Anfangen
Unlängst beging meine Mutter in größerem Familien- und Vertrautenkreis ihren 70. Geburtstag in einer Mostschenke im Süden Österreichs. Wie es sich für die Gastgeberin gehört, traf sie bereits vor der Festgesellschaft ein, um sich einen Überblick über Ambiente, Speiseordnung und Getränkeangebot zu verschaffen. Wie es sich für die Wirtin gehört, verwickelte sie die Auftraggeberin in Smalltalk, und ich als Beisitzerin staunte nicht schlecht, als an diesem Freudentag ein äußerst eigenwilliges Thema herangezogen wurde, um das Eis zu brechen. Die Wirtin berichtete zu diesem Zwecke von einem 90jährigen Mann, der sich Tage zuvor im nahegelegenen Altersheim zielsicher ein Buttermesser ins Herz gerammt hatte, um seinem Dasein im Hier ein Ende zu bereiten. Aus der Wirtin sprach Bewunderung für den Mut und die Überwindung, die der Protagonist dieser für einen Geburtstag so wunderlichen Erzählung an den Tag gelegt hatte. Ich erinnere diese Anekdote nach wie vor mit Unbehagen, weil mir der Selbstmord eines Menschen als Einleitung für die Geburtstagsfeier meiner Mutter vollkommen daneben erscheint. Abgesehen davon beschäftigt mich der Respekt der Wirtin gegenüber dem aus dem Leben Gegangenen. Diese Reaktion erscheint mir untypisch für eine Gegend, unweit derer vor einigen Jahren ein junger Mann, der sich das Leben nahm, nicht am Friedhof, sondern auf dessen Parkplatz beigesetzt wurde, dort, wo die Straße vorbeiführt, und alle Vorbeifahrenden das Tempo ihrer Autos drosseln, um die Tragödie zu spektakularisieren; ich wüsste nicht, wie man der Familie des Gegangenen zugunsten der Einhaltung katholischer Grundprinzipien noch respektloser gegenüber treten könnte mit dem Ziel, die Versündigung des Verstorbenen an sich selbst auszustellen.
Sich selbst vorzeitig abschaffen, den Tod nicht erwarten wollen, bezeichnet einen Akt der Überschreitung. Dass die Selbstabschaffung eines Menschen bei den Hinterbliebenen eine unfassbare Verzweiflung auslöst, die mit Worten eigentlich nicht fassbar ist, kann dem_der sich Tötenden im Moment des Sich-aus-dem-Leben-Machens offensichtlich kein Hindernis sein. Die Suche nach Motiven gestaltet sich für die Überlebenden als aufreibender Prozess: ein Einfordern von Antworten, die niemals geliefert werden – ist der Mensch, der Auskunft geben könnte über die Beweggründe, doch nicht mehr greifbar. Das wahrscheinlich Schwierigste an der Bewältigung des gewaltsam herbeigeführten, freiwilligen Wegganges eines nahestehenden Menschen ist das Überbordwerfen moralischer Kategorien. In einer Gesellschaft, deren Dynamik durch starke Individualisierung bei gleichzeitiger Dauersanktionierung schwächlicher Verhaltensweisen durch die Gemeinschaft geprägt ist, spielen kollektiv erarbeitete Moralvorstellungen selbstverständlich eine Rolle, zumal die Gesellschaft – wie bereits erwähnt – katholisch geprägt ist (ich spreche von Mitteleuropa).
Soziologie und die Idee des Verhinderns – Émile Durkheim
Mit moralischen Ansätzen den Selbstmord eines Menschen verstehen zu wollen, ist ein vollkommen sinnloses Unterfangen. Das wusste der französische Soziologe Émile Durkheim, der 1897 mit »Le suicide« eine der ersten umfassenden soziologischen Studien überhaupt vorlegte, die – unabhängig vom Untersuchungsobjekt – bis heute als Wegbereiterin der soziologischen Methode im Sinne der Erfüllung der Regeln guten wissenschaftlichen Arbeitens gilt. Durkheim wählt für die Schärfung der Methodologie seines Faches ausgerechnet den Selbstmord, weil er ihm als »leicht zu bestimmender Gegenstand« gilt. Dies impliziert, dass der Selbstmord auch eine Sache der Definition ist, die Durkheim letztendlich wie folgt herleitet: »Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte.«[1] Damit weist Durkheim ganz klar aus, dass der Selbstmord einen bewussten Akt darstellt, dessen Konsequenzen der_die Täter_in trägt. Die Motive der Selbstmörder_innen, aus denen sich Durkheims Statistiken zusammensetzen, sind nicht Gegenstand des Interesses. Vielmehr analysiert der Soziologe die Zusammenhänge von Selbstmord und gesellschaftlichen Gegebenheiten. So interessiert sich Durkheim beispielsweise für das Verhältnis von Alkoholismus und Selbstmord, ohne aber zu behaupten, dass das eine kausal mit dem anderen zusammenhängen würde. Es kann Verbindungen geben, schließlich muss aber nach der Feststellung eines Zusammenhanges weiterführend immer ins Auge gefasst werden, warum es zum Beispiel in einer bestimmten Region Europas zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erhöhtem Alkoholkonsum unter Männern kommt, der dann zu erhöhten Selbstmordraten führt – oder auch nicht.[2] Aus seinen Statistiken liest Durkheim – ein weiteres Beispiel – auch heraus, dass um 1850 in den »Irrenanstalten« Europas mehr »geisteskranke« Frauen zu finden sind, als Männer, dass aber der Selbstmord unter Männern generell weiter verbreitet ist als unter Frauen. Die Zahlen, die Durkheim für diese Aussage in Anschlag bringt, müssen klarerweise die Frage nach sich ziehen, wie es kommt, dass es mehr weibliche Patientinnen gibt, welche Diagnosen gestellt wurden etc.
In der Frage, wie das Aufkommen der Selbstmorde – als durch soziale Zusammenhänge hervorgerufene Tat – einzudämmen wäre, vermutet Durkheim die Lösung in einer Gemeinschaft, die im Menschen das »heilsame Gefühl der Solidarität zurück[...]rufen kann«. Das schließt laut Durkheim die »politische Gesellschaft« der modernen Staaten des auslaufenden 19. Jahrhunderts als Möglichkeit aus, zu unsicher ist die Position des Subjekts in dieser Art sozialen Gefüges. Auch die Religionen bieten mit ihrer Ablehnung kritischen Denkens keine Lösung, denn Reflexion ist für die Selbstvergewisserung des Ichs im Verhältnis zur Welt zwingend notwendig, um sich in ihr zurechtzufinden. Ebenso wenig wird die Familie laut Durkheim das Auffangnetz sein, das sich auf die Reise Machende von ihrer Idee abhält. Jene Gemeinschaften, die laut dem französischen Forscher das Individuum so stark in sich aufnehmen, dass es ein für sich alles erfüllendes Leben leben kann, sind laut Durkheim Interessensgemeinschaften wie Berufsverbände, die staatlich eingebunden sein sollen, ohne allerdings von der Staatsmaschinerie kontrolliert zu werden. Die Umsetzung dieser Idee erfordere eine Reorganisation der herrschenden Verhältnisse, die allen zugute kommen solle. Aus den resümierenden Überlegungen Durkheims geht hervor, dass er – basierend auf der Auswertung seiner Statistiken – auch die Idee verfolgt, Menschen gesellschaftlich soweit aufzufangen, dass sie sich erst gar nicht in die Lage bringen, freiwillig gehen zu wollen. Es geht also um ein Verhindern, das auf einer ganzheitlichen Verbesserung der Gesellschaft zugunsten des Einzelnen als Mitglied einer Gemeinschaft fußt. Diese philanthropische Idee Émile Durkheims steht komplett konträr zu den Überlegungen eines anderen Intellektuellen, der sich eingehend mit dem Freitod auseinandergesetzt hat, und dies unter der Prämisse der Verfechtung eines radikalen Individualismus.
Hand an sich legen – Jean Améry
1976 veröffentlicht der österreichische Schriftsteller Jean Améry sein Buch »Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod«. Améry stellt gleich zu Beginn klar, dass es sich bei seiner Schrift um keine wissenschaftliche Untersuchung handelt, auch nicht um eine »Apologie des Freitods«[3], dessen Diskurs für Améry dort beginnt, »wo die Psychologie endet«. Empathisch geht der Schriftsteller an das Thema heran, auch sich selbst beobachtend, der »[e]in ziemlich langes Leben intimen Umgangs mit dem Tod im allgemeinen, dem Freitod im besonderen«[4] pflegte. Bereits aus seiner Sprache lässt sich die poetische Annäherung an den Gegenstand herauslesen, er spricht vom »Zum-Tode-hin-leben«, von der »Dekomposition« des eigenen Körpers durch den Menschen, »der sich selbst abfertigt«. Den Freitod definiert Améry als Ausbruch aus der Logik des Lebens, dementsprechend als Lossagung vom angewandten Regelwerk einer Gesellschaft, egal, wie sie aufgestellt ist. Der_die Einzelne schuldet ihr nichts, am wenigsten das eigene Leben. Indem er den Selbstmord als »natürlichen«, weil selbst entschiedenen und vollführten Tod ansieht, verteidigt Améry das Recht des Individuums an sich selbst. Die Schwierigkeit einer Anbindung an Gemeinschaft kann dem_der Selbsttäterin durchaus Motiv sein, auch die Zerrüttung der psychischen Konstitution, aber all dies schildert Améry nicht als Negatives: Es muss dem Menschen natürlich sein dürfen, im Sinne der mehrheitlichen Meinung nicht zu funktionieren, ohne gleich als krank zu gelten. Es muss dem_der Einzelnen erlaubt sein, den »Seinsekel« und eine »Todesneigung« zu thematisieren, ohne dafür gleich in der geschlossenen Anstalt zu landen. Es muss dem_der Einzelnen offenstehen, über Zeitpunkt und Art des Ablebens die Oberhand zu haben.
Zwei Jahre nach Erscheinen seines Buches stellt Améry seine Mitmenschen vor die Herausforderung, die ausformulierten Gedanken zum Freitod als Erklärung zu lesen – Améry hat final Hand an sich gelegt. »[m]an kann nicht mit den Toten leben«, schreibt Améry, und spricht damit eine unumstößliche Wahrheit aus. Man kann die Entscheidung der sich selbst getötet Habenden akzeptieren, ohne sich Trost davon zu versprechen. Man kann zur Kenntnis nehmen, dass der Selbstmord eines unbekannten 90jährigen ein richtiges Scheißthema für einen Geburtstag ist und gleichzeitig anerkennen, dass dem radikalen Akt, den er vorgenommen hat, eine Souveränität innewohnt, die durch nichts und niemanden legitimiert werden muss.