Blauer Abgrund, meine Bucht

Von Elena Messner ist letztes Jahr das Buch »In die Transitzone« erschienen. François Grosso hat die Autorin interviewt.

In den letzten Jahren sind im Verlag Edition Atelier, der auch deine Romane publiziert, mehrere Werke erschienen, die sich mit der Flüchtlingsthematik befassen. Wie würdest du deine Herangehensweise an diese Thematik definieren, wie ist die Idee zu deinem Roman »In die Transitzone« entstanden?

Ein konkreter Anlass für meinen zweiten Roman war mein Umzug nach Marseille. Ich wollte ausprobieren, wie es aussehen könnte, eine Stadt im Süden Europas als Modell heranzuziehen, um die Auswirkungen des europäischen Grenz- bzw. Migrationsregimes zu beschreiben. Eine Hafenstadt am Mittelmeer, eine Industriestadt, eine Grenzstadt und eine Touristenstadt – das war der optimale Rahmen dafür. Während ich am Roman gearbeitet habe, hat sich die Situation in Europa im Hinblick auf Fragen nach Migration aber ziemlich rasch geändert, bis hin zum Höhepunkt der Migrationsbewegungen im Sommer 2015 und deren politische Folgen. Das hat auch meine Arbeit am Roman geändert.

Dein Roman erzählt viel vom Politischen und dessen Widersprüchen in Ausnahmesituationen wie der so genannten Flüchtlingskrise, die du ansprichst. Nicht nur die Spannungen, die in der Gesellschaft zwischen Helfenden und Ablehnenden entstehen, sondern auch die politische Vereinnahmung oder die Korruption werden genau beschrieben. Figuren wie der Großunternehmer Lolly-Garche wollen von der Situation wirtschaftlich profitieren; andere wie der Vizebürgermeister Charbonnier oder der Polizist Pakka sind zerrissen. Sehr gelungen fand ich, dass sich der Roman nicht nur auf zwei Lager beschränkt, sondern auch versucht, der Komplexität der Situation gerecht zu werden. Jenseits des Politischen habe ich den Eindruck bekommen, es gehe in deinem Roman an erster Stelle um Zivilcourage und Solidarität.

Ich habe Menschen, die sich in einem politischen Kampf engagieren, als Hauptfiguren eingesetzt, es werden organisierte Fluchthilfe und Menschenrechtsaktivismus, oder auch sozial engagierte Tätigkeit in Form von Dolmetschen oder Rechtsberatung für Flüchtlinge thematisiert. Der Roman ist, wenn man die Handlungen der Figuren systematisch zusammenklaubt, auch ein Katalog von möglichen Protestformen, die sich für mehr Solidarität einsetzen, auf lokaler wie auch globaler Ebene. Das alles wird mit der Erzählung über traditionelle Formen von Politik parallel geschaltet, etwa dem Gewerkschaftswesen oder dem traditionellen Parteiwesen. Ein Thema des Romans ist politische Arbeit überhaupt, eine Suche nach Wegen, sich für mehr Gemeinsamkeit zu engagieren. Meine Figuren sind deswegen sehr breit aufgestellt, und zwar hinsichtlich ihrer Herkunft, ihres sozialen Standes, ihrer politischen Einstellungen und ihrer Beziehungen zueinander.

Ist es möglich, deinen Roman als Metapher, als Allegorie des Fremden auszudeuten? Das Ankommen von Flüchtlingen bringt tatsächlich ein bestehendes System ins Wanken und stellt es vor allem in Frage. Du sprichst auch bei der anfänglichen Euphorie der Aktivistengruppe, der sich Daniel anschließt, von einer »Demontage aller Ideen, denen wir bislang gefolgt sind!« (78)

Es würde mich freuen, wenn man mein Buch so liest: als Allegorie, einerseits auf das europäische Grenzregime – und andererseits auf Europas »Andere«, nicht nur der Migrant_innen als Andere, sondern des politisch »Anderen« – des solidarischen und offenen Europas.

Makrique ist eine Hafenstadt, in der in den letzten Wochen und Monaten vor Beginn der Handlung viele Flüchtlinge über die Meeresroute gelandet sind. Obwohl Daniel, die Hauptfigur deines Romans und Beauftragter einer internationalen Organisation, über das Binnenland in die Stadt gekommen ist, spielt die Eröffnungsszene in einer Bar am Meer. Schon am Tag danach wird Daniel von der Figur Bakary in einem Boot mitgenommen und muss einer makabren Szene beiwohnen. Das Meer als Bedrohung ist in deinem Roman allgegenwärtig. Von Anfang an wird auch das Mittelmeer als »blauer Abgrund« (16) bezeichnet.

Ich wollte das Meer im Hinblick auf das Thema Mobilität in all seinen Bedeutungen für Menschen darstellen: Einerseits als Transportweg und damit Arbeitsplatz für die Hafenarbeiter des Industriehafens, für die es Bedrohung und Chance zugleich bedeutet. Dann als Sehnsuchtsmoment und Idylle in Form des Alten Hafens, der als touristisches Zentrum einer Stadt gezeigt wird – nicht umsonst wird die Hauptfigur auch scherzhaft von vielen als »Tourist« bezeichnet.  Und eben zugleich als Bedrohung
und Grab von jenen, die den Tourismus, diese Idylle stören würden, die daran nicht teilhaben dürfen. Das Meer in Makrique ist kein Ort der Freizeit und des Wassersports mehr, weil seine Bedeutung als Grenze eines Kontinents überwiegt.

Woher kommt der Name Makrique? Für mich als Französischsprachiger klingt das nach »ma crique«, das heißt »meine Bucht«. Für einen Hafen passt das gut...

Ja, diese Übersteigerung wollte ich erzielen, eine ironische Überaffirmation der Vorstellung einer idyllischen Bucht, die man für sich sucht, das rettende Ufer. Im Wort klingt aber neben dieser sehr positiven Bedeutung auch das deutsche Wort »Krieg« mit, also eine sehr negative Konnotation, eine Störung dieser Vorstellung eines Orts der Geborgenheit.

Der Handlungsraum scheint ständig zwischen Realität und Fiktion zu oszillieren. Makrique, die Hafenstadt ist fiktiv – Europa, Afrika und der Mittelmeerraum, die die Stadt und das sie umgebende Land umgeben, werden aber konkret benannt. Das Land, in dem sich Makrique befindet, erinnert an das heutige Frankreich. Es wird sowohl auf die koloniale Geschichte in Algerien verwiesen (195), als auch auf aktuelle Konflikte: es herrscht nach einigen Attentaten der Ausnahmezustand (148) und es wird gegen die Arbeitmarktsreform (loi travail) demonstriert (121). In deinem Roman werden fast alle Länder der Mittelmeerküste genannt, nur Frankreich bleibt unbenannt.

Auch das ist bewusst so gemacht, um den allegorischen Charakter des Romans zu stärken. Ich wollte, dass die heutigen und auch die historischen Konflikte erkennbar bleiben, damit der Text nicht zur überdrehten, wirklichkeitsfernen Dystopie oder einem sensationalistischen, apokalyptischen Unterhaltungsroman wird. Dann kommt noch dazu: Die Stadt Makrique hat sich im Roman autonom erklärt, sie ist für eine kurze Zeit keinem europäischen Nationalstaat mehr zugeordnet. Es wird schon zu Beginn erwähnt, dass die Stadt nur noch eine Grenze ist. Und Grenzen sind ja nicht im engeren Sinne staatlich, sondern Schnitt- und zugleich Trennlinien. Deswegen bleibt diese Stadt auch zu einem gewissen Grad am Rand einer staatlichen Zuordnung, auch wenn spürbar bleiben darf, dass das Land, in dem Makrique liegt, historisch, kulturell und politisch sehr nah am heutigen Frankreich gebaut ist.

Vieles lässt in deinem Roman an Marseille denken. Gegen Ende des Romans entfaltet Daniel eine Landkarte (189) und die Beschreibung würde genau zu der südfranzösischen Stadt passen. Im Lauf deines Romans werden immer wieder Stadtteile oder Orte beschrieben, die an Marseille erinnern.

Vieles spielt sich in meinem Makrique »draußen« ab, auf den Straßen, Plätzen, am Hafen, am Meer. Das war nur möglich mit Verweisen auf reale, urbane Räume, und so habe ich das Allgemeine aus Marseille destilliert, um daraus das Modell Makrique zu basteln. Es gibt im Süden Europas sehr viele Hafenstädte, auf die die Beschreibung von Makrique auch passen würde. Inspirierend war aber nicht nur die Marseiller Architektur, sondern auch die Probleme, die man hier vorfindet. Neben der Frage der Armut und Korruption war das für mich v.a. die Gentrifizierung als Folge von Ungleichheit, die ich im Roman in Zusammenhang mit Migration bringe: Vertreibung von Bevölkerungsgruppen, deren Abdrängen in die Banlieus, dadurch die Zersiedlung der Stadt, Leerstand im Zentrum, Billig- und Massentourismus, der die Strände zerstört.

Trotz allen Referenzen und Indizien bleibt Makrique eine fiktive Stadt. Es macht aus meiner Sicht auch Sinn, da die Handlung nicht unbedingt der jüngsten Geschichte Marseilles entspricht, das in den letzten Jahren keine große Migrationswelle erlebt hat, im Gegenteil zu Süditalien oder Griechenland.  Persönlich finde ich dieses Oszillieren zwischen Fiktion (Makrique und das Binnenland) und Realität (der Mittelmeerraum) sehr klug. So nimmt man deinen Roman als Kunstwerk mit einer sehr aktuellen und politischen Botschaft wahr, und nicht nur als literarische Reportage.

Es ging nicht anders – der Roman ist kein Roman über eine reale Stadt, sondern über eine Modellstadt, die zu einer »Transitzone« wird. Nur in einer imaginierten Stadt kann man auch die Stadt selbst als Kunstwerk inszenieren, bzw. sie als Ort von Kunstaktivismus politisieren. Man könnte die Romanhandlung auch als die Inszenierung zweier großer Kunstaktionen im öffentlichen Raum lesen, wobei die eine Aktion von Personen aus dem linken politischen Spektrum und die andere von Rechtsextremisten der Stadt organisiert wird. Außerdem ging es mir wie gesagt darum, Makrique als Allegorie zu nutzen – das Praktische an Allegorien ist ja: sie schaffen Distanz, sind aber immer auch als ganz konkrete Kritik an realen gesellschaftlichen Umständen lesbar.

Elena Messner, In die Transitzone. Roman, 216 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-903005-21-1, E-Book: 14,99 Euro, 978-3-903005-97-6

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Elena Messner, geb. 1983 in Klagenfurt, wuchs in Ljubljana und Salzburg auf, promovierte in Wien, ist als Schriftstellerin, Herausgeberin und Kulturvermittlerin tätig. Sie lebt derzeit in Marseille und unterrichtet am Institut für Germanistik an der Universität Aix/Marseille. Letzte Publikation: In die Transitzone (Roman, 2016), Das lange Echo (Roman, 2014), Postjugoslawische Antikriegsprosa (Wissenschaftliche Einführung, 2014).

Macrique alias Marseille: Die Eröffnungsszene von »In die Transitzone« spielt in einer Bar am Meer. (Bild: Elena Messner)