Fragmente einer (Un-)Wirklichkeit

Marinos Koutsomichalis, einer der bei STWST48x8 DEEP vertretenen Artists, wurde eingeladen, einen Text aus seiner künstlerischen Praxis und in Bezug zum Deep Disconnected Connecting der diesjährigen Showcase-Extravaganza zu verfassen. 

Verlust und Taktiken der Kapitulation 

skates
and rays 
rajidae
arhynchobatinae 
gurgesiellinae
elasmobranchii
mobulidae
the entire seabed
a sentient cemetery

(Dis)kontinuum

Ich bin nicht besonders an Kunstwerken interessiert. Ich komponiere lieber Projekte. Kunstwerke sind fertig; gesetzt; auf irgendeine Weise beendet. 

Stay Unfinished !!

Projekte hingegen sind dynamisch, kontingent, immer im Entstehen begriffen und können immer wieder neu angeeignet werden. Alles kann dort hineinpassen: Dinge, Prozesse, Spekulationen, Technologien, Ideen, andere Projekte..

Hybridisiere oder stirb! 

Anstatt zuzulassen, dass ältere oder scheinbar irrelevante Medien/Paradigmen veraltet sind, versuche ich, sie in meiner Praxis wieder einzuführen, um komplexe Wiederherstellungszyklen zu fördern. Ich sehne mich nach spielerischen Wechselspielen und Unfällen zwischen dem Analogen und dem Digitalen, dem Poetischen und dem Rechnerischen, dem Wissenschaftlichen und dem Okkulten, dem Hightech und dem Vintage.. Im Kern meiner Praxis findet man also Schichten über Schichten über Schichten von miteinander verwobenen Materialien, Prozessen, Sanierungsstrategien und Taktiken, um das Erstere (unvollständig) in einem situierten Kontext zu zeigen. Dieser Zustand ist ein (un)realer und (un)kontinuierlicher Zustand. Sie erfordert ein bedingungsloses Experimentieren mit so ziemlich allem und in allen möglichen unterschiedlichen kreativen Kontexten des wirklichen Lebens. Sie ist interdisziplinär, kontextübergreifend und transgeografisch. 


 

Bild: Archiv Marionos Koutsomichalis

 

Das (un)reale (Dis-)Kontinuum, das meine kreative Arbeit unterstützt, lässt sich am besten an einem Beispiel verdeutlichen. Die erste Abbildung veranschaulicht meinen Aufbau für MEDIA()MESSe (eine 2-stündige Multimedia-Performance für 10 Künstler/Hacker aus 4 Forschungslabors; Nantes, Mai 2022). Es besteht aus selbstgebauten Instrumenten, einem Funkscanner mit allgemeiner Reichweite, japanischen Kalligraphien, einer orangefarbenen Bauarbeiteruniform, einem Paar Schutzhandschuhe, Holzstücken und einem Kiefernzapfen. Damit habe ich sowohl allein als auch mit anderen gearbeitet.

Eine gelbe Box mit einem Schlüsselschalter und einem symmetrischen 1/4«-TRS-Audioausgang

Ein reduktionistisches Infrarot-Instrument aus einem gelben Aluminiumdruckgussgehäuse mit einer minimalistischen Benutzeroberfläche: nur ein Schlüsselschalter und ein symmetrischer 1/4-Zoll-TRS-Audioausgang für den Anschluss an ein PA-System. Beim Drehen des Schlüssels gibt das Gerät ein bestimmtes Gedicht im Morsecode mit einer Reihe von sehr niederfrequenten Schallimpulsen wieder. Die Tatsache, dass das Gedicht nur für wenige verständlich ist, entspricht der konzeptionellen Logik, die dem gesamten Design zugrunde liegt: Das Instrument ist radikal einfach, aber mehrdeutig und enthält keinerlei Hinweise darauf, was es tun soll (außer Töne zu erzeugen). Es wandelt die Poesie in physikalische Schwingungen um, die eine ‘gastgebende’ Architektur und die sich darin befindenden menschlichen Körper zum Klingen bringen. Die Poesie wird so zu einem Rhythmus, der durch den Körper, den Raum und die viszerale Wahrnehmung körperlich spürbar wird. 

Das Instrument hat eine theoretisch-materielle Mischung zum Vorschein gebracht, die zu dieser Zeit relevant war. Mein Studio ist immer reich an allen möglichen zufälligen elektronischen Komponenten und Materialien, mit denen ich experimentieren kann. Diese spezielle gelbe Schachtel entdeckte ich im E-Shop eines Anbieters und bestellte sie sofort, da sie ziemlich niedlich aussah. Als sie auf meinem Schreibtisch landete, stellte ich mir sofort ein minimalistisches Instrument mit nichts weiter als einem Schlüsselschalter (der auch schon irgendwo in der Nähe lag) und einem Audioausgang vor. Mir kam nichts Besonderes in den Sinn, aber ein winziger Mikrocontroller, der ebenfalls auf meinem Schreibtisch lag bot sich an. Zu dieser Zeit beschäftigte ich mich intensiv mit Funkkommunikationstechniken (ich bereitete mich auf meine Amateurfunk-Lizenz vor), während ich auch mit Morsezeichen herumspielte und gelegentlich an einem laufenden Kunstbuchprojekt mit ausgewählten Textskizzen (d.h. Gedichten) arbeitete. Dann hat sich das Instrument quasi von selbst entwickelt und dieses Netzwerk von Aktivitäten und Dingen zum Vorschein gebracht. 

Sentience

I’m distributed
in space and time
in things and beings alike
in scents and tastes and touches
in shared pain and shared agony
in shared dreams and shared nightmares 
I’m emergent
I rise and fall in silence
I live and die in fragments

Stahlblock 

Stahlblock wurde mit nichts anderem als Funktionalität im Sinn entworfen. Er kann bis zu 32 Audioaufnahmen von beliebiger Dauer über eine 8x4-Matrix von Tasten auslösen. Er greift auf 16 Stereo- und 16 Mono-Audiodateien zu und gibt bis zu 12 davon gleichzeitig und an verschiedenen Ausgängen wieder (insgesamt 16; 4 Stereo und 8 Mono). Mit Hilfe eines Mischpults kann Stahlblock in beliebigen Audiowiedergabeeinstellungen verwendet werden. Vor Stahlblock habe ich zu diesem Zweck einen Laptop verwendet, auf dem eine maßgeschneiderte Software lief; ein Ansatz, der zwar funktionell gut ist, aber in vielerlei Hinsicht leidet. Laptops müssen eingerichtet werden; sie sind zerbrechlich, nicht wasserdicht und haben nicht intuitive Benutzeroberflächen, wenn es darum geht, zwischen Audiodateien zu wechseln (während externe Controller Plastikpads gegenüber Metalltasten bevorzugen). Vor allem aber werden Laptops mit sehr prominenten Konnotationen in Verbindung gebracht, die den DIY-/Experimental-Ethos stark untergraben. Natürlich würde eine solche Lösung es mir ermöglichen, Audio auf viele zusätzliche Arten zu bearbeiten, aber meine Praxis bevorzugt zunehmend eine eingeschränkte Benutzerinteraktion. Ich mag es, wenn die Dinge konzentriert bleiben. Hardware-Synthesizer, Sampler oder Audiorecorder könnten sicherlich für eine solche Aufgabe programmiert werden, aber das würde die Unmittelbarkeit stark beeinträchtigen und neue Ablenkungen mit sich bringen. Deshalb habe ich den Stahlblock entwickelt, eine optimale DIY-Lösung, die robust, wasserdicht und darauf ausgerichtet ist, genau das zu tun, was erforderlich ist. Viel wichtiger ist jedoch, dass er das »Geheimnis« seiner Schnittstelle nicht erklärt und wohl auch ein DIY-Ethos und eine gewisse Aura der Einzigartigkeit vermittelt.

台東の墓地

Juni 2019, Taito City, Tokio. 

Ich bin auf dem Weg, um ein Messer abzuholen, das ich zum Gravieren zurückgelassen habe. (Ich bin besessen von scharfen Messern und sauberen Schnitten). Aus einem nahe gelegenen Tempel ertönt ein hypnotisierender Gesang. Diese ‘zufällige Angewohnheit’ habe ich auf Reisen: Ich besuche gelegentlich unauffällige religiöse Orte und nehme an gewöhnlichen, alltäglichen Zeremonien teil. 

Ich bin also dabei. 

Dem Ritual beiwohnen - ein Hauch von Buddhismus. Gesänge und Vokalisationen bringen Körper und Architektur zum Klingen. Sie improvisieren buchstäblich den Raum der Zeit selbst! Dies dauert eine unbestimmte Zeit lang an. Dann werfe ich drei Räucherstäbchen ins Feuer, um meine Verstorbenen zu ehren (aus ihnen sind bereits fünf geworden). Es ist Zeit zu gehen, aber dieses Mal werde ich von einer anderen Tür angezogen. Zu meiner Überraschung führt sie zu einem Friedhof. Ich zögere. Ich erkläre den Toten, dass ich selbst geliebte Menschen verloren habe und dass ich, sollte meine Anwesenheit hier akzeptiert werden, gerne ein wenig umherwandern und mich hier vertiefen würde.

Ich werde willkommen geheißen, also gehe ich. 

 

Bild: Archiv Marionos Koutsomichalis


Später schreibe ich ein paar Worte in mein Reisetagebuch. Sie landen in einer kürzlich erschienenen Publikation - einem Kunstbuch mit verschiedenen Reisenotizen und Texten von mir, die in Seide auf handgeschöpftem nepalesischem Papier gedruckt sind und auch ein paar japanische Kalligraphien enthalten. Ich habe vor, fünf dieser Bücher an besonderen Orten zu vergraben, damit sich der Verfall in etwas anderes verwandeln kann. 

Bei der Vorbereitung der Kalligraphien für das Buch habe ich einige besondere angefertigt, die hoffentlich an das erinnern, was sie bedeuten, und die ich für besondere Geschenke reservieren wollte. Unter anderem habe ich ein paar »台東の墓地« vorbereitet. 

Ich mag japanische Kalligraphien. Sie können das Bewusstsein schärfen und eine besondere Aura hervorrufen, einfach indem man sie anfertigt oder betrachtet. Sie ermöglichen es mir, Spuren von gelebter Erfahrung, Erinnerung - oder auch deren Fehlen - heraufzubeschwören.

Wait for me

wait for me 
brother of faithless stare
we need no excuse

Die Welt gehört denjenigen, die gehen 

Das Gehen ist die intimste Art, einen Ort zu erkunden und sich auf ihn einzulassen. Es ist für den Tanz, was die Stille für die Musik ist. Peripatetische/psychogeografische Praktiken stehen seit über 20 Jahren im Mittelpunkt mehrerer meiner Projekte, während ich sehr oft auch technologische Sonden einsetze, um den räumlichen Fußabdruck akustischer, elektromagnetischer oder anderer Aktivitäten zu erkunden. Gelegentlich sammle ich auch Objekte, die ich für interessant halte, um sie zu untersuchen oder einfach in die Hand zu nehmen. Ich bin ein sehr taktil orientierter Mensch. Ich mag es, Dinge anzufassen. Für mich ist das Erleben einer Stadt in erster Linie eine taktile Erfahrung. Ich bringe diese Objekte oft in meine Performance mit, entweder um sie in den Händen zu halten oder um sie einfach in der Nähe liegen zu haben, damit sie dem Raum etwas Eigenes verleihen. 

 

Bild: Archiv Marionos Koutsomichalis

 

Das STWST-Team eröffnete die MEDIA()MESSe-Veranstaltung mit einer Performance, die mit halb improvisierten Walking Acts endete. Dies hinterließ einen subtilen, aber nachhaltigen Eindruck, der - so habe ich das Gefühl - alles Folgende irgendwie beeinflusste. Etwa eine Stunde später laufe ich in meiner orangefarbenen Uniform ganz langsam durch den Raum, bevor ich auf ziemlich dramatische Weise den Schlüssel an meinem kleinen gelben Kasten umdrehe. Ich experimentiere in letzter Zeit viel mit (selbstgemachter) Kleidung in meinen Projekten. Diese Uniform hatte ich ursprünglich im Rahmen eines anderen Projekts gekauft, um sie in einen erweiterten Anzug zu verwandeln, der Radiofrequenzen zum Klingen bringen würde.

Mehr

Es gibt noch einige andere Gegenstände, die in meinem Set-up auftauchen - jeder mit seiner eigenen Geschichte. Die Handschuhe verwende ich als Sicherheitsmaßnahme, wenn ich mit selbstgebauten Instrumenten arbeite, da ich sie (entgegen allen Ratschlägen) mit Netzstrom betreiben möchte. Den Radioscanner benutze ich oft, um Funkverbindungen oder natürlich auftretende elektromagnetische Phänomene zu erfassen. 
Die 混乱-Kalligraphie (Verwirrung auf Japanisch) geht auf meine 2011 entstandene Komposition »Sygxysis« (Verwirrung auf Griechisch, geschrieben mit lateinischen Buchstaben) und die Veranstaltungsreihe »φöρβιρρινγ« (Verwirrung auf Schwedisch, geschrieben mit griechischen Buchstaben außer dem ö) zurück, die ich einige Jahre später in Stockholm kuratierte. 2019 habe ich eine Serie von 混乱-Kalligraphien zur Ankündigung und als besondere Geschenke für mein Live-Konzert in Tokio angefertigt. Verwirrung ist für mich ein Schlüsselbegriff. Wie alle ehrlichen Zustände hat sie ihre eigene, höchste Schönheit. Verwirrende, instabile und widerspenstige Situationen haben meine Psyche bei vielen Gelegenheiten bestimmt und - ich muss es zugeben - manchmal fühle ich mich darin ganz zu Hause.

Everythingness

there is a place 
where we can all 
let ourselves turn into 
sheer chaotic turbulent 
everythingness! 

 

Marinos Koutsomichalis ist bei STWST48x8 DEEP mit Sentience: https://stwst48x8.stwst.at/sentience

 

Zur im Text erwähnten MEDIA()MESSe: APO33 aus Nantes lud drei Kunst- und Medienassoziationen zu einem/einer gemeinsamen MEDIA()MESSe –  am 21. Mai 2022, APO33, Plateform Intermedia, Nantes/F. Zehn Artists/Hackers aus vier europäischen Kunst- und Technologielaboren zwischen intermedialer Kunst, DIY, DIWO und Medienaktivismus performten zwischen intermedialer Kunst, DIY, DIWO und Materialaktivismus. Mehrere Bildschirme, Soundsysteme, unterschiedliche Zugänge zu Media Mass bis Critical Mess wurden zu einer Performance zur „aktuellen Situation der Welt“.