Die Abschaffung des Atomtodes

Felix Riedel über das Vabanquespiel mit der globalen Vernichtung und die Reaktionen darauf.

Heute vom Atomkrieg zu sprechen erhält leicht etwas Anachronistisches. Wo der kalte Krieg als Anästhetikum für den Holocaust wirkte und einen »Zeitkäfig«[1] herstellte, wird er heute selbst anästhesiert durch eine grimmiger gewordene bürgerliche Ideologie. Das blockiert die Erinnerung an seine geschichtliche und aktuelle Möglichkeit ebenso wie Solidarität mit den Frontstaaten Südkorea, Israel und den Anrainerstaaten Chinas.

Technischer Fortschritt

13 Kilotonnen TNT - das war die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.[2] Nur 16 Jahre später entfachte die russische AN-602 ihre 50 Megatonnen über Novaja Zemlya.[3] In den USA wurde miniaturisiert. Die in amerikanischen Militärbasen stationierte M-28 »Davy Crockett« provozierte satirische Bilder in Computerspielen: eine Art Bazooka für einen nuklearen Sprengkopf mit einer Kraft von ein bis zwanzig Tonnen TNT und einer Reichweite von zwei bis vier Kilometern. 2100 dieser Waffen wurden tatsächlich produziert[4], vor allem, um einen eventuellen sowjetischen Panzereinfall durch die Fulda-Pforte in Richtung Frankfurt nördlich oder südlich des Vogelsberges zu stoppen.[5] Brücken wären mit den 300 in Deutschland stationierten atomaren Rucksack-Minen vom Typ W-54 und W-45 ADM gesprengt worden.[6] Das Gros der 128000 weltweit produzierten Atomwaffen bewegte sich allerdings im Bereich einer Megatonne. Auf dem Höchststand von 1986 existierten 65000 Nuklearwaffen.[7] 520 atmosphärische Atomwaffentests wurden durchge-führt,[8] 11000 Menschen starben in den USA an den Folgen des Fallouts.[9] Für zivile Experimente in der Rohstoffexploration und für Großbauprojekte haben die USA 28 Sprengköpfe gezündet,[10] die Sowjetunion 115[11].  
Heute besitzen Russland noch 7000 Kernwaffen, die USA 6780, Frankreich 300, China 260, das Vereinigte Königreich 215, Pakistan 130, Indien 120, Israel vermutlich 80 und Nordkorea 15.[12] Bis 2020 sieht der »New Start«-Vertrag zwischen Russland und den USA eine Reduktion der Sprengköpfe auf 1550 für jede Seite vor. Die Räson ist vor allem ökonomischer Natur. Alleine die USA gaben im letzten Jahrhundert 8,89 Billionen USD für Nuklearwaffen aus,[13] eine weitere Billion wurde noch unter Obama für die nächsten dreißig Jahre freigeschaltet.[14]

Der Atomtod

Der Tod durch eine Atombombe ist entweder sehr schnell oder sehr qualvoll. Im Nahbereich töten die Hitze-, Strahlen- und Druckwelle sekundenschnell. Überlebenden droht die akute Strahlenkrankheit durch die Zerstörung von Körpergewebe in Haut, Darm und Gehirn und auf lange Sicht Krebserkrankungen. Im Fallout befindet sich vor allem Jod 138 mit einer Halbwertszeit (HWZ) von nur 8 Tagen, außerdem Cäsium 137 (HWZ: 27 Jahre) und Strontium 90 (HWZ: 28 Jahre). Die Mushroom Cloud wirbelt Rauch in die Atmosphäre, so dass wissenschaftliche Modelle von einem »nuklearen Winter« ausgehen, der schon bei einem Schlagabtausch mit 100 Kernwaffen, etwa zwischen Indien und Pakistan, entstünde.[15] Hinzu kommt Strahlung und Rauch aus beschädigten Kernkraftwerken und den entfachten Waldbränden.[16] Zwischen 1950-1990 lebte eine Generation unter der ständigen Drohung eines solchen »Nuklearen Holocausts«[17] - der sowohl verdrängt wurde, als sich auch zur Verdrängung real gewordener Genozide und insbesondere dem an den Juden eignete.

Vabanquespiele

Dass die Friedensbewegung vor allem gegen die NATO protestierte, war der antiimperialistischen Ideologie geschuldet, hatte aber auch einen realen Grund. In der schwer zu verteidigenden geographischen Weite Russlands richtete sich alles auf das Zentrum Moskau aus. Eine Zerstörung der Hauptstadt des globalen Stalinismus und weniger weiterer militärischer Zentren und Städte hätte einen anderen Effekt gehabt als die Zerstörung New Yorks oder selbst Westeuropas für die Demokratie. Russlands Außengrenzen waren verwundbar, die USA erwartete eine Invasion lediglich über den logistischen Alptraum Alaska und Kanada oder über Brückenköpfe in Mexiko oder in der Karibik. Daher wurde in Moskau die Stationierung von Raketen in Europa ebenso nervös als Aggression bewertet wie in den USA die Kubakrise von 1962. Ein russischer Offizier, Vasili Arkhipov, verhinderte damals den dritten Weltkrieg. Zerstörer der US-Navy versuchten am 27.9.1962 in internationalen Gewässern vor Kuba das sowjetische Atom-U-Boot B-59 mit Übungsbomben zu vergrämen. Der Kapitän des U-Bootes interpretierte das als Auftakt zum dritten Weltkrieg und ordnete den Abschuss von Nuklearwaffen an. Arkhipov verweigerte als Einziger den Befehl zur Aktivierung und überredete den Kapitän zum Auftauchen und Abwarten.[18
Nachdem ein sowjetischer Brückenkopf in Kuba abgewendet war, fürchteten die USA nicht mehr so sehr einen taktischen Erstschlag, sondern Fehler und Überreaktionen als Resultat des Wirtschaftskrieges, zu dem das Wettrüsten unter Ronald Reagan wurde. 1979 provozierte eine irrig gestartete Simulation die Vorbereitung eines Gegenschlages in den USA, 1983 stoppte auf der russischen Seite Stanislav Petrov einen Gegenschlag auf einen Angriff, den ein Programmfehler ihm vorgaukelte. Wochen später wurde das Großmanöver Able Archer von den USA aus Angst vor einer Eskalation abgebrochen. Dieses Vabanquespiel ebenso wie die groteske Zahl an schweren Unfällen mit Nuklearwaffen streichen das Hauptargument für die atomare Aufrüstung, das »Gleichgewicht des Schreckens«, durch. Am Ende einer Geschichte von Unfällen und Missverständnissen verdanken Menschen heute ihr wie auch immer beschädigtes Leben einer unwahrscheinlichen Kette von Zufällen. Der »heiße« Systemkrieg wurde ohnehin geführt: im Trikont.

Vernünftige Hippies, irrationale Kleinbürger

Das Leben unter der Drohung eines entweder sehr plötzlichen oder sehr qualvollen und womöglich milliardenfachen Todes übte schwer aushaltbaren Druck auf die Psyche aus. Während die Hippies recht vernünftig in Drogenekstase und freier Liebe ihr letztes Äquivalent vor dem Untergang suchten und in der Befreiung vom Tauschprinzip folgerichtig die letzte mögliche Rettung vor dem absoluten Untergang erkannten, bauten (und bauen)[19] die Kleinbürger in ihren Gärten Bunker. Nach einem solchen Krieg noch leben zu wollen, war Kulturtechnik einer Schicht, die gelernt hatte, dass es nach einem Weltkrieg Autos, Kühlschränke und Waschmaschinen für Alle gibt. Die manische Reaktion war weniger einem verzweifelten Überlebenswillen geschuldet, als vernünftigem Einfügen in das irrationale Ganze. Das Gespenstische und Absurde dieser fröhlichen Untergangsstimmung fängt die Spielserie »Fallout« (ab 1997) ein: In Bunkern verordnen Plakate Heiterkeit, draußen spielen Jukeboxes mit letztem Strom auf gesprungenen Platten die immergleichen Zeilen eines fröhlichen Swings vor Ruinen, deren »nuklearer Schutzschirm« versagt hatte. So bewahrt ein Computerspiel die Erinnerung besser als die gealterten Friedensmärsche, die heute vor allem gegen die Existenz des jüdischen Staates oder gegen »den Krieg« als Produkt einer Verschwörung von Waffen- und Ölhändlern demonstrieren. Solche Verfallsformen rechtfertigen nicht zur Entsorgen ihrer historischen Ratio. Weil es zum nuklearen Schlagabtausch nicht kam, wähnt sich der Liberalismus auf dem richtigen Weg in die krisenfreie unendliche Akkumulation. Die Welt würde besser, der Tod ziehe sich zurück, Widerstand war immer schon irrational, so zelebriert populäre Statistik der bürgerlichen Ideologen den irrationalen Weltlauf.

Die ideologische Krise

Heute ist das Ausbleiben von ernsthaften öffentlichen Diskursen über die anhaltende atomare Bedrohung Zeiger für eine ideologische Krise. Wo Außenpolitik als sich wechselseitig verstärkende Inkompetenz und zynischer Egoismus auftritt, ist kein Verlass auf staatlich kompetentes Eingreifen, etwa im Falle eines Umsturzes in Pakistan. Dass die 1973 von Major Harold L. Hering gestellte Frage, ob er bei einem Einsatz von Nuklearwaffen auf die geistige Gesundheit des Präsidenten vertrauen könne, erst mit Donald Trump wieder aufs Tableau kam, belegt die Ignoranz gegenüber der älteren Frage, wie einem Russland zu begegnen wäre, das vielleicht schon morgen einem anderen autoritären Regime, etwa Syrien oder Iran, die Bombe schenkt. Die russische und die chinesische Diktatur könnten in einem abrupten Zerfall enden. Die Vermeidung erklärt sich vor allem aus der Unlust, die der Gegenstand selbst erzeugt: Im negativen Telos des Atomkrieges trifft maximale Herrschaft auf maximale Ohnmacht des Einzelnen. Dann wäre jede noch so verzweifelte Hoffnung auf Zivilisation beerdigt.

 

[1] Dan Diner, Interview auf Bayern Alpha, 22.8.2017.
[2] Zu den Todeszahlen siehe: http://www.atomicarchive.com/Docs/MED/med_chp10.shtml
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Tsar_Bomba
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Davy_Crockett_(nuclear_device)
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Fulda_Gap
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Atomic_Demolition_Munitions
[7] https://ourworldindata.org/nuclear-weapons/
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_nuclear_weapons_tests
[9] Exposure of the American Population to Radioactive Fallout from Nuclear Weapons Tests: A Review of the CDC-NCI Draft Report on a Feasibility Study of the Health Consequences to the American Population from Nuclear Weapons Tests Conducted by the United States and Other Nations (2003).
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_Plowshare
[11] https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_Explosions_for_the_National_Economy
[12] https://fas.org/issues/nuclear-weapons/status-world-nuclear-forces/, http://www.ploughshares.org/world-nuclear-stockpile-report
[13] Federal Reserve Bank of Minneapolis Community Development Project. Via: https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_weapons_and_the_United_States
[14] https://www.nytimes.com/roomfordebate/2016/10/26/a-nuclear-arsenal-upgrade/a-trillion-dollar-nuclear-weapon-modernization-is-unnecessary
[15] Turco/Toon/Ackerman/Pollack/Sagen 1983: Nuclear Winter: Global Consequences of Multiple Nuclear Explosions. Science 23/1983, Nr. 222, S. 1283-1292. https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_holocaust, Vgl. Mills/Toon/ Lee-Taylor/ Robock (2014): Multidecadal global cooling and unprecedented ozone loss following a regional nuclear conflict, Earth‘s Future, 2.
[16] Der Soziologe Brian Martin hält Thesen vom Overkill und Nuklearem Winter für (nicht mehr) haltbar. S. Martin, Brian (1982): The global health effects of nuclear war. In: Current Affairs Bulletin, Nr. 59, UNO. 7, S. 14-26.  
[17] Das antike Wort »Holocaust« fand im Mittelalter für Brandkatastrophen und ab 1895 für Massaker an den Armeniern Verwendung. Es wurde vor 1970 selbstverständlich für Atomkriegsszenarien verwendet und erfuhr erst dann seine fast ausschließliche Verwendung für den Genozid an sechs Millionen Juden. S. https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_(Begriff)
[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Wassili_Alexandrowitsch_Archipow
[19] Die Firma »Rising Bunkers« verzeichnet seit der Wahl Trumps um 400% gestiegene Umsatzzahlen. S. http://www.independent.co.uk/news/world/americas/donald-trump-doomsday-bunkers-underground-nuclear-war-apocalypse-a7578566.html.

Einübung in den thermonuklearen Krieg: Das »Monogram Missile Arsenal«
aus dem Jahr 1958 (Bild: James Vaughan)