Ein hegemonialer Staatsapparat – zur Frage der Beamten

Eine Groll-Geschichte von Erwin Riess.

Er möge ihn an der Donaulände zu Grein im Strudengau treffen, hatte Groll zum Dozenten gesagt. Es gebe dort ein Kaffeehaus, von dessen Terrasse sich eine großartige Aussicht auf den Fluß eröffnet. Und in den ersten Stock führe die schönste Rampe nördlich der Donau.

»Immer wieder führen Sie Klage, daß Österreich ein Land ist, dessen Bewohner zwar stolz auf den Rechtsstaat sind, daß aber das Fehlhandeln oder Nichthandeln vieler Staatsdiener eine weit verbreitete Erscheinung ist. Die Praxis des Rechtsstaats kann mit seiner schriftlichen Grundlegung nicht Schritt halten«, eröffnete Herr Groll das Gespräch. 

»Man ist hierzulande gern auf das stolz, was es nicht gibt oder nur in unzureichendem Ausmaß«, erwiderte der Dozent. »Denken Sie nur an die viel besungene Gemütlichkeit zwischen Alpen und Donau.«

»Eine Schimäre, da haben Sie recht. Den Österreichern kann man vieles nachweisen und manches unterstellen. Aber Gemütlichkeit? Die finde ich nicht im Portfolio und in der Kanzleiordnung erst recht nicht. Aber ich sehe sehr wohl, daß sich seit dem Untergang der Monarchie unter den Staatsdienern eine ausgeprägte ideologische Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Herrschaft breit gemacht hat.«

»Ein zutreffender Befund«, entgegnete der Dozent. »Das josephinische Beamtentum im ausklingenden 18. Jahrhundert war dagegen ein revolutionärer Apparat. Der Staat garantierte sowohl einen fixen Arbeitsplatz samt Pensionssicherung als auch den Schutz vor mächtigen Interventen. Derart bekamen die Beamten die Möglichkeit, weitgehend unabhängig von Kirche und Adel zu arbeiten. Einst war das eine Garantie des Laizismus, der Trennung von Kirche und Staat. Dieses Problem stellt sich gottseidank nicht mehr.«

»Gottseidank! Sie sagen es. Kein Wunder, daß sich unter den führenden Beamten nicht wenige Freimaurer befanden«, meinte 
Herr Groll. 

»Das soll es heute auch noch geben«, bekräftigte sein Freund, der Dozent. »In überschaubaren Maßen. Jedenfalls stammt der Rest des guten Rufs, den Österreichs Beamte in der Bevölkerung nach wie vor genießen, aus dieser Zeit.«

»Tatsächlich ist es heutzutage mit der Unabhängigkeit der Beamten-schaft von Parteien und Wirtschaftsinteressen nicht weit her«, ergänzte Groll. Was sich manche Beamte und Beamtinnen während der Pandemiezeit an Arbeitsverweigerung, Boykott und offener Bekämpfung der pandemiebedingten Regelungen herausnahmen, war im Österreich der Zweiten Republik neu.«

»Der Fall der bedauernswerten Ärztin, die von Polizei, Sicherheitsbe-hörden und der Ärztekammer verraten und verkauft wurde, weil diese gegen die Mord- und Gewaltdrohungen nicht einschritten, so daß sie sich in ihrer Verzweiflung das Leben nahm und damit einen letzten Hilferuf absetzte, hat landesweit die Runde gemacht. Kurze Zeit war man erschüttert, dann ging man rasch wieder zur Tagesordnung über. Zu sensibel, zu aufgeregt, zu missionarisch sei sie halt gewesen, die Gute. Sie hat indes nur die offizielle Regierungslinie in der Pandemie vertreten. Was sie nicht bedachte, war aber der Umstand, daß gerade in Oberösterreich die rechten und rechtsextremen Gruppen der Bevölkerung in der Pandemiefrage hegemonial geworden sind. Wissenschaftsfeindlichkeit, Esoterik und Verschwörungstheorien sind eine toxische Mischung; die auch im Sicherheitsapparat ihre Anhänger gefunden hat«, fügte der Dozent hinzu. »Unter den Polizisten und Sicherheitsbeamten sind viele, die strikte Gegner der Impfung und weiterer Schutzmaßnahmen sind. Der Kontakt von Corona-Demonstranten und begleitenden Polizisten wird von vielen Augenzeugen als durchaus amikal beschrieben.«


»Bei Licht betrachtet ließen die Behörden die bedrängte Ärztin auflaufen«, sagte Groll bitter. »Statt Garanten und Stützen des staatlichen Gesundheits- und Sicherheitssystems zu sein, machten diese Beamten den Ultrarechten die Mauer. Man muß sich nur die Ergebnisse der Personalvertretungswahlen ansehen, dann hat man eine Erklärung. Die FPÖ hält gerade in Oberösterreich innerhalb der Sicherheitsbehörden starke Positionen. FPÖ-Chef Haimbuchner behauptet, die FPÖ stehe im Land besser da als vor dreißig Jahren.« 

Herr Groll hielt kurz inne. »Da fällt mir ein: Wußten Sie, daß Haimbuchner Ernst von Salomon als seinen Lieblingsdichter bezeichnet, jenen Salomon, der maßgeblich an der Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau vor genau hundert Jahren beteiligt war. Salomon ist eine Schlüsselfigur der rechtsextremen Freikorpsbewegung.«

Der Dozent schüttelte den Kopf. Er wisse, daß das Kunstverständnis vieler FPÖ-Politiker nicht über das Dritte Reich hinausreiche, daß es bei Haimbuchner auch so ist, wundere ihn nicht. »Jedenfalls kommt das Nicht-Vorgehen der Polizei im Fall Kellermayr einer Dienstverweigerung gleich. Aber wo kein Kläger …«

»Sie findet eine Begründung in der österreichischen Rechtsordnung«, ergänzte Groll. »So ist zwar eine grenzüberschreitende Ehrenbe-leidigung verfolgbar, eine ‚gefährliche Drohung‘, wie sie offensichtlich von einem deutschen Bürger mit zunehmender Aggressivität gegen die Ärztin immer wieder abgesetzt wurde, aber nicht. Ich bleibe dabei: Das Verhalten der Behörden war im Fall der Dr. Kellermayr niederträchtig und feig. Ich sehe die feixenden Grimassen der Beamten vor mir, wenn die Ärztin Schutz forderte und ich höre sie über die Frau reden und das nicht eben höflich und unter Wahrung des zivilisatorischen Minimums. Mittlerweile hat der Suizid der Ärztin die Lage aber verändert. Die Staatsanwaltschaft Wels ermittelt wieder.«

»Und so wurde aus einem Land, das vor nicht langer Zeit umfassende Maßnahmen für die Gefährdetsten ergriff, ein Land, in dem eben diese vulnerablen Menschen dem Virus schutzlos ausgeliefert werden«, zog der Dozent ein Fazit. »Die Kapitulation vor dem Virus und die Überantwortung des Schutzes der Vulnerablen an den Herrgott ist der Gipfel des Zynismus. Der dritte grüne Gesundheitsminister erweist sich als die endgültige Krönung grüner Epidemiepolitik: die Kapitulation auf allen Ebenen. Ich bin schon gespannt, was er im Herbst unternehmen wird, wenn immer mehr Menschen an den Arbeitsstellen ausfallen und die Spitäler wieder triagieren müssen.«

»Es wird haarsträubend sein. Das ist das Einzige, was jetzt dazu gesagt werden kann. Aber lassen Sie uns zur Rolle der Beamten im Staat zurückkehren. Ich behaupte, daß die einst fortschrittliche Rolle der höheren Beamtenschaft sich in den letzten Jahrzehnten in ihr Gegenteil gedreht hat. Nehmen Sie nur die Beamtengewerkschaft und ihre Tochter, die Lehrergewerkschaft, das sind die stärksten aller Gewerkschaften im Land. Wenn ihnen eine Entwicklung nicht passt, blockieren sie, bis der betreffende Vorstoß von der Politik zurückgezogen wird. Unbeirrt gehen sie ihrer beamteten Wege, ich denke dabei aber nicht nur an Fragen der Entlohnung, der Pensionen, des Versetzungsschutzes, ich denke auch an das Instrument Disziplinar-kommission, das wie ein starker Filter nahezu alle Verfehlungen von Beamten ungesühnt oder bei lächerlich geringen Strafen beläßt. Ich erinnere mich an einen Fall im ehemaligen Bautenministerium (welches später mit dem Handelsministerium zum Wirtschaftsministerium verschmolzen wurde). In den 1980er Jahren erlebte der Autobahnbau in Österreich eine Blüte, die genehmigenden Ministerialbeamten waren umworbene und hochangesehene Personen. Mit schöner Regelmäßigkeit gab es von den Baufirmen, die um die Vergabe eines Bauloses wetteiferten, für die Beamten Einladungen zu den Salzburger Festspielen, in Nobelrestaurants oder zu Schiurlauben am Arlberg oder in Kitzbühel. Manchmal wurden auch Wintergärten oder ganze Hausumbauten in den Häusern der hohen Staatsdiener ‚gefördert‘. Es kursierten Listen, in denen die Umworbenen ihre nicht unbescheidenen Wünsche bekanntgeben konnten. Man ahnt kaum, wie phantasievoll die Begünstigten dabei zu Werke gingen. Nicht selten kam es vor, daß jene Beamten, die den stärksten Einfluß auf die Vergaben hatten, zu Weihnachten einen neuen Mercedes vor dem Eigenheim vorfanden, natürlich mit den vorher angegebenen Spezifikationen. Bei der Vergabe von Baulosen geht es um Milliardenbeträge, da sind derartige Zuwendungen zur politischen Landschaftspflege Peanuts. Auch ausgedehnte Incentivreisen mit beruflichem Fortbildungscharakter zählten zu den kleinen Aufmerksamkeiten. So unternahm eine größere Reisegruppe bestehend aus Managern der Baukonzerne und Beamten des Ministeriums – samt Gattinnen – eine sechswöchige Studienreise nach Südamerika, die den Wissenshungrigen viele Naturschönheiten des Kontinents nahebrachte. Der Charakter einer Studienreise wurde dadurch gewahrt, daß man einen natürlichen Asphaltsee auf Trinidad und Tobago besuchte und dort eine Stunde verweilte. Die Sache gelangte an die Öffentlichkeit, eine beamtete Disziplinarkommission nahm sich des Falles an. Sie stellten keinen gravierenden Verstoß der begünstigten Kollegen fest, es kam nur zu gelinden Mitteln wie Ermahnungen und Belehrungen.«

Groll wurde auf ein bergwärts fahrendes ukrainisches Schubschiff aufmerksam. Die »Poltawa« hatte zwei Schüttgutkähne vorgespannt.
»Getreide aus der Ukraine«, sagte der Dozent.

Groll nickte.

»Der Mensch und sein Beruf«: »Der Beamte«, Zeichnung von Peter Johann Nepomuk Geiger, Litographie von C.Kunz, 1835–1841 (Entstehung)

(Bild: Wien Museum, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/154713)