Oh, wie absurd ist Kapitalistan

Einige Halbschlafskizzen von Antonia Pilar-Becco über die Fesseln der Infantilität im Wertschöpfungsfetischismus.

Enlightenment-Cosplay

Es träumte mir unlängst ein Film, der wie einer dieser dummen Superhelden-Kostümfilme begann, mit denen die großen Produktionsstudios seit einigen Jahre ihre Box-Office Vorgaben übererfüllen. Die Sache startete dementsprechend grellbunt, aber gehaltfrei – was sich dann aber umkehrte: Die Kostüme wurden schäbiger und die Kulissen wandelten sich von Computer Generated Imagery zu bemaltem Pappkarton, von dem die Farbe bröckelte. Gleichzeitig gewannen die Charaktere an Dimension: Ihre anfangs stupiden Phrasen wichen Reflexionen über die eigene Position – kein Durchbrechen der »vierten Wand« als billiger postmoderner Effekt,  sondern Selbstbewusstsein in statu nascendi. Irgendwann wunderten sich die Figuren retrospektiv darüber, wie sie als hohle Marionetten hatten existieren können, vermochten aber nicht, den Umschlagpunkt zu identifizieren, an dem sie diesen Zustand verlassen hatten. Sie waren nur froh darüber, dass es so war, und anders als in Platons Höhlengleichnis blieb niemand in der Höhle zurück – dementsprechend musste auch niemand von denen, die nach ihrem Kontakt mit der Sonne »die Augen voller Strahlen« hatten (wie es in Schleiermachers Platon-Übersetzung heißt) wieder zurück in die Dunkelheit und riskieren, von den Zurückgebliebenen erschlagen zu werden.

Der Traum entblößt sich beim Erwachen als nichts anderes, als das Aufklärungsmärchen vom Ausgang aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie es so viele gibt – die interessantesten diejenigen, die ungewollt vom Scheitern dieses Unterfangens erzählen.

Emanzipation rückwärts

In Franco Zeffirrellis Film »Fratello Sole, sorella Luna« (Bruder Sonne, Schwester Mond) von 1972 – dem filmgewordenen Hippietraum von einem Christentum ohne Gewalt, Korruption und Mord im Büßergewand einer Interpretation der Biographie Franz von Assisis – wird ein ähnlicher Vorgang des Erwachens in einer wunderschön gefilmten Szene gezeigt: Der kriegstraumatisierte Giovanni di Pietro di Bernardone, Sohn eines betuchten – nun ja – Tuchhändlers, erwacht aus seinem Delirium und sieht einen Haussperling auf dem Balkon des Zimmers. Er folgt ihm – verzückt wie jemand, der noch nie etwas Bezaubernderes bei klarerem Verstand gesehen hat – über die Dächer Assisis und macht sich mit dieser Akrobatik zum Kuriosum für die Straßenöffentlichkeit. Als er im Anschluss aller materiellen Güter entsagt und Besitzlosigkeit predigt, wird er zum Außenseiter, zum Gespött, zum Feindbild. Die Moral ist klar: Francesco wendet sich vom irdischen Tand ab und sucht die Gotteserfahrung im Kontakt mit der Natur als Schöpfung.

Wie immer bei Filmen über historische Stoffe sagt das weniger über den Gegenstand aus, als über die Zeit, in der sie gedreht wurden. Aus dem entfalteten Kapitalismus des 20. Jahrhunderts heraus wird das Erwachen sowohl als Abkehr von den gesellschaftlichen Brutalitäten (Krieg, Machtkämpfe von Klerus und Adel) gedeutet, als auch von der aufkeimenden Verrechtlichung sozialer Beziehungen unterm Tauschgesetz, die zu jener Zeit noch nicht einmal als Handelskapitalismus qualifizierten. Der Ausweg bestand – dem Zeitgeist post-68 gemäß – in der Flucht ins Unmittelbare, in den Schoß unsichtbarer Mächte. Die Figur Franziskus wird aus den als korrupt und makelhaft empfundenen Verflechtungen menschlicher Herrschaftsformen herausdestilliert und göttlichen überstellt. Damit ist das Emanzipation im vorneuzeitlichen Verständnis: E manu capere (aus der Hand nehmen) meinte den symbolischen Vorgang, in dem die Kontrolle über einen unfreien Menschen übertragen wurde – die Gewalt über die Tochter ging vom Vater auf den Mann über, dessen Ehefrau sie wurde. Als Akt der Selbstbefreiung wurde Emanzipation erst im Zuge der Aufklärung in der sich entfaltenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verstanden.

Regression vorwärts

Kant war nicht nur richtungsweisender »Vertreter« der Aufklärungsbewegung, der ihr einen Weg bahnte, sondern auch ihr wichtigster Ideologe, der bei dieser Schneisenbildung Abhub produzierte, der an den Rand gedrängt oder entsorgt wurde. Das zeigt sehr gut die berühmt gewordene Formulierung von der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«, aus der der Ausgang gefunden werden soll:

»Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«

Weniger geschraubt und näher an der Phrase formuliert: Jeder ist des eigenen Bewusstseins Schmied. Die Idee der Befreiung als Gattungswesen aus dem selbstverschuldeten Wirtschaftssystem wurde damit entsorgt. Kein Wunder, dass der Königsberger zum Posterboy des Liberalismus wurde – wenn man sich genügend anstrengt, klappt es auch mit der Emanzipation.

Die von der Aufklärung gepriesenen Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft werden nicht eingelöst und die Nabelschnur der Religion lediglich durch die der Mehrwertproduktion ersetzt, die andere Abhängigkeiten erzeugt, diese aber unter simulierter Selbstbestimmung versteckt.

Primärer Narzissmus

Kapitalismus ist Infantilität in Permanenz, was ständig aus dem Bewusstsein gedrängt werden muss. Wie Säuglinge existieren Wirtschaftssubjekte als warenproduzierende Monaden in reiner Selbstbezüglichkeit, die durch den Warentausch nur scheinbar durchbrochen wird: »His majesty the baby« (Freud) hat zu viel mit den eigenen Trieb-Bedürfnissen zu tun, als sich um die Außenwelt zu scheren, und die – historisch erst jüngst entstandene, aber systematisch schon in den kapitalistischen Anfängen angelegte – Ich-AG damit, die eigene Ware (Zeug, Arbeitskraft) auf dem Markt als solche zu realisieren. Ungeachtet, ob es sich um Granaten oder Granatäpfel handelt.

Schon vor Simon Beckett hat Georg Büchner die Absurdität kapitalistischer Logik und was sie mit Menschen anstellt, in der ersten Szene von »Leonce und Lena« anschaulich gefasst:

»Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu thun, ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. Sehen Sie, erst habe ich auf den Stein hier dreihundert fünf und sechzig Mal hintereinander zu spucken. Haben Sie das noch nicht probirt?«

Heute ist es allerdings so, dass den einen die Sinnlosigkeit ihrer »Bullshitjobs« (Graeber) immer stärker (zumindest diffus) bewusst wird, während andere aus dem System der Lohnarbeit komplett rausfallen. Irgendwann kompensiert auch das schönste Unterhaltungsprogramm nicht mehr die Verschwendung von Lebenszeit beim Versuch, über unsinnige Verrenkungen wieder in den Arbeitsmarkt zu gelangen oder sich mittels absurder Tätigkeiten in ihm zu halten.

Wahnsystemische Aufstellung

Die scheinbare Rationalität des Stahlkorsetts der Moderne entpuppt sich aber nicht unmittelbar als der Wahnsinn, der sie immer schon war, sondern wird zur Zwangsjacke, in die sich die Menschen – wie in einer Fingerfalle – umso tiefer verstricken, je heftiger sie versuchen, ihr zu entrinnen. Was Aufwachraum sein könnte, bleibt Gummizelle.

Die gesellschaftliche Praxis, für die eigenen Handlungen nur bis zum nächsten Tauschakt die Verantwortung zu übernehmen, bzw. in dessen Zustandekommen die Rechtfertigung des eigenen Tuns zu sehen, bleibt unhinterfragt. Das ist das Verhalten von Kleinkindern, denen die Fähigkeit zur Dezentrierung fehlt und genau diese kindische Ignoranz verhindert jeden ernsthaften Versuch, den Kapitalismus tatsächlich abzuschaffen.

Die Verteidigung dieser destruktiven Lebensgrundlage geschieht arbeitsteilig: Für das »Normalbewusstsein« ist sie eine Naturnotwendigkeit, auf die man genausoviel Einfluss hat, wie auf die Schwerkraft – der »lunatic fringe« verharmlost die letztlich banale Realität der Mehrwertproduktion, indem sie diese zum Produkt sinistrer Verschwörungen erklärt.

Der XXX-tremismus der Mitte

Zweifellos sind zigtausende Wirrköpfe besorgniserregend, wenn sie geballt auftreten (etwa auf »Hygienedemos«) und die digitalen Plattformen mit (meist antisemitischem) Verschwörungsirrsinn fluten. Gefährlicher (weil wirkmächtiger) ist aber der Extremismus der Mitte, das business as usual, der Wahnsinn der Normalität, der seine Pathologie zum Behandlungsleitfaden erhoben hat. Das politische Programm der »Mitte« besteht allein darin, das Eiapopeia vom schützenden Schirm des Zentrums zu singen. Faschismus und Antifaschismus seien zwei Seiten derselben Münze, die man nicht im Portemonnaie haben möchte. Da dieser bad penny aber immer zurückkommt, muss die bürgerliche Mitte wehrhaft »gegen alle Formen des Extremismus« vorgehen, egal – Achtung, jetzt kommt der Refrain – »ob von Rechts oder von Links«. Im kuscheligen Kern der Wirtschaftskompetenz regieren schließlich Vernunft und Hausverstand in trauter Koalition mit Handschlagqualität. Beispielsweise so:

  • »Gesundheitssysteme«, die Anreize schaffen, Krankheiten nicht nur zu behandeln, sondern auch zu erzeugen: Es ist lukrativer, Menschen auf Basis von maßgeblich durch Pharmafirmen festgelegten Grenzwerten mit Medikamenten abzufüllen, sie durch Spitalsbetten zu schleusen (Fallpauschalen) und selbst ohne ausreichende medizinische Indikation zu operieren (um die vorgeschrieben Quoten zu erfüllen und teuer angeschaffte Gerätschaften zu amortisieren), als auf die tatsächlichen Bedürfnisse einzugehen. Dafür ist meist auch gar keine Zeit.
  • Agrarindustrien, die Existenzgrundlagen zerstören, um konkurrenzfähig zu sein, bei Preisverfall für die Müllkippe produzieren (»Hunger ist kein Grund für Produktion«, wie Max Horkheimer treffend bemerkte) und nebenbei durch die in den Tierfabriken eingesetzten Antibiotika für Resistenzen bei Bakterien sorgen, die für Menschen gefährlich sind und – zusammen mit den eingesetzten Pestiziden – eine globale Gesundheitsbedrohung darstellen.
  • Firmen, die samt ihrer Produkte in den Orkus der Geschichte gehörten, um deren Fortbestand man aber zittern muss – einzig, weil die Existenzen von Menschen daran gekettet sind.


Dagegen nehmen sich die Paralleluniversen der Wahnwichtel mit ihren Reptiloiden durchdacht wie ein Schachrätsel aus. Auch ihr paranoides Misstrauen gegenüber philanthropischen Milliardären ist nicht ganz unangebracht und zwingt diese zumindest zur Rechtfertigung. Natürlich hat Bill Gates das Coronavirus nicht in die Welt gesetzt (dafür aber das Computervirus »Windows«), sein Plan, Malaria mittels genetisch veränderter Stechmücken zu beseitigen, erinnert aber frappant an Versprechen, den Welthunger durch genverändertes Saatgut zu stillen. Wer ist verantwortlich, wenn das genauso zum Bumerang wird, wie die großflächigen Versuche mit Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) in den vergangenen Jahrzehnten?

Dass Medien die bizarren Verschwörungsphantasien überproportional thematisieren, dürfte mehrere Gründe haben: Neben persönlicher Faszination und dem – heute über Klickzahlen in Echtzeit messbaren – Sensationswert erfüllen Schau- und Angstlust noch die ideologische Funktion von Selbstvergewisserung und Normalitätsherstellung in Abgrenzung zu den »Realitätsverweigerern«.

Medien bekommen in den gspinnerten Meinungen, Behauptungen und Anklagen von QAnon & Co. auch ihre eigene Rolle als »4. Gewalt« in verstümmelter Form gespiegelt: Die Mächtigen zur Verantwortung zu ziehen. Entweder sind diese aber gar nicht so einflussreich, wie ihnen angedichtet wird (sondern nur Rädchen im System, von denen man nichts fordern kann) oder sie sind relevante Anzeigenkunden. Dann lieber den status quo gegen die überdrehte Konkurrenz in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie verteidigen. Der Schritt von »hat Prinzessin Kate ein Babybäuchlein?« zu »betreibt Hillary Clinton einen Kinderpornoring?« ist aber in der medialen Logik kein großer. Man wird doch wohl noch investigieren dürfen – dafür, dass irgendwer aus dem Frage- ein Rufzeichen macht, ist man doch nicht verantwortlich. Wenn wir es nicht schreiben, bringt es die Konkurrenz.

Coda: We don‘t need another hero!

Ein utopischer, aber notwendiger Ausweg aus der Malaise bestünde darin, profitorientierte Produktion durch bedürfnisorientierte zu ersetzen. Das würde bedeuten, Verantwortung zu übernehmen und für ein Ende der Ausbeutung Sorge zu tragen. Weil immer offensichtlicher wird, wie irrsinnig und unmenschlich das System ist und wie tief es auf allen Ebenen implementiert ist, scheint Heroismus der Ausweg: Irgendjemand wendet mittels immenser Kraftanstrengung auf einen Schlag alles zum Guten. Bill & Melinda besiegten alle Krankheiten und alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende.

Weil die Gesellschaft nicht sinnvoll eingerichtet ist und keinen Traum von sich selber träumen kann, hinter dem nicht der Albtraum lauert, verscheuchen Allmachtsphantasien die Erinnerung daran, dass bei den Superheldenschinken nicht wir die Requisiten herumschieben, sondern sie uns.
 

(Bild: Bild: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0) Public Domain)