Zur Analyse und Kritik autoritärer Denk- und Handlungsmuster wird nicht selten das Konzept des autoritären Charakters aufgegriffen. Die Studien zum autoritären Charakter von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel Levinson und Nevitt Sanford sind nicht nur zu einem Klassiker der Sozialforschung avanciert, sie haben auch Eingang in das allgemeinere Bildungsbewusstsein gefunden. Gerade angesichts erstarkender autoritärer Politik finden sich in den Feuilletons immer wieder Beiträge zur Entstehung und Aktualität des Konzepts.
Erstmals publiziert wurde die Untersuchung 1950 in den USA als Teil der Reihe Studies in Prejudice. In deutscher Sprache erschien The Authoritarian Personality 1969 als Teilausgabe unter dem Titel Studien zum autoritären Charakter. Hauptthema der Studie ist die Anfälligkeit des Individuums für den Faschismus im Kontext des damaligen, fordistischen Kapitalismus. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht erklärte Faschisten oder Angehörige faschistischer Organisationen, sondern das »potentiell faschistische Individuum«. Dessen spezifische Charakterstruktur mache es »besonders empfänglich für antidemokratische Propaganda«. Ein Thema, das seitdem nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Die Propaganda selbst, das kulturelle Klima (in dem z.B. dezidiert faschistische Äußerungen in der Öffentlichkeit geduldet werden) oder wirtschaftliche Faktoren werden in The Authoritarian Personality nur indirekt behandelt: »Wir verbleiben gewissermaßen im Bereich der Reaktionen, nicht der Reize«, erklärte Adorno hierzu. Das Sample der Studie bestand aus Angehörigen der weißen, nicht-jüdischen, in den USA geborenen, in den Großstädten der Westküste lebenden Mittelschicht. Die meisten Probanden waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung in den 1940ern zwischen 20 und 35 Jahre alt.
Gesellschaftliche Bedingungen des autoritären Charakters
The Authoritarian Personality war nicht nur ein Produkt des exilierten Instituts für Sozialforschung (IfS). Die Studie entstand in Kooperation mit der Berkeley Public Opinion Study Group, in die zudem auch das American Jewish Committee, der Geldgeber, inhaltlich eingebunden war. Entsprechend vielfältig sind die Einflüsse, die in die Untersuchung eingegangen sind. Der kleinste gemeinsame Nenner der Forschenden bestand in der Orientierung am dynamischen Charaktermodell der Psychoanalyse bei gleichzeitiger Ablehnung der metapsychologischen und phylogenetischen Spekulationen Sigmund Freuds.
Dem IfS ging es, so dessen Direktor Max Horkheimer in seinem Vorwort zu The Authoritarian Personality, um
[e]in relativ neues Konzept – das Aufkommen einer ‚anthropologischen Spezies‘, die wir als autoritären Menschentypus bezeichnen. Im Gegensatz zum Fanatiker früherer Zeiten scheint er die für eine hochindustrialisierte Gesellschaft charakteristischen Vorstellungen und Fähigkeiten mit irrationalen oder antirationalen Überzeugungen zu verbinden. Er ist zugleich aufgeklärt und abergläubisch, stolz, Individualist zu sei und in ständiger Furcht, nicht so zu sein wie die anderen, eifersüchtig auf seine Unabhängigkeit bedacht und geneigt, sich blindlings der Macht und Autorität zu unterwerfen.
Heute, siebzig Jahre nach erstmaligem Erscheinen von The Authoritarian Personality, ist die gesellschaftliche Ausgangslage für das »potentiell faschistische Individuum« eine andere: Die fordistische Industriegesellschaft ist passé, und auch die Familienstrukturen haben sich vor allem mit dem Bedeutungsverlust des autoritären Vaters, der in der Studie von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford noch eine zentrale Rolle spielte, verändert. Dazu kommen die umfassende Digitalisierung der Gesellschaft sowie der Islamismus als weitere, spezifische autoritäre Versuchung. Vor diesem Hintergrund fragt der jüngst erschienene Sammelband »Konformistische Rebellen« (Verbrecher Verlag) nach dem Erklärungspotential einer psychoanalytisch informierten kritischen Theorie des Autoritarismus für das Hier und Jetzt.
Autorität und Autoritarismus
In insgesamt 22 Beiträgen beleuchten die Autor*innen autoritäre Charakterstrukturen als Konzept sowie als soziale Realität. In einigen Beiträgen werden theoretische Grundlagen kritischer Autoritarismusforschung skizziert, andere Aufsätze hingegen widmen sich spezifischen Aspekten autoritärer Charakterstruktur (wie etwa Geschlecht oder Antisemitismus) aus historischer, sozialwissenschaftlicher und psychologischer Perspektive. Nicht zuletzt geht es in zahlreichen Beiträgen um die Aktualität des Konzepts des autoritären Charakters in Bezug auf aktuelle Phänomene wie Linkspopulismus, islamische Ehrvorstellungen oder Identitätspolitik.
Mit den beiden zentralen Begriffen der Autorität und des Autoritarismus beschäftigt sich der Soziologe Björn Milbrandt in seinem Grundlagentext. Etymologisch zurückgehend auf das lateinische auctor (Urheber, Schöpfer, Autor), verweise die religiöse Konnotation des Begriffs ‚Autorität‘ auf die biblische Schöpfungsgeschichte und die göttliche Allmacht gegenüber den als wehrlos dargestellten Menschen. Intersubjektiv hingegen sei Autorität ein – durchaus fragiles – reziprokes Anerkennungsverhältnis, das erst situativ und relational hergestellt werde.
Insgesamt umfasse der Begriff der Autorität sowohl Elemente von Freiheit als auch von Unterordnung, sei also nicht per se antidemokratisch. Der ihm innewohnende Zwang werde zudem nicht unbedingt als solcher empfunden, da er durch emotionale Beziehungen ergänzt oder verstärkt werde (siehe etwa die Erziehung zur Mündigkeit durch elterliche oder schulische Autoritäten). Wo aber die gesamte Weltsicht auf emotional stark besetzte Unter- und Überordnungsverhältnisse ausgerichtet ist, spricht Milbrandt in Anlehnung an die Kritische Theorie hingegen von einem autoritären Persönlichkeitstyp mit entsprechender Disposition, die Freiheit, Liberalismus und Demokratie entgegensteht.
Milbrandt zufolge sei die Autoritarismusforschung so sehr von der Einstellungsforschung dominiert, dass ethnografische, sozialräumliche sowie entwicklungspsychologische Untersuchungen zu kurz kämen. Zudem fehlten Verlaufsstudien, die Individuen über einen längeren Zeitraum in ihren sozialen Kontexten begleiten, sowie aktuelle Untersuchungen zum Einfluss von Erziehungsstilen, Eltern, Bindungserfahrungen und Peergroups auf die Herausbildung von autoritären Charakterstrukturen. Nicht zuletzt sei die Bedeutung von sozialen Netzwerken und digitalen Medien ein Desiderat aktueller Autoritarismusforschung. Es ist bemerkenswert, dass dieser naheliegende Aspekt bisher kaum thematisiert worden zu sein scheint.
Narzisstischer Charakter?
Ein wichtiger Bestandteil von The Authoritarian Personality sind die einzelnen Typen bzw. Syndrome des autoritären Charakters, die Adorno et al. anhand des empirischen Materials in den 1940ern bestimmten. Deren Charakterzüge – etwa Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit, Aggressivität, Neigung zu Projektion oder Manipulation – seien in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen jeweils individuell ausgeprägt. Insgesamt identifizierten die Forschenden sechs Typen, darunter Probanden mit ‚Oberflächenressentiment‘, ‚Konventionellem Syndrom‘ und ‚Autoritärem Syndrom‘.
Mit der Aktualität dieser Typologie, sowie deren theoretischen Prämissen beschäftigen sich auch einige Beiträge im Sammelband »Konformistische Rebellen«. Dabei spielt der Begriff des narzisstischen Charakters eine entscheidende Rolle. Peter Schulz etwa argumentiert, dass die zu Lebzeiten Adornos verbreitete autoritäre sowie konventionelle Persönlichkeit im postfordistischen Kapitalismus durch einen narzisstischen Charaktertyp ergänzt worden ist, wobei letzterer in ersteren umschlagen kann, sofern die narzisstische Kompensation des heutzutage virulenten Anerkennungsmangels scheitert.
Schließlich verortet Schulz die drei Sozialcharaktere des postfordistischen Kapitalismus soziostrukturell in verschiedenen sozialen Zonen mit jeweils eigenen Integrationsinstitutionen. Der narzisstische Charakter sei demzufolge etwa unter prekär beschäftigten Akademiker*innen zu finden, bei denen eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit und die damit einhergehende In-Funktion-Setzen der Triebe statt ihre Unterdrückung vorherrsche. Begünstigt wurden die Syndrome des narzisstischen Charakters durch ein relativ hohes Einkommen, das es erlaube, eigene Bedürfnisse über die Konsumangebote der Kulturindustrie zu befriedigen, in denen zugleich das Bedürfnis nach Individualität zum Schein erfüllt werde.
Der konventionelle Charakter hingegen sei vorherrschend etwa unter gewerkschaftlich abgesicherten Fachar-beiter*innen sowie Beamten und Angestellten im Öffentlichen Dienst, deren Arbeitsleben und Freizeit stark standardisiert und an herrschenden Konventionen ausgerichtet sei. Die Syndrome des autoritären Charakters seien nicht auf die neu-rechten Funktions-eliten beschränkt, sondern ließen sich auch unter Prekarisierten und vom Massenkonsum weitgehend Exkludierten, die vorrangig körperlich arbeiten, finden. Als Integrationsinstitutionen dienten hier weniger Familie oder Schule, sondern fundamentalistische Religiosität, die Strafjustiz oder administrative Kontrollagenturen wie das Jobcenter.
Insgesamt decken die Aufsätze in »Konformistische Rebellen« ein enormes Spektrum an Themen und Zugängen ab. Positiv fällt auf, dass die Publikationen der Kritischen Theorie zwar immer die zentrale Referenz sind, die Aufsätze des Sammelbandes sich aber nie in einer ideengeschichtliche Exegese des vor siebzig Jahren Veröffentlichten erschöpfen. »Konformistische Rebellen« gelingt es, der Frage nach der Aktualität der Studien zum Autoritären Charakter nachzugehen. Der Forschungsgegenstand wird sich auch weiterhin verändern. Um sich den autoritären Charakteren von heute wirkungsvoll entgegenstellen zu können, muss dies berücksichtigt werden.
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Stahl, Andreas / Henkelmann, Katrin / Jäckel, Christian / Wünsch, Niklas / Zopes Benedikt, Hg. (2020): Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters. Verbrecher-Verlag, Berlin, 424 Seiten, 24,00 €.