und YOUnited (Foto: Violetta Wakolbinger)

 

Als queer feministische Migrant*innenorganisation wurden wir eingeladen, über die Pfade des Über_Lebens im neoliberalen Kapitalismus zu Zeiten konservativer und rechtsextremer Ergreifung zu schreiben. Gewöhnlich als Rechtsruck benannt, ist diese Ergreifung in ihrer Ausbreitung und Engschaltung leider hier und vielerorts längst Realität. Eine Engschaltung des Denkens und des Seins, eine Engschaltung des Denkens über das Leben, die dem Leben wörtlich den Atem wegnimmt. (Rolnik, 2023) Eine Engschaltung des Lebens in seiner Potenz als Werden, als Devir, als Transformation. Und so sehr es anfangs befremdlich klingen mag, Poesie als Pfade zu preisen, so sehr bitte ich euch, Lesende dieser Worte, noch ein wenig bei ihnen zu weilen. Denn bald beginnen die Wörter Kontext und Sinn zu er_keimen.

das kollektiv führt seit 2015 die Bildungsarbeit weiter, die bis dahin in maiz realisiert wurde.1 Wie maiz ist auch das kollektiv eine Organisation von und für Migrant*innen; es ist ein Ort der kritischen Bildungsarbeit, des Austausches, des Widerspruchs und der gemeinschaftlichen Gestaltung. Wir sind u.a. in der Erwachsenenbildung mit migrierten und geflüchteten Frauen* tätig, die am wenigsten über Privilegien verfügen. Die meisten Lernenden hatten keine bzw. kaum Zugang zur formalen Bildung und viele davon werden erst hier in Österreich alphabetisiert. Die Frauen*, die in das kollektiv arbeiten, kommen aus unterschiedlichen geografischen und sozialen Orten, verfolgen das Ziel der Veränderungen ungleicher Verhältnisse und verstehen ihre Arbeit als Beitrag im Aufbauen eines buen vivir für alle. In das kollektiv beschäftigen wir uns u.a. mit der Frage, wie durch kritische Bildungsarbeit in die gegenwärtigen Bedingungen anhaltender und wachsender Ungerechtigkeiten zu intervenieren: wie im er_keimenden Dissens bleiben und unsere Kämpfe weiterhin führen, ohne vom neoliberalen Kapitalismus vampirisiert zu werden? Denn es wäre äußerst ratsam, eine weitere Frage stets hallend zu bewahren: Ist doch nicht die Vampirisierung der sozialen Kämpfe ein grundlegendes Element für den Fortbestand des Kapitalismus? (Vlg. Safatle, 2024)

Und da Vampirisierung auch hier in unserer Linzer Kulturpopcorn-, nein, Kulturpopart-, nein, Kulturpopupsstartupskreativitätsszenerie und weit darüber hinaus weit verbreitet scheint, und da der Text in der Versorger*in erscheint, wäre es näherliegend, darüber zu schreiben. Der Blick in diesem Text jedoch richtet sich nicht auf das Feld der Kunst oder der Kulturarbeit in sensu stricto. Die Wörter hier ergeben sich im Sinn ausgehend von der Praxis kritischer Erwachsenenbildungsarbeit, die trennende Grenzen zwischen Kultur- und Bildungsarbeit dauernd verschiebt bzw. diese in poröse Übergänge umgestalten will, und die sich dem Poetischen annähert, um sich neu zu erdenken, zu erschaffen, zu er_keimen.

Die Auffassung vertretend, dass Bildung die »Grundlage des Lebendigen, der Ethik und der Fähigkeit [ist], die jede von uns hat, sich in die Beziehung zu den Anderen als eine verantwortungsbewusste Antwort einzuschreiben« (Rufino 2021, o.S.; Übers. der Autor*in), fragen wir uns zudem, wie in unserer Praxis ethisch und verantwortungsbewusst zu handeln ist. Wenn wir die Frage »In wessen Interesse arbeiten wir?« mit der Aussage »im Interesse der Lernenden« beantworten wollen, dann müssen wir in uns die Unruhe, die der Bildungsarbeit innewohnt, ernst nehmen:

Zumal neoliberale kapitalistische Bildungspolitik zunehmend effiziente Ausbildung für den Markt priorisiert. 
Zumal Bildungsprogramme darauf abzielen, individualisierte Formen der Selbstwirksamkeit zu fördern und Skills zu vermitteln. 
Zumal wir als Pädagog*innen Mitgestaltende und Mitwebende der Welt und seiner Subjektivitäten sind. 
Zumal wir als Lehrende unter dem Neoliberalismus angehalten bzw. dazu verpflichtet werden, selbstorganisierte, selbstgesteuerte, für die eigenen »Misserfolge« selbstverantwortliche Subjekte zu bilden, Menschen, die sich lebenslang selbstoptimieren sollen, die sich mit Skills ausgestattet, wie Resilienz, unternehmerischem Geist oder Wettbewerbsfähigkeit, biegsam in das bestehende System einfügen und sich daran anpassen sollen. Selbstmaschinen in einem gewaltvollen System, die sich im Dienst neoliberaler Wirtschaftsinteressen empowern lassen sollen.
Zumal Bildung zum privilegierten Raum der Ein- und Ausprägung einer spezifischen Affektkultur im Neoliberalismus geworden ist, einer neoliberalen emotionology, wie Stephen Fineman (2008) dies nennt.

Aber:
Zumal Bildung als ethisch-politisches Projekt verstanden »nicht die Produktion von lesenden, schreibenden und höflichen, aber dennoch subalternen Subjekten zum Ziel haben kann.« (Castro Varela, 2015)
Und:
Obwohl Affekte für die Herrschafts- und Ungleichheitsproduktion missbraucht werden, wissen wir, dass diese auch Pfade der Überwindung solcher Verhältnisse sein können. (vgl. Penz/Sauer, 2016)

Der Kampf um das Leben und das Recht zu werden

Gemeinsam, Hand in Hand mit unzählbaren Compañeres überall auf dieser unserer Welt, beteiligen wir uns am Kampf um das Leben, um das Recht auf ein nicht gewaltvoll normiertes, beschnittenes, geordnetes, beherrschtes Leben, ein Kampf um das Recht auf Opazität, auf das nicht Durchsichtige, nicht Transparente, nicht Zuordenbare. Das Leben verlangt von uns einen Umgang mit dem Instabil der Transformation und der Opazität, mit dem immer Neuwerdenden. Im Gegensatz zu konservativen und rechtsextremen Segmenten unserer Gesellschaften, die gegenüber den Herausforderungen und stattfindenden/erkämpften Transformationen reaktionäre Antworten postulieren und verbreiten, gilt dieses Werden in konstanter Transformation und Offenheit für uns im Einklang mit vielen anderen Kämpfen als Ausgangspunkt und als Ziel: In der Migrationspolitik, in der Sprachpolitik, in der Bildungspolitik, in der Integrationspolitik usw. Wahrscheinlich könntet ihr, liebe Lesende, zahlreiche Beispiele des Versuchs auflisten, die Welt anhand festgeschraubter Normen zu beschreiben, diese normierte Beschreibung als universal zu erklären und als einzige richtige zu befehlen; der Rest soll seinen eigenen Misserfolg selbst managen. So die heutige Politik. So die Ergreifung. Die Einengung. Denken wir an das Integrationsgesetz, an die Verpflichtung zu Wertekursen und zu Werteprüfungen, eine lächerliche aber teure Maßnahme, die in ihrem eigentlichen Sinn gar nichts bringt, denn sind Werte nicht etwas, das aus gesellschaftlichen Ausverhandlungen entsteht und sich immer wieder transformiert? Denken wir an die ebenso lächerliche rechtspopulistische Idee einer Leitkultur, denken wir an die Kopplung von Sprachpolitik und Aufenthaltsrecht, denken wir an das A2-Zertifikat, das als Voraussetzung für die Verlängerung eines Visums vorgelegt werden muss. Denken wir an Re-migration, an Frontex, an Asylverfahren außerhalb der EU-Grenzen, an das Mittelmeer.

Wir durchleben ernste Krisen. Alle verschränkt und brennend, wie brennend die Sonne auf dem Stein des vertrockneten Flusses irgendwo im Globalen Süden, wie brennend unser Planet. Und das ist eine Ehre, denken wir uns in das kollektiv, gerade jetzt auf der Welt zu sein, denn es fordert uns in unserer ethischen Fähigkeit heraus, sich in Beziehung zu Anderen und zu allem in der Welt – »als eine verantwortungsbewusste Antwort einzuschreiben«.

Alle haben das Recht auf Poesie

Angesichts der zunehmenden Belagerung, der Eingriffe zur Ökonomisierung der Bildung, der herrschenden wirtschaftlichen Verwertungslogik, der Unterwerfung vom Leben unter die Logik der Finanzwelt, angesichts der Ökonomisierung der Affekte, der Privatisierung der Sozialsysteme, der Entsolidarisierung und der Korruption, angesichts all dessen um uns, in uns, all das, das im Begriff ist, die vitale und schöpferische Potenz des Lebens (Rolnik, 2023) zu unterbrechen, entschieden wir uns für die Poesie. Um »dem Namenlosen einen Namen zu geben, damit es gedacht werden kann.« (Lorde, 2019)

Seit 2019 beschäftigen wir uns mit der Entwicklung eines Poetry-based Approach2 in der Basisbildung mit migrierten und geflüchteten Frauen*. Wobei unser Interesse nicht unbedingt in der Förderung von Kreativität liegt, da diese längst zu einem verwertbaren Skill wurde, sondern vielmehr an der Ausarbeitung einer poetischen Haltung. 

Geleitet vom Ziel, »strategisch zu lernen, um intellektuell unabhängig von den hegemonialen Politiken zu werden« (Castro Varela 2015), und strategisch zu lernen, was im Sinne Spivaks »ein Lernen des Abstrakten und des Abstrahierens« (ebd.) bedeuten würde, entschieden wir uns für die Arbeit mit Poesie als einen möglichen inspirierenden und motivierenden Weg zur Förderung der utopischen und imaginativen Fähigkeiten der Lernenden und zur Übung in Abstraktion. Denn alle haben das Recht auf Poesie. Alle haben das Recht auf Opazität. Alle haben das Recht auf Abstraktion. Alle haben das Recht auf Grammatik. Denn: Wäre die Ablehnung von sich Üben in Abstraktion ein Absprechen der Fähigkeit, abstrakt zu denken? Als gelte hier die – nur selten offen ausgesprochene, doch möglicherweise versteckt eingenistete Annahme, die lernenden Migrant*innen würden nicht in der Lage sein, abstrakt zu denken? Wäre es dann eine Form der epistemischen Gewalt? 

Diese poetische Haltung, die wir anstreben, ist eingebettet in einer Konzeption der Basisbildung als kritische Bildungsarbeit, die sich dementsprechend jenseits der gegenwärtig vorherrschenden Praktiken der Ver/Messung und der verstärkten Fokussierung auf die Verwertung des Lernens im Sinne von Beschäftigungsfähigkeit verorten würde. Der Ansatz unterstützt uns vor allem dabei, Bildungsarbeit als Alternative oder als Kontrapunkt zur Ökonomisierung von Bildung und von Affekten im neoliberalen Kontext zu gestalten. Lernende werden dabei nicht als menschliche Ressourcen angesprochen (Stichwort »human capital«), sondern als Mitgestalter*innen eines partizipativen, dialogischen, transformativen und freudvollen Prozesses. Darüber hinaus verbinden wir die Entwicklung eines Poetry-Based Approach mit der Möglichkeit, Ansätze der educación popular auszudehnen und diese neu zu erfinden, wie Paulo Freire es sich gewünscht hatte. 

Und während des Gehens, des Suchens und des Schaffens durchkreuzen sich Pfade, ergeben sich Erkenntnisse, Erfahrungen und vor allem weitere Fragen. Aus der Begegnung mit den herausfordernden Worten von Gayatry Spivak werden wir zum Beispiel auf die brennende Frage nach dem Umgang mit Begehren im Rahmen der Bildungsarbeit aufmerksam. Und die Frage nach dem Wie einer gewaltfreien Umorganisierung von Begehren pulsiert latent und produktiv. Ebenso ihre Metapher des invisble mending (vgl. Castro Varella, 2007) wirkt in uns inspirierend, herausfordernd, sowie weitere zentralen Fragen hervorrufend: Wie Lernräume zu gestalten, fragen wir uns während des Gehens, die gleichzeitig ermöglichen, Verhältnisse zu analysieren, widerständige (Sprach-)Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und verschränkt damit, abstraktes/metaphorisches Denken und poetische sowie utopische Vorstellungskraft zu üben, ohne die Lernprozesse in eine von uns (Lehrenden, Kunstvermittler*innen o.ä.) vorbestimmte Richtung zu lenken bzw. ohne das Poetische im Sinne einer vorbestimmten Vorstellung von Zukunft »nützlich« machen zu wollen? 
Wie unsichtbare Fäden einweben, ohne zu wissen, wo und ob das Weben endet?
Und während des Gehens durchkreuzen sich Pfade. Wir begegnen den Worten Ailton Krenaks (2023), indigener Aktivist und Intellektueller, der uns auffordert, radikal lebendig zu sein und einzusehen, dass das Leben nicht nützlich ist. Aus der Begegnung mit den Wörtern Belchiors, »Letztes Jahr bin ich gestorben, aber dieses Jahr sterbe ich nicht«,3 entschieden wir uns, am diesjährigen queer feministischen Kampftag die Stufen am Linzer Hauptplatz mit Poesie und Forderungen zu bespielen4, »resisting and politicizing sadness and suffering« (Gago, 2020), denn wir lassen nicht zu, wie in den auf den Stufen wiedergegebenen Versen von Conceição Lima (2012) geschrieben, dass unsere Tränen der Fluch werden, der dem Korn das Keimen raubt.

Und sie, die Konservativen, die Rechtsextremen, die das Leben als Werden verunmöglichen wollen, sie sind verzweifelt, weil unsere Welten lustvoller und machtvoller als ihre enge Welt der konservativen und reaktionären Werte sind, weil Politiken der Ausgrenzung, der Demütigung, der Ausbeutung und des Todes über uns und unsere Lebendigkeit stolpern werden müssen.

 

Literatur

Castro Varela, Maria do Mar (2007): Verlernen und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns. In: Bildpunkt. Online: https://www.linksnet.de/organisation/bildpunkt

Castro Varela, Maria do Mar (2015): Strategisches Lernen. Online: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/strategisches-lernen/ 

Fineman, Stephen (2008): Introducing the Emotional Organization, in: Stephen Fineman (Hg.), The Emotional Organization. Passions and Power, Malden: Blackwell.

Gago, Verónica (2020): Feminist International. How to Change Everything. Translated by Liz Mason-Deese. London/New York, Verso, S. 5.

Krenak, Ailton (2023): Life Is Not Useful. Übers. von Pinheiro Dias, Jamille & Brostoff, Alex. Polity Press.

Lima, Conceição (2012): A dolorosa raiz do Micondó. São Paulo, Geração Editorial. 

Lorde, Audre (2019): Sister Outsider. Penguin Classics.

Penz, Otto / Sauer, Birgit (2016): Affektives Kapital. Die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben. Campus Verlag, Frankfurt/New York.

Rolnik, Suely (2023): Spheres of Insurrection. Notes on Decolonizing the Unconscious. Polity Press.

Rufino, Luis (2021): Paulo Freire: O caboclo atira os seus versos de liberdade. Online: http://suplementopernambuco.com.br/ capa/2645-paulo-freire-o-caboclo-atira-os-seus-versos-de-liberdade.html?fbclid=IwAR25DJ0G6rpkf6rQOn6ixX1cqT-D7WaF4l_ QSatniGCorwcI92hNWSSwI2w [Stand: 2022-08-26]

Safatle, Vladimir (2024): A esquerda se tornou uma espécie de gestora de crises do capitalismo. Online: https://www.ihu.unisinos.br/categorias/159-entrevistas/638231-a-esquerda-se-tornou-uma-especie-de-gestora-de-crises-do-capitalismo-entrevista-especial-com-vladimir-safatle

[1] Wir arbeiten in der Erwachsenenbildung mit migrierten und geflüchteten Frauen* in den Bereichen Basisbildung, Nachholen des Pflichtschulabschlusses und Vorbereitung auf dem Weg zur höheren Bildung. Wir führen zudem Entwicklungs- und Forschungsprojekte durch und sind auch in der Weiterbildung von Lehrenden tätig. www.das-kollektiv.at
[2] Wir führten zudem das von Erasmus+ finanzierte Projekt POETA (2021-2023) durch. Das Projekt wurde von der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz – Landesarbeitsgemeinschaft e.V. koordiniert. Mehr dazu unter: http://project-poeta.com. Weitere Textbeiträge zum Thema: »POETA – ein poetischer Ansatz in der Basisbildung« unter https://erwachsenenbildung.at/magazin/ausgabe-47/17685-poeta-ein-poetischer-ansatz-in-der-basisbildung.php und »Protokolle einer Idee« unter https://interalia.queerstudies.pl/protocolos/
[3] Die Sätze bilden den Refrain des Liedes Sujeito de Sorte, von Belchior. Das Lied aus dem Jahr 1973 (Militärdiktatur in Brasilien) wird aktuell auch bei jüngeren Generationen immer bekannter. Insbesondere nach 2019, als es in Emicidas Film AmarElo von Majur und Pabllo Vittar, interpretiert wurde. Das Lied wurde inzwischen zu einer Hymne im Kampf marginalisierter Gruppen. Dessen Refrain fungierte als Motto (als Kodierung, wie bei Paulo Freire beschrieben) im kollektiven Prozess der Gestaltung der Text-Installation »Wir wollen uns lebend!« auf den Stufen am Hauptplatz.
[4] Die Beschriftung der Stufen geschah in Zusammenarbeit mit maiz - Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen, VIMÖ – Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich und YOUnited - Young & Queer. Die Aktion fand im Rahmen der Ausstellung »Wir arbeiten dran« statt: https://fiftitu.at/de/projekte/wir-arbeiten-dran