Wasserläufer auf Netzwerken

Davide Bevilacqua (servus.at) plädiert dafür, die Oberflächenspannung von Plattformen zu durchbrechen, um tiefere Netzwerke zu erreichen.

“It's not an exaggeration to say that connecting your computers to a network will change your life. Within just a few days or weeks, you will begin to think about everything connected to the network–other computers, printers, game consoles, the Internet, and anything else–as an extension of your own keyboard and monitor. And shortly after that, you will discover new opportunities and services that a network makes possible.” (Ross 2009, 2)

Zwei Computer, die in einem Netzwerk miteinander verbunden sind, gehören zu den zentralen Konzepten des Internets. Dem:der Durchschnittsnutzer:in fällt beim Gedanken an das Internet jedoch nur selten ein, dass der Computer einer anderen Person an einem anderen Ort besucht wird. Wir denken eher an den Besuch ätherischer Orte mit eigenen Architekturen, Eigenschaften und Verhaltensweisen. Websites werden zu Räumen, Orten und Plattformen, alles Dinge, die auf dem infrastrukturellen Prinzip eines Servers beruhen, der Inhalte bereitstellt. Doch meist wird diese zugrunde liegende Struktur übersehen und vergessen, auch von fortgeschrittenen Nutzer:innen. Wie kommt es dazu? Ist es überhaupt möglich, über die Oberfläche hinauszugehen und die darunter liegenden Schichten des Netzes zu erreichen? Und wenn wir es schaffen, dorthin zu gelangen, wie können wir dann etwas an die Oberfläche zurückbringen?

Wenn ich über Computernetzwerke nachdenke, erinnere ich mich gewöhnlich an die Beschreibung, wie eine Systemadministratorin Netzwerke sieht, die ich vor einigen Jahren von Barbara Eder gehört habe. Das Internet als Oberfläche ist für die Benutzer:innen. Für jemanden, der Server und Maschinen verwaltet, hört das Internet nicht beim Webbrowser auf. Es geht tiefer und umfasst die Infrastruktur, die die Verbindung zwischen dem Computer des/der Benutzer:in und dem Computer, der einen angeforderten Inhalt bereitstellt, herstellt. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um einen UNIX-Rechner, bei dem alles - von der Festplatte über die Ordner bis hin zu USB-Geräten - als Datei adressierbar ist. Hier ist in der Tat alles in einem Netzwerk eine Erweiterung von Tastatur und Monitor, wo die Schichten, die das Netzwerk bilden, als ein verschachteltes System von Unterordnern und tieferen Schichten um einen Kern herum auftauchen.

 

Guido Segni, Next Cloud Residency März 2021

 

Das Computernetzwerk ist nicht unbedingt mit der Auflistung aller miteinander verbundenen Maschinen vollständig beschrieben. Möglicherweise müssen wir das Netz um andere Systeme von Objekten erweitern, die technisch nicht mit ihm verbunden sind, es aber dennoch beeinflussen, wie z. B. die Lizenzen und Abhängigkeiten, denen Datenpakete, die durch die Software- und Hardwarestapel reisen, ausgesetzt sind. Auch Internetgesetze und geopolitische Interessen spielen eine Rolle dabei, was ein:e Nutzer:in online tun kann. Und schließlich könnte die Frage, wo das Netz endet, angesichts der großen Reichweite der sozialen Medien und der Mediengeologien auf der einen Seite mit "jeder von uns" beantwortet werden, und auf der anderen Seite mit dem Hinweis darauf, wo die Metallerze für die Komponenten unserer Geräte abgebaut werden, weit weg von uns, in verschmutzten Umgebungen, wo ausgebeutete Menschen für unser Netzwerk arbeiten.

Hier geraten wir in eine Art Gedankenschleife: Wir versuchen, die Tiefe von Netzen zu beschreiben und fügen am Ende ständig weitere Netze von Konzepten hinzu. Aber wo ist tief genug?

Dies ist eine weitere Eigenschaft von Netzen: Sie wollen erweitert werden. Wir können immer einen Knoten ins Netzwerk einfügen oder einen anderen mit einem weiteren zu einem größeren Netz von Netzen verbinden und so etwas wie ein Internet schaffen. Die Frage ist, was mit all dem geschieht, wenn es vernetzt wird. Bereits 2013 schrieb Ulises Ali Mejias in seinem Buch "Off the Network" über den Nodozentrismus, den er als die Logik von (digitalen) Netzwerken beschreibt, ständig zu wachsen, indem sie alles außerhalb ihrer selbst aufnehmen und zu einem Knoten des Netzwerks werden. Er konzentriert sich auf soziale Netzwerke, in denen soziale Dynamiken als Knotenpunkte abgebildet werden, aber wir könnten diese relationale Abbildung auch im Bereich der KI sehen, zum Beispiel in linguistischen Datensätzen, die verwendet werden, um ein Modell zur Übersetzung zwischen Sprachen zu trainieren.

Der Nodozentrismus wendet das Modell eines Netzwerks auf alles an, was noch nicht in einem Knotenformat vorliegt. Dadurch wird die Realität nicht nur so umgestaltet, dass sie maschinenlesbar wird und die Qualitäten, die nicht abgebildet werden können, verloren gehen – etwas, das nach Ansicht von James Bridle zum gegenwärtigen Neuen Dunklen Zeitalter beiträgt -, sondern es werden auch Trennungen und Hierarchien geschaffen zwischen dem, was im Netzwerk und somit sichtbar ist, und dem, was außerhalb des Netzwerks ist und unsichtbar bleibt. Der Abstand zwischen den Knoten des Netzes ist messbar, aber der Abstand zwischen dem, was im Netz ist, und dem, was nicht im Netz ist, ist unendlich. Es gibt im Grunde nichts außerhalb des Netzes, das mit dem Inneren des Netzes, wo die Dinge geschehen, in Beziehung stehen könnte. Die Exklusivität des Netzwerks macht es immer schwieriger, sich ihm zu verweigern, und setzt die Zentralität des Netzwerks als "sanften Zwang" durch. Wenn du ein Künstler bist und kein Instagram-Profil hast, bist du niemand – jetzt hat sogar der sehr kritische Verein servus.at eines 😱

Fast zehn Jahre sind seit Mejias Buch vergangen, das zur Zeit des Arabischen Frühlings geschrieben wurde und in dem es auch darum ging, wie es soziale Medien politischen Bewegungen ermöglichten, sich zu organisieren und zu versuchen, autokratische Regimes im Nahen Osten zu verändern. Inzwischen haben sich die sozialen Medien eher als konservativ denn als progressiv erwiesen, und die Folgen der nodozentrischen Logik durchdringen immer mehr Aspekte unseres Lebens. Digitale Werkzeuge wurden ins Internet verlagert und verwandelten sich dann in eine Art Social-Media-Plattform. Alles wird in einem sozialen Umfeld auf einer Ein-Seiten-Website angezeigt, von Arbeitsbeziehungen bis hin zur Sportmessung. Während der Pandemie erlebten wir die Folgen dieser Internetabhängigkeit, die durch spielerische Benutzeroberflächen mit endlosen Scroll-Routinen sowie durch Software-Suiten erzeugt wurde, die in eigenen vernetzten Ökosystemen entwickelt wurden, um uns darin gefangen zu halten und gegenüber den Veränderungen der Benutzeroberfläche machtlos zu machen. Da all diese Tools vernetzt sind und größtenteils auf einer Logik der sozialen Medien basieren, wurden schnell neue soziale Standards für Plattformen geschaffen, auf denen "jeder sein muss", die nun ganze Lebensbereiche dominieren und von denen so viele Menschen abhängig sind.

Auch wenn wir uns des negativen Einflusses sehr bewusst sind, machen wir trotzdem mit. Um es mit den Worten von Geert Lovink zu sagen, wir stecken auf der Plattform fest, an einem Punkt, an dem der Aufstieg der Plattform eine Erklärung für das Verschwinden der Diskussion über Netzwerke ist. “Platforms capture users in a very obvious way. Snared in this walled garden, users no longer remain at large on the network. Platforms thus remove the ambiguity and open-endedness of the network.” (Lovink 2022, 56f.) Es scheint an Vorstellungskraft für ein anderes Web zu mangeln, das dringender denn je angedacht werden muss. Die von Lovink vorgeschlagenen sechs Schritte schlagen die Entwicklung einer kollektiven Bewegung vor, die daran interessiert ist, die Monopolplattformen herauszufordern und zu brechen, die Kabelinfrastruktur zu sozialisieren und – ja – das Web vielleicht zu re-dezentralisieren, “bring servers back to he people, the villages, the neighborhoods, and the schools” (ibid., 216), um endlich globale Dynamiken zu überdenken, um mehr Raum für lokale Aktionen zu schaffen.

Als ich mir den Unterschied zwischen der Höhe und der Tiefe von Netzwerken vorstellte, begann ich, über die Metapher der Plattformtektonik nachzudenken. Bilder vom Internet als Territorium, in dem digitale Plattformen als Inseln, Flüsse, Ebenen oder Berge dargestellt werden, sind weit verbreitet, aber sie zeigen nur selten, was unter der Kruste des Internets passiert. Dort könnten wir Kontinente und Netzplatten sehen, die auf einem Mantel aus Infrastruktur schwimmen. Die Plattformen bewegen sich langsam und pressen sich ineinander, schaffen neue Berge oder weichen voneinander ab. Aber sie tun es aufgrund des Magmas der zugrunde liegenden Netzwerke. In all dem sind wir Nutzer wie Wasserläufer, die dank der Oberflächenspannung mit ihren winzigen Beinen auf der Oberfläche des Netzes schwimmen. Wir können auf den Oberflächen fließen, aber wir können uns nicht vorstellen, was unter uns ist.

Wie kann man eine tektonische Revolution der Plattformen einleiten, wenn wir an die Ketten der von uns verwendeten Werkzeuge gebunden sind? Bei servus hatten wir kürzlich einige Diskussionen darüber. Wir haben uns dem Programm der NØ SCHOOL NEVERS 2022 angeschlossen, das von Dasha Ilina und Benjamin Gaulon organisiert wurde.1

Dort boten wir ein Workshop-Gespräch über digitale Workflows und selbst gehostete Infrastrukturen an, bei dem viele dieser Themen mit den Teilnehmer:innen zur Sprache kamen.

Wir erkannten, dass Workflows und Self-Hosting zwei komplementäre Seiten der Servus-Praxis sind, die immer zusammen leben. Im Workshop haben wir einen Moment geschaffen, um beides zu vertiefen, da wir der Meinung sind, dass die Kenntnisse über die Internet-Infrastruktur – das grundlegende Verständnis darüber, wie das Internet funktioniert und was ein Server sein kann – grundlegend für die Vorstellung eines:einer jeden sind, was er oder sie im Internet tun kann. Um die Plattform in ihrer Gesamtheit zu schwächen, haben wir versucht, die Bereiche zu definieren, in denen Veränderungen möglich sind, und sind dabei der Logik des geringsten Widerstands gefolgt - man ändert das, was am wenigsten weh tut. In dem Workshop wurden die Teilnehmer:innen gefragt, welches Werkzeug mit geringem Aufwand geändert werden könnte, und es wurde ein alternatives Werkzeug vorgeschlagen.

Wir haben gesehen, dass sich so ziemlich jeder der nicht-nachhaltigen Teile des Internets bewusst ist und sich kritisch damit auseinandersetzt, aber wenn es darum geht, die von nicht-nachhaltigen, extraktiven Anbietern angebotenen Tools tatsächlich aufzugeben, steigt die Angst vor dem Verlassen sicherer Räume exponentiell bis hin zu einer Lähmung. Die sozialen Bindungen von Software-Suiten, die von den Menschen als Standards bei der Zusammenarbeit in bestimmten Industriezweigen angenommen werden, werden mit der zwischenmenschlichen Kommunikationsebene kombiniert, wie z. B. der Familien-Chatgruppe oder dem Geschehen auf einer proprietären Plattform, weil "jeder das Tool hat". Auf einige dieser Tools müssen wir warten, wenn wir nicht in Frustration und in der Position des zufälligen Administrators der Gemeinschaftsinfrastruktur enden wollen.

Eine weitere Reibung ist die Angst, einen kompletten Arbeitsablauf, der sich über Jahre hinweg entwickelt hat, wegen dieser ideologischen Turbulenzen ändern zu müssen. Viele sind sich über die Probleme einig, die eine bestimmte Software als Standard mit sich bringt, sind aber an ein bestimmtes Werkzeug gebunden und fürchten sich vor dem Zeitaufwand, den ein Wechsel mit sich bringen würde. Und abgesehen von der Schnittstelle werden mit Sicherheit einige Funktionen fehlen, die die Konstruktion neuer Workarounds erfordern, und das alles zu einem Zeitpunkt, an dem niemand Zeit hat. Jede Diskussion über Netzwerke sollte diese Befürchtungen berücksichtigen, denn sie werden die Reibungen sein, die, wenn sie nicht gelöst werden, in dem Moment wieder auftauchen, in dem GAFAM2 wirklich aufgegeben wird.

Zu diesem Zeitpunkt sollte sich die Strategie nur noch auf einen ersten Schritt konzentrieren: das Image der Unfehlbarkeit und des Zusammenhalts der Plattform aufzubrechen, die Gründe, warum alle immer noch an ihr festhalten. Die Arbeit an winzigen Änderungen, die in der Gesamtlandschaft keine große Rolle spielen, aber Alternativen zu etwas Geringfügigem bieten, kann immer noch nützlich sein, weil sie den Zusammenhalt der Plattform untergraben werden. Erst wenn die große Plattform kaputt ist, ist ein Ersatz für die grundlegenden 2-3 Funktionen möglich. Wenn wir immer noch darüber diskutieren, einen vollwertigen, aber nachhaltigeren Klon der Google-Suite ohne deren Infrastruktur zu erstellen, sind stecken wir selbst auf der Plattform fest.

Literatur

Lovink G, Stuck on the Platform. Reclaiming the Internet, Valiz: Amsterdam, 2022
Mejias U, Off the Network. Disrupting the Digital World, University of Minnesota Press, 2013
Ross J, Network know-how: an essential guide for the accidental admin, San Francisco: No Starch Press, 2009

 

Davide Bevilacqua & Onur Olgaç (servus.at)

Conversation: Challenging Workflows & Exploring Self-Hosting: 1. Stock Foyer / Sa, 11-13 Uhr
Self-Hosting Server: Erdgeschoss / Durchgehend

Seit über 25 Jahren betreibt servus.at eine selbstgehostete Infrastruktur und hinterfragt die technologischen Schichten unter der Oberfläche des Webs. Mainstream-Plattformen zu kritisieren und das Web neu zu denken, bedeutet, diese Schichten zu bedenken und zu bearbeiten. Es erfordert die Aneignung und Gestaltung tieferer Schichten im Netzwerk, um Künstlern und Aktivisten zuverlässige und unabhängige Werkzeuge zur Verfügung zu stellen.

In dieser Session bietet das servus.at-Team eine Präsentation mit Diskussion über die Praktiken, die Kulturschaffende, sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen, dazu ermutigen sollen, einen F/LOSS-first & Anti-GAFAM-Workflow aufzubauen.
Wie kann man gewohnte Arbeitsabläufe aufgeben und einen nachhaltigeren Weg der Zusammenarbeit mit anderen einschlagen? Was sind die Schwierigkeiten, die Abhängigkeiten und die schlechten alten Gewohnheiten, die uns aufhalten, dies zu tun? Wo soll man anfangen?

Das Gespräch wird bereichert durch die Präsentation eines Proof-of-Concept einer Community-Infrastruktur, die auf einem veralteten, aber noch funktionierenden Stück Hardware läuft, sowie durch einen Überblick über Self-Hosting-Communities und F/LOSS-Praktiken und -Philosophien.

 

1https://noschoolnevers.com/

2Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft

Bild: Cory (CC BY-SA 2.1 JP)