Voices im/vom Radio. To Imagine, to Make Manifest.

Über das Sommercamp Radiotopia – a rehearsal of spektrum-takeover reflektiert Kate Donovan und meint: Es gibt so viel zu übernehmen. So viel, was man sich anders vorstellen kann.

Ich erinnere mich manchmal an ein Spiel, das Scramble (Anm.: drängeln, raufen) heißt.1 Es wurde von pubertierenden Jungen auf dem Schulhof meiner Kindheit gespielt. Jemand rief scramble! während dieser eine Kupfermünze warf. Die Jungen stürzten sich darauf und türmten sich zu einem großen Haufen aus Schuhen und Uniform, Fäusten, Ellbogen und Knien. Am Ende konnte nur einer die Münze bekommen (und anscheinend war es auch derjenige, der den größten Tritt in den Hintern bekam… obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das zu meiner Analogie passt, es sei denn, es bedeutet, dass die Werfer nicht das Beste für die Empfänger im Sinn haben). Manchmal wurde dem Gewinner die Münze aus der Hand gerissen und wieder auf den Haufen geworfen.

Sowohl die Radiogeschichte als auch die Zuweisung von Funkfrequenzen erinnern mich ein wenig an Scramble.

Die westliche Geschichte der Funktechnik erzählt von den erwachsenen Männern, die sich mit Händen und Füßen um die ersten Patente streiten: Nur einer kann sie bekommen. Und so ist es eine Geschichte einzigartiger Gewinner, die sich durch die gesamte Radiogeschichte zieht (man denke nur an die Fortschritte, die durch die Akkreditierung von Marconi, Fessenden, Edison usw. erzielt wurden) und durch die Radioterminologie fortgeschrieben wird (man denke nur an den Morsecode, die Hertz-Zyklen pro Sekunde, die Schumann-Resonanzen, die Van-Allen-Gürtel...). Doch keine dieser Errungenschaften wurde jemals allein erreicht, es gibt immer versteckte Arbeit. Oder, wie Lorraine Code sagte, Wissen entsteht nie allein, sondern immer im Dialog mit anderen.2

Ich frage mich, ob die klassische Erzählung von der Geschichte des Radios der Realität nicht gerecht wird, ob es der Akt der Historisierung war, der sie vereinfacht hat, oder ob der Kapitalismus die Benennung einer singulären Einheit diktiert hat. Ich frage mich, ob es in Wirklichkeit einen Sinn für Großzügigkeit gab, ein Teilen von Wissen und Ideen, ein Zusammenwirken. Andererseits ist dieses Gerangel vielleicht sogar eine recht bezeichnende Analogie, vielleicht wurden mehr als Ellbogen und Fäuste eingesetzt, um das Recht auf Eigentum zu erlangen. 

Die Lücken, die durch den Akt des Historisierens entstehen, führen zu solchen Überlegungen.

Ich habe viel Zeit damit verbracht, dem Radiospektrum zuzuhören, auch dem Amateurfunkband. Inmitten des Rauschens und der Störgeräusche klingt es normalerweise wie der Klang einer Gruppe von Männern* einer bestimmten Bevölkerungsgruppe im Hinterzimmer einer Bar, die über Funkgeräte plaudern, was es zum Abendessen gibt und in Erinnerungen an frühere Zeiten des Funkverkehrs schwelgen. 

An Bord der MS Stubnitz während des Radiotopia-Sommercamps in Hamburg probierten einige von uns das 11m-Band aus, einen Teil des Spektrums, in dem auch nicht lizenzierte Hobbyfunker legal senden können. Wir konnten zwei Männer hören, die mit englischem Akzent sprachen. Wir waren nicht sicher, ob sie unseren Ruf hören konnten, aber wir versuchten es trotzdem. Auf unsere weiblichen* Stimmen gab es keine Antwort. Wir erklärten, dass wir von Bord der MS Stubnitz in Hamburg aus sendeten, und wurden plötzlich mit »oo-oooh!« verspottet; es schien, als könnten sie uns hören, aber sie wollten uns nicht direkt antworten. Wir versuchten es weiter, und sie ignorierten uns noch mehr. Später, als wir immer noch lauschten, hörten wir sie lachen und »Hello Germany!« rufen. Es war dasselbe Gefühl, als ob man ins Hinterzimmer der Bar geht, versucht, ein Gespräch zu führen, und gleichzeitig verspottet und ignoriert wird. Das ist nicht ungewöhnlich, wie viele Leute festgestellt haben,3 und die fortbestehende kulturelle Tradition, Frauen* als YLs—Young Ladies (und natürlich das binäre Gegenteil von OM—Old Men) zu bezeichnen, ist ein Zeichen für die sozialen Hierarchien, die im Spiel sind. In Bezug auf die menschliche Stimme wurde argumentiert, dass die Funktechnologie für die Akustik der männlichen* Stimme konzipiert und entwickelt wurde und weibliche* Stimmen buchstäblich »schrill« macht, was natürlich nicht hilfreich ist.4

Obwohl dieses Band theoretisch einer der offensten Bereiche des Funkspektrums ist, fühlt es sich nicht wie ein offener Raum an, der für jeden mit dem technischen Know-how und der entsprechenden Ausrüstung zugänglich ist. Es gibt eine unausgesprochene, auf »Geschichte« und Tradition beruhende Regel darüber, wer an Hinterzimmergesprächen teilnehmen darf, also, wer Scramble spielen kann. Und so wie der Amateurfunk nur ein Teil des Funkspektrums ist, ist auch die Geschlechterfrage nur ein Teil der Problematik des Funks.

Es gibt so viel zu ‚übernehmen‘. So viel, was man sich anders vorstellen kann.

Eine meiner Lieblingspersönlichkeiten der Radiogeschichte ist Vera Wyse Munro (1897 - 1966), deren Leben und Werk von Celeste Oram beleuchtet wurde. Oram verortet Munros schöpferische Tätigkeit mit dem Medium in der Technologiegeschichte der frühen Telegrafie und des Radios, zusammen mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die die Rollen von Männern und Frauen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs bestimmten, und der nationalen Geschichte des neuseeländischen Rundfunks in einem internationalen Kriegskontext. 

Mir gefällt, dass Munro zugehört hat, sie hat aufmerksam und dauerhaft auf die Feinheiten und Delikatessen des Radiorauschens geachtet, auf die Geräusche des Radios als Beweis für die Übertragung im Verhältnis zu den atmosphärischen Bedingungen, zu Topologien, zu bestimmten Raumzeiten. Sie benutzte die Interpunktion des Morsecodes, um Vogelstimmen in geheimen Übertragungen zu imitieren. Sie spielte auf einer selbstgebauten Geige, um die statischen Klänge des Radios zu imitieren und zu vervollständigen. Sie nutzte die Übertragungen, um mit anderen, die weit entfernt waren, zu improvisieren; sie machte sich die Idee der sofortigen Zusammenarbeit über große Entfernungen zu eigen, die die Funktechnologie damals zum ersten Mal ermöglichte. Sie brachte Hunderte von Funkamateuren zusammen, um an der Skywave Symphony mitzuwirken.5 

Und sie übertrug musikalische Improvisationen, die mit dem ersten Satelliten, dem Sputnik, gemacht wurden.    

Die Geschichte von Vera Wyse Munro ist bedeutsam, weil sie imaginiert ist6 und diese Imagination Lücken aufzeigt. Sie deckt Lücken in der Geschichte auf, und sie deckt Lücken in der Amateurfunkpraxis auf, insbesondere als kreativ, kooperativ und offen. Sie stellt sich eine vielfältigere - eine andere - Art vor, Radio und Radiogeschichte zu machen, was die Möglichkeiten für eine andere Art zu denken und Radio zu machen impliziert oder eröffnet.

Diese Vorstellung ist eine Art von Übernahme, eine Form von Piraterie, ein Signal-Störsender.

Da sich das EM-Spektrum mit Übertragungen füllt und als endliche Ressource erkannt wird, wird es weiter aufgeteilt und verramscht – scramble!–, während Technologien entwickelt werden, um mehr Signale in das Spektrum zu pressen. Während Radiotopia haben wir uns gefragt, wie es wäre, wenn ein Teil des Spektrums für künstlerische/kreative Nutzung zugewiesen würde.7 Da es unwahrscheinlich ist, dass dies jemals geschieht, mussten wir uns eine Art »Übernahme« vorstellen. Vielleicht geht es bei der Übernahme auch darum, die Spielregeln zu ändern: Wie können wir die Übertragung und das Funkspektrum außerhalb des Scramble-Spiels betrachten? Wie können wir den Schauplatz, die Regeln und die Teilnehmer des Spiels verändern? Und wie kann man diesen Akt der »Übernahme« benennen und gestalten, wie kann man mit der Notwendigkeit umgehen, ohne auf koloniale Terminologien zurückzugreifen? Die Übernahme, der Take-over, ist eine Art von Piraterie, wobei Piraterie trotz ihrer engen Verbindung zum Radio eine inoffizielle oder verbotene Nutzung impliziert. (Unser Gegenargument könnte lauten: »Piraterie ist ein Akt des Diebstahls, aber wie bei der Frage der Aneignung hängt die Ethik davon ab, von wem man stiehlt« (Sawchuk 1994: 215). 

Übernehmen heißt besetzen, sich Gehör verschaffen.

Ausgehend von der Frage, welche menschlichen Stimmen gesendet werden dürfen, fragen wir auch, welche Arten von Signalen gesendet werden können. Welche Arten von »Radiostimmen« werden gefördert oder zum Schweigen gebracht? Wie können wir das Radio als kreatives und/oder künstlerisches Medium nutzen, nicht nur in Bezug auf den Inhalt, sondern auch auf das Signal? 

Das Sommercamp RADIOTOPIA - a rehearsal of spectrum takeover war eine Chance, sich Radio gemeinsam anders vorzustellen. Wir haben versucht, mit und über einige der Fragen und Probleme des Radios, die ich hier zu formulieren versucht habe, hinaus zu denken. Wir fragten uns nach seiner Nutzung jenseits der nationalen/staatlichen, der militärischen, religiösen oder kapitalistischen Bestrebungen; nach einer Nutzung des Radios außerhalb der Zwänge der Amateurfunkkultur, außerhalb des Konservatismus des nationalen Radios oder der inhaltsorientierten und unterfinanzierten Welt der freien und kommunalen Radios.

Radiotopia war eine Zusammenkunft von Individuen und Kollektiven, um über die Manifestierung von Radioimaginationen nachzudenken, über die Übertragung einer anderen Vielfalt von Stimmen im/vom Radio.

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Das Sommercamp RADIOTOPIA - a Rehearsal of Spectrum Takeover versammelte von 12. -16. Juli 2022 mehr als 15 Radio Artists aus Europa und den USA an Bord der Stubnitz in Hamburg. Eine Veranstaltung der MS Stubnitz und der STWST. Alle Teilnehmer*innen und mehr Infos: http://radiotopia.stwst.at

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Radiotopia ist im Rahmen von STWST48x8 DEEP. 48 Hours of Disconnected Connecting auf dem Messschiff Eleonore präsent: https://stwst48x8.stwst.at/radiotopia

Franz XAVER, Silvia Eckermann, Gerald Nestler und Gäste
minus delta t‘ und der rote Faden der Medienkunst 

Experiment, Kritik und Gespräch

Messschiff Eleonore / So, 10:00 – 14:00
Treffpunkt: STWST Eingangsbereich 

minus delta t‘ - Ein Versuchsaufbau im elektromagnetischen Raum - Zeitdilatation durch Wasserstoffstrahlung aus anderen Galaxien und die Rolle des Beobachterstatus in der Informationsgesellschaft. Franz XAVER. 

Der Grundgedanke des Radioexperiments auf der Eleonore ist, dass die gleichzeitig ankommende Wasserstoffsignale des Universums von Ereignissen zeugen, die aus verschiednen Zeiten stammen können. Dadurch wird der Stellenwert einer Beobachtungsposition abgeleitet. Aus der Position der Kunst gesehen, ist davon auszugehen, dass diese physikalische Erkenntnis auch auf Informationssysteme oder Zahlensysteme umzulegen ist. Alles wird von der Position in einem relativem Bezugssystem abhängig. Kunst steht für uns in einem imaginären Zahlensystem und einer Information außerhalb der Shannon‘schen Informationstheorie und hat die Aufgabe, unserer Informationsgesellschaft neue Perspektiven zu geben. 

The Red Thread of Media Art - Kritik und Gespräch am Sonntag, 10.00 - 14.00 beim Lunch mit Silvia Eckermann,Gerald Nestler, Franz XAVER, u.a. 

Wie komme ich zur Eleonore:
Bootsshuttle: STWST-Eleonore-STWST
Treffpunkt: STWST Eingansbereich bzw DeckDock Donaulände vor der STWST. 
Abfahrt Bootsshuttle: 10.00 und 10.30 
Zurück: 14.00 und 14.30. 
Anmeldung unter SMS-+43 676 61545930. 
Fahrpreis: 6 Giblinge - Kostenlos mit gültigen NFPs (Mehr zu Gibling as NFP). 

Das Experiment wird auf der Eleonore im Hafen der Sehnsucht in Weiterführung zu Radiotopia durchfgeführt. RADIOTOPIA - A Rehearsal of Spectrum Takeover fand vom 12. bis 16. Juli 2022 in Hamburg auf der MS Stubnitz statt. Eine Kurzpräsentation und ein Talk zu diesem Radiotopia Sommercamp findet ebenfalls zur selben Zeit auf der Eleonore statt.

[1] Nicht zu verwechseln mit der Telekommunikationsverschlüsselung, einer Methode zur Zufallsgenerierung von Daten vor der Übertragung.
[2] Code, Lorraine. Ecological Thinking. The Politics of Epistemic Location. Oxford University Press, 2006.
[3] Darunter auch Sasha Engelmann, die feststellt, dass weibliche Stimmen in der Amateurband oft einen so genannten "Pile-up" verursachen. Engelmann, Sasha. Planetarisches Radio". The Contemporary Journal 3 (März 02, 2021). [https://thecontemporaryjournal.org/strands/sonic-continuum/planetary-radio]. Auch erwähnenswert ist, dass das Shortwave Collective wurde als Folge dieses Phänomens gegründet: https://www.shortwavecollective.net
[4] Tallon, Tina. »A Century of ‘Shrill’: How Bias in Technology Has Hurt Women‘s Voices.« The New Yorker, 3 Sept. 2019, https://www.newyorker.com/culture/cultural-comment/a-century-of-shrill-how-bias-in-technology-has-hurt-womens-voices.
[5] Skywave Symphony wurde ursprünglich für zwei Musiker (von denen einer über große Entfernungen spielte) und 100 Radios komponiert: "Die Amateurfunkgemeinschaft in ganz Neuseeland sollte mobilisiert werden, um auf einzelnen Wellenlängen den Klang ihres eigenen Empfangsrauschens zu übertragen. (Der Radioempfang und damit auch die Klangeigenschaften des Rauschens unterscheiden sich erheblich je nach geografischen Merkmalen wie Grundwasserspiegel, atmosphärische Aufladung, Topografie usw.) Die 100-köpfige Truppe von Funkern auf der Bühne würde dann diese statischen Übertragungen nach einer speziell arrangierten Frequenz- und Lautstärkepartitur durchstimmen. (https://verawysemunro.nz/the-Skywave-Symphony).
[6] Siehe: https://verawysemunro.nz/about-the-Munro-archives
[7] Siehe auch: Radio Amatrices, »FemSat : propositions féministes dans l‘espace radiophonique / FemSat: Propositions for Feminism in Radiophonic Space.« Espace (Montréal), n°130 (Hiver/Winter 2022)  p.58-63.