»Die Weichzeichnung verhält sich zum Scharfen wie die Hoffnung zur Übersättigung«, Robert de la Sizeranne (1866-1932)
Der Hofrat sagte: »Spukhaft, was? Ja, ein Einschlag von Spukhaftigkeit ist nicht zu verkennen.«, Thomas Mann (1875-1955), Der Zauberberg, Fünftes Kapitel, Röntgenszene
Ab 1978 schuf der japanische Fotograf Hiroshi Sugimoto einen Zyklus faszinierender Aufnahmen historischer Kinosäle (2016 erschienen unter dem Titel »Theaters«). Zur Ausleuchtung der Innenräume nutzte er nur eine Lichtquelle: die reflektierende Kinoleinwand. Deren auf den Fotos sichtbares hellweißes Leuchten resultierte jedoch nicht aus der Projektion mit weißem Licht. Stattdessen wurde während der Langzeitbelichtung jeweils ein kompletter Film abgespielt. Die helle, neutral weiße Leinwand des Fotos »zeigt« bzw. »beinhaltet« also den ganzen Film und wird damit zu einem Erinnerungsbild ungesehener, in der komprimierten Folge der Einzelbilder neutralisierter filmischer »Realität«. Die historischen Kinosäle mit ihren leeren Sitzreihen sind auf Sugimotos Bildern in ein weiches, fast übernatürlich wirkendes Licht getaucht.
Sugimotos Erinnerungsbilder kreieren eine Atmosphäre schemenhafter Melancholie, die die gewohnte Konkretheit filmischer Bilder (mit all ihren Implikationen von der Handlung bis zur – idealisierten – Schärfe) aufgeben. Fotografisch sichtbar wird ein Nachleuchten, das die Kinoräume in eine neue Realität transformiert. Kaum ein Medium ist auf die Wirkung unmittelbarer Gegenwärtigkeit derart angewiesen wie der Film. Im Gegensatz zum Foto dient das filmische Einzelbild immer dem Vorantreiben eines Geschehens. Es ist im Moment seiner Projektion bereits auf das nächste Bild gerichtet. Auch diese zeitliche Dimension hebt Sugimoto in seinen Aufnahmen in radikaler Weise auf.
Die visuelle Vergewisserung des Zeitlichen (v.a. in der Bewegung) gehört nicht nur im Kino zu den wesentlichen Voraussetzungen der Wirkungsmacht bildlicher Repräsentation. Längst hat sich dieses Faktum mit all seinen, häufig eher zweifelhaften, ästhetischen Konnotationen in unseren – vor allem digital geprägten und animierten – Alltag hineingefressen. Das bewegte Bild wird zur trügerischen Referenz konkreter Existenz. Ein Umstand, der während der Lockdowns durch das permanente, erzwungene Ausweichen in bildliche Substitute noch deutlich an Relevanz gewonnen hat.
Analoge Autonomie der Bilder
Mit ihren Überlegungen und Versuchen zu einem Postglow-Cinema, bzw. der diesjährigen Arbeit »Nik, the Sleeper« versucht Tanja Brandmayr diesen technologisch komplexen Verfahren bildlicher Produktion »en masse« eine, wie sie es nennt, »grundlegend andere« Strategie entgegen zu stellen. Eine von mehreren Inspirationen für ihre Beschäftigung mit der Kombination Video/Filmprojektion und dem Phänomen der Lumineszenz bildete eine Ausstellung von Astrid Benzer anlässlich des Festivals der Regionen 2017 in Marchtrenk (konkret Benzers Arbeit »Was war…«). Diese kombinierte Fotografie und Phosphoreszenz. Das gemeinsame Interesse führte letztes Jahr zu einem gemeinsamen Projekt, heuer wieder zu zwei jeweils verschiedenen Arbeiten im Zusammenhang mit Nachleuchten (siehe Infos unten, außerdem zwei weitere Projekte). Tanja Brandmayr führt das Nachleuchtkino als Videoprojektion auf phosphoreszierende Leinwand fort.
Das von Brandmayr verwendete technische Prinzip ist denkbar einfach. Auf eine mit lumineszierender Farbe bestrichene Leinwand werden Begriffe, abstrakte Strukturen, Figuren und Szenen projiziert. Die Projektionen, die in rascher Folge, sich teilweise überlagernd auf die Leinwand treffen, regen die lumineszierende Farbe zum grünlichen Nachleuchten an. Dieses ist geprägt durch ein rasches Verklingen der Leuchtkraft. Die Motive und ihre Konturen verschwimmen, werden schemenhaft und erhalten einen magischen, fast mystischen Charakter. Die Dauer und Intensität des Abklingens ist kaum beeinflussbar. Ein weitgehend autonomer Prozess läuft ab, der eine Vielzahl von Assoziationsmöglichkeiten eröffnet. Die notwendige Dunkelheit assoziiert eine unmittelbare Verbindung zur Nacht und ihren autonomen Traumwelten. Das Nachlassen der Leuchtkraft kann als symbolischer Erinnerungsprozess (im Sinne des Verblassens) gedeutet werden. Räumlich gehen die selbstleuchtenden Formen auf Distanz zum Betrachtenden. Die Leinwand zeigt ein Licht, das nur bedingt in der Lage ist, uns räumlich zu umfangen und unsere Position im Raum zu definieren. Durch diesen Verzicht auf räumliche Definition und Ablesbarkeit der Dinge (hinsichtlich Schärfe und Kontur) werden wir in einen Rezeptionsmodus versetzt, der auf Atmosphäre, Transzendenz und Stimmung hin angelegt ist. Im alltäglich gewohnten Licht tritt uns eine klar umrissene Realität gegenüber. Die weichen, unscharfen »Stimmungsbilder« des Postglow wirken dagegen eher als Spiegel innerer Befindlichkeiten bis hin zum Traumhaften. Aus den vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten, die das Postglow-Cinema eröffnet, soll im Folgenden vor allem auf den Aspekt der Unschärfe eingegangen werden.
Unscharfe Stimmungsbilder
Die beschriebenen Charakteristika von Tanja Brandmayrs Nachleucht-Kino, und auch von Astrid Benzers fotografischem Ansatz stellen diese in eine Traditionslinie, die im Zuge der Industrialisierung und der zunehmenden, detailscharfen Wahrnehmungs- und Abbildungsmöglichkeiten von Realität die Unschärfe als Alternative entdeckt. Seinen ästhetischen Ausgangspunkt findet der Kult um die Unschärfe in der Erfindung der Fotografie vor 1850. Mit zunehmender technischer Verbesserung gelang es dem fotografischen Bild »per Auslöser« eine Abbildungsgenauigkeit und Bildschärfe zu erreichen, die durch Malerei und Zeichnung nur mit Mühe herstellbar waren. Der geltende Alleinanspruch bildender Kunst, Wirklichkeit und Natur abbildend zu erfassen, bestand nicht länger. Künstler*innen empfanden diese Entwicklung als durchaus krisenhaft und wandten sich verstärkt darstellerischen Mitteln zu, die wegführten von den technisch präzisen Fotografien. Als Alternative drängte sich der Einsatz der Unschärfe geradezu auf. Die Fotografie vollzog dies nur wenig später nach, um zu vergleichbaren Wirkungen zu gelangen.
Das scharfe Bild bewirkt eine Zuspitzung der Welt auf die unmittelbar erfahrbare Gegenwart der Räume und Gegenstände. Es erzählt präzise. Das Auge wandert von Gegenstand zu Gegenstand (Information zu Information) und setzt die Einzelelemente zu einem logischen Ganzen zusammen. Diese Eindeutigkeit der Wahrnehmung und ihre Überführung in ein »erzählendes« Bild wird durch den Einsatz der Unschärfe gemindert oder verhindert. Realismus und »Wahrhaftigkeit« einer Darstellung werden durch die Unschärfe zugunsten von Stimmung und Atmosphäre verschoben. Folgerichtig entspricht der um 1900 zu beobachtende Kult um die Unschärfe für den Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl (1858-1905) einem »modernen Stimmungsbedürfnis«. Das unscharfe Bild eröffnet kaum kalkulierbare (Seelen-)Wirkungen beim Betrachtenden und entzieht sich damit den paradigmatischen Forderungen der Moderne nach Präzision, Messbarkeit und Informationseffizienz.
Unsere eigene Gegenwart ist weit mehr als jede bisherige Epoche geprägt durch die permanente Verfügbarkeit des »scharfen« Bildes (in einem weiten, jede Form der Information einschließenden Sinn; Stichwörter: Big Data, Metaverse, Vernetzung etc.). Zugleich formulieren aktuell manche Gruppierungen, erstaunlicherweise die gleichen Medien leidenschaftlich nutzend, eine äußerst problematische Skepsis gegenüber allem Faktischen (Stichwörter: Wissenschaftsfeindlichkeit, Verschwörung, Esoterik etc.). Wirklichkeit ist – glaubt man diesen »Skeptikern« – zunehmend unglaubwürdig. Die resultierenden sozialen und kulturellen Unschärfen wurden längst zu beängstigend destruktiven Faktoren. War die Hinwendung zur Unschärfe um 1900 zumindest teilweise der Versuch, die harten Konturen der Lebenswirklichkeit aufzuweichen und dadurch neue Horizonte oder Möglichkeitsräume zu öffnen, führt sie heute zur existenziellen Gefährdung gesellschaftlicher Realitäten und Verabredungen.
Natürlich ist es immer problematisch, Phänomene unterschiedlicher Epochen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen parallel zu setzen. Aber wenn Tanja Brandmayr ihre analogen, selbstleuchtenden »Bewusstseinsbilder« aufscheinen lässt, formuliert dies natürlich auch eine visuell-mediale Gegenthese zu den technisch lupenreinen Bildern unserer digitalen Wirklichkeitskonstruktion und -erfahrung. Brandmayrs Nachleuchtkino folgt einer räumlich-zeitlichen Dynamik, die nur eingeschränkt gesteuert oder manipuliert werden kann. Damit unterscheidet es sich auf sympathisch low-tech-orientierte Weise von den technologisch dominierten, destruktiven Konstrukten digitaler Alternativ»wirklichkeiten«. Die im Postglow vorgeführte Autonomie findet ihren Bezugspunkt in den nur wenig beeinflussbaren Sphären des Unbewussten und des Traums. Bei aller Abstraktheit wird das schemenhafte Nachleuchten zur visuellen Resonanzfläche individueller Seelenzustände.
Tröstliche Magie: Eine Art Epilog
Am Ende einer überschaubaren Odyssee durch verschiedene Urlaubsdestinationen (und der Suche nach der Liebe) landet die Pariser Sekretärin Delphine in Biarritz und begegnet Edouard, kurz vor dem endgültigen Abbruch ihrer Reise. Delphine (gespielt von Marie Rivière) taucht mit dieser Begegnung, am Ende des 1986 von Eric Rohmer veröffentlichten Films Le Rayon vert (Das grüne Leuchten) und nach den für Rohmer typischen, endlosen Dia- und Monologen seiner Heldin ein in eine Art magisches Bewusstsein. Nun geht es für Delphine nicht mehr um das sprachliche (logische?) Durchdringen und Erklären der eigenen Existenz und Liebesnot (als könne man sein Glück herbeiquasseln). Stattdessen sitzt sie mit Edouard »au bord de la mer« und gemeinsam beobachten sie den Sonnenuntergang. Dieser soll es nun in sich haben: Delphine wartet auf das sagenumwobene grüne Leuchten, das je nach Wetterlage für einen Sekundenbruchteil sichtbar wird, unmittelbar nachdem die Sonne unter der Horizontlinie verschwindet. Das grüne Leuchten erscheint tatsächlich und Delphine erkennt darin das sehnsuchtsvoll erwartete magische Zeichen für ihr persönliches Glück. Der Rest ist Abspann.
Bei STWST48x8 DEEP. 48 Hours Disconnected Connecting sind 4 Projekte zu sehen, die auf verschiedene Weise mit Nachleuchten arbeiten:
Nachleuchten / Bewegtbild:
Tanja Brandmayr: Nik, the Sleeper
https://stwst48x8.stwst.at/nik_the_sleeper
https://stwst48x8.stwst.at/en/nik_the_sleeper
Gregor Göttfert, Florian Kofler: Sphäre
https://stwst48x8.stwst.at/sphere
https://stwst48x8.stwst.at/en/sphere
Nachleuchten / Installation:
Astrid Benzer: Luminophorium, Prototyp 1.0
https://stwst48x8.stwst.at/luminophorium_prototype_1.0
https://stwst48x8.stwst.at/en/luminophorium_prototype_1.0
taro: entitate luzitransis [№ I+II]
https://stwst48x8.stwst.at/entitate_luzitransis_i_ii
https://stwst48x8.stwst.at/en/entitate_luzitransis_i_ii