Freiheitsentzugserscheinungen

Paul Schuberth ist der Frage nachgegangen, warum kaum über Ausbeutung in den Gefängnissen gesprochen wird.

Die brutale Ermordung George Floyds und die danach aufflammenden beeindruckenden Proteste gegen rassistische Polizeigewalt hatten auch im deutschsprachigen Raum eine plötzliche Schärfung des Bewusstseins für Rassismus zur Folge: Wie sonst wäre zu erklären, dass unter dem Motto »Black Lives Matter« Hunderttausende ein eindrucksvolles Zeichen gegen Rassismus setzen, Großdemonstrationen gegen die Abschiebepolitik in Österreich und Deutschland aber ausbleiben, und Kundgebungen nach dem versuchten antisemitischen Anschlag in Halle und dem Anschlag in Hanau wesentlich weniger Anziehungskraft zu haben schienen?

Ein Zeichen gesetzt zu haben, erlaubt einem, sich zu setzen. Besonders, wenn der Fokus der Kritik auf einem fernen Land liegt. Ideal ist es, an diesem Land Praktiken zu kritisieren, die im »eigenen« für ausgeschlossen gehalten werden. Nach 24.000 Folgen der sozialkritischen Serien Tatort, Soko Donau/Kitzbühel/Erfurt/Bamberg oder Cop Stories erscheint heimische Polizeigewalt den Schlechtmeinenden als unerlässlich, den Gutmeinenden als seltener Ausrutscher im unterstützenswerten Kampf gegen arabische Clanchefs, serbische Mafiapaten und gewiefte chinesische Geschäftsmänner. Erst kürzlich lehnte Heimatminister Seehofer eine Untersuchung über Racial Profiling innerhalb der Polizei ab, da diese Praktik ohnehin verboten sei. Folgerichtig, denn schließlich werden Reiche auch kaum auf Steuerhinterziehung überprüft.
Doch wo die Debatte um Polizeigewalt geführt wird, greift sie zu kurz. Dass Schwarze in den USA im Verhältnis viel öfter Opfer von Polizeigewalt werden, hat mit rassistischer Polizeipraxis zu tun (Stop-and-Frisk als ein Beispiel), aber auch damit, dass Schwarze im Verhältnis öfter in Verbrechen und in »Verbrechen« verstrickt sind. Menschen mit geschärftem rassistischen Bewusstsein freuen sich über diesen vermeintlichen Beweis der Gefährlichkeit von Schwarzen. Menschen mit geschärftem Bewusstsein für Rassismus hingegen leiten daraus ab, dass eine zutiefst rassistische Gesellschaft zutiefst rassistische Cops gar nicht zwingend nötig hat, um ihren Minderheiten das Leben zur Hölle zu machen. Die berechtigte Kritik an einzelnen Gewalttätern unter den Polizisten affirmiert die Erzählung vom guten System, an dessen Gutheit die ihm unterworfenen Menschen sich nur noch besser anpassen müssten. Die Rede vom »strukturellen Rassismus« widerspricht dieser Erzählung - aber nur halbherzig. Denn meist ist damit angesprochen, dass sich in dieser und jener Institution besonders viele Rassisten und Rassistinnen tummeln. Mit Informationen solcher Art lässt sich gut umgehen, weil sie Anlass geben, mittels Aktionsplänen und Sensibilisierungsmaßnahmen Aktivität und gelebte Verantwortung zu mimen. Wirklich furchteinflößend ist erst die Erkenntnis, dass Rassismus zur Struktur des Kapitalismus gehört. Verantwortung zu übernehmen hieße dann, für ein wirtschaftliches System zu streiten, in dem Rassismus wirklich zu dem wird, als das er heute schon behandelt wird: zur privaten Spinnerei Einzelner, weil die Notwendigkeit einer Ideologie zur Naturalisierung von Ungleichheit wegfiele.

Da sich alle aus der Verantwortung stehlen, was nicht strafbar ist, bleibt »sozial Schwachen« weiterhin nichts anderes übrig, als manchmal zu stehlen, drei Mal ohne Ticket mit der Metro zu fahren, oder Drogen zu verkaufen. Delikte, für die einen in den USA Haftstrafen erwarten. Diese werden in den privaten Gefängnis-Fabriken verbüßt, die sich in den letzten Jahrzehnten zu einem der größten Dienstgeber des Landes heraufgewirtschaftet haben - auf dem Rücken derer, die das kapitalistische System zuvor heruntergewirtschaftet hat. Und offenbar hinter dem Rücken derer, die noch so frei sein könnten, diese Entwicklungen zu kritisieren und zu bekämpfen. Wer sitzt, kann schwer ein Zeichen dagegen setzen. Wer sitzt, kann und muss sich allerdings auf die Fahnen heften, per Zwangsarbeit und mit einem Lohn von 16 Cent bis 1 Dollar pro Stunde einen wesentlichen Teil des Bruttoinlandproduktes zu erschuften. Die Arbeitgeber - Pharma- und Lebensmittelkonzerte, Schuhfabrikanten, Elektronikhersteller u.v.m. - geben den 2,3 Millionen Gefangenen Arbeit, diese ihr Leben. Denn auch nach einer möglichen Entlassung besteht die Freiheit ehemaliger Häftlinge darin, frei vom Wahlrecht zu sein, aber in der Regel auch frei vom Anspruch auf Wohnungen und Sozialleistungen. Spezielle Verträge zwischen manchen Gefängnisbetreibern und den jeweiligen Kommunen legen fest, dass die Anstalten zu 90% ausgelastet sein müssen. Bei Nichteinhaltung der Quote stehen dem Betreiber Entschädigungszahlungen zu. Diese Praxis, die erklärt, warum bei rückläufiger Zahl von schweren Verbrechen immer mehr Menschen in Haft landen, hat zwei Nebeneffekte. Fehlende »freie« Plätze im Gefängnis und die also aus allen Nähten platzenden Anstalten zeichnen ein Bild einer Gesellschaft, in der niemand vor niemandem sicher ist. Die Law-and-Order-Politik schafft also erst die Atmosphäre, die die Menschen eine Law-and-Order-Politik herbeisehnen lässt. Übertroffen nur von dem Effekt, dass der Nachschub an billigen Zwangsarbeitskräften für die im Gefängnis produzierenden Unternehmen gesichert ist. Dieses »In-Sourcing« ist zur beliebten Alternative zum Outsourcing der Produktion in Länder mit niedrigem Lohnniveau geworden. People of Colour stellen dabei etwa 70 Prozent der Insassen. Wer das System aus Inhaftierung wegen Bagatelldelikten und Zwangsarbeit aber als »Fortführung der Sklaverei unter anderem Namen« bezeichnet, muss sich den Vorwurf der Verharmlosung gefallen lassen. Aktuell sind mehr Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen ihrer Freiheit beraubt als 1865 bei der offiziellen Abschaffung der Sklaverei.

Warum wird darüber im Zuge von Diskussionen im deutschsprachigen Raum über Rassismus nicht viel mehr gesprochen? Die effektive Verbrüderung von Rassismus und Profitmaschinerie zu erkennen, mag schmerzhafter sein, als sich selbst und anderen nur vorzuwerfen, Privilegien zu besitzen. Zum anderen müsste die Beschäftigung mit dem US-Gefängnissystem auch einmal zur Folge haben, die Verhältnisse in Österreich und Deutschland in den Blick zu nehmen. Diese unterscheiden sich insofern, als hier der »Resozialisierungsgedanke« großgeschrieben wird.

Doch man sollte auch das Kleingedruckte lesen. Als »Resozialisierung« geht zum Beispiel durch, Gefangene die Gitterstäbe selbst anfertigen zu lassen. Mit der Berufserfahrung als Gitterstabshandwerker kann man in Freiheit nicht allzu viel anfangen, zumal die Gitterstäbe ja im Gefängnis produziert werden. Auch in österreichischen und deutschen Haftanstalten herrscht Arbeitspflicht, wobei auf ein Recht auf Arbeit nicht gepocht werden kann. Den Vollzeit Arbeitenden stehen die üblichen Arbeitnehmerrechte nicht zu. In Deutschland wird Häftlingen ein Stundenlohn von unter zwei Euro ausbezahlt, in Österreich bleiben den Gefangenen - nach Abzug des »Vollzugskostenbeitrags« (75% der eigentlichen Vergütung) - nicht mehr als fünf Euro pro Tag übrig; wobei davon die Hälfte zwangsangespart wird. Diese Ansparung ist ein Hohn angesichts der Tatsache, dass Häftlingen aufgrund des fehlenden Rechts auf Pensions- und Rentenversicherung ohnehin die Altersarmut droht. Die Gefangenen sind weder krankenversichert, noch steht ihnen eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu. Davon profitieren direkt Unternehmen, die in den Gefängnissen produzieren lassen, wie etwa solche aus der Automobil-, der Haushaltsgeräte- oder der Luftfahrtbranche. Unverhohlen werden auf der Website des Justizministeriums die Topbedingungen für Unternehmen beworben. Die etablierten Gewerkschaften interessieren sich kaum für die Bedingungen, unter welchen die Gefangenen zu schuften haben, die schließlich nur in einem Resozialisierungs-, nicht aber in einem regulären Arbeitsverhältnis stehen.
2014 gründete sich rund um den Aktivisten Oliver Rast die deutsche Gefangenengewerkschaft GG/BO, um den unerträglichen Verhältnissen in der »Sonderwirtschaftszone Knast« (Oliver Rast), in dieser »Billiglohnzohne«, entgegenzutreten. Sie zählt mittlerweile über 900 Mitglieder »drinnen« und »draußen«. Auch in Österreich formierten die Gefangenen Oliver Riepan, Herwig Baumgartner und Georg Huß eine Gewerkschaft nach deutschem Vorbild. Dem Namen GG/BO fügten sie noch das Kürzel »R.A.U.S« an, das für »richtig artgerecht untergebrachte Strafgefangene« steht. Die Formulierung »artgerechte Haltung der Untergebrachten« stammt von der Vollzugskammer des OLG Linz. Der besonderen »Art« der »Untergebrachten« wird in den Augen der Entscheidungsträger unter anderem dadurch gerecht, dass man den Gefangenen wesentliche Rechte vorenthält: Die offizielle Gründung der GG/BO wird seit Jahren vom Staat mit fadenscheinigen Argumenten verhindert. Aber auch sonst wird die Gewerkschaftsarbeit erschwert. Kurz nach der Gründung wurden die Aktivisten getrennt und in verschiedene Justizanstalten verlegt. Dementsprechend ist die erste Forderung der Gewerkschaft: »Der Staat soll sich auch im Gefängnis an die eigenen Gesetze halten«, wie es die Politikwissenschafterin Monika Mokre formuliert, die sich bei der Solidaritätsgruppe der Gefangenengewerkschaft Österreich engagiert. Konkret kritisiert die Gewerkschaft die über den Freiheitsentzug hinausreichenden Beschränkungen, die gar nicht gesetzlich gedeckt sind. Die Forderung nach Versammlungs-, Vereins- und Informationsfreiheit ist hier besonders wichtig. »Dazu gehört auch der Zugang zu Mobiltelefonie und Internet - auch um die Gefangenen auf das Leben draußen vorzubereiten«, führt Mokre aus.
Migranten und Migrantinnen haben zusätzliche Probleme. Oft landen sie in Abteilungen mit noch weniger Freiheiten, oder ihnen werden bestimmte Informationen nicht übersetzt. Dadurch wird die Möglichkeit, sich zu wehren, noch kleiner. Auch Homosexuelle und Transpersonen, »für die im binär nach Geschlecht strukturierten Gefängnissystem ohnehin eigentlich kein Platz ist« (Mokre), sind von zusätzlicher Diskriminierung betroffen. Ist es etwa auch ein besonderer Aspekt der »Resozialisierung«, dass Minderheiten durch die spezifischen Formen der Diskriminierung in Haft auf das Leben und die Marginalisierung da draußen vorbereitet werden?

Obwohl die Krankenversorgung im Gefängnis oft prekär ist, gelang es »drinnen« - immerhin im Unterschied zu »draußen« -, einen Ausbruch von COVID-19 zu verhindern.[1] Wo distancing von der übrigen Gesellschaft ohnehin die einzige Maßgabe ist, sind entsprechend repressive Maßnahmen offenbar leichter umzusetzen. Das Besuchsverbot wurde während des Lockdowns auch auf den Scheibenbesuch ausgeweitet, obwohl dabei eine direkte Infektion unmöglich ist.
Dass Entrechtung und Ausbeutung im Gefängnis insgesamt nicht als solche wahrgenommen werden, liegt auch an einer reichen ideologischen Tradition, derzufolge harte Arbeit die beste Erziehung sei. Der letzte, der sich auf hoher politischer Ebene für die Belange der Gefangenen einzusetzen wagte, war der ehemalige JETZT-Abgeordnete und Jurist Alfred J. Noll, als er zumindest für eine Verdopplung der Vergütung plädierte. Aber vorerst bleibt es dabei: Die Häftlinge arbeiten hart, die Unternehmen verdienen viel, der Gefangene wenig, und der Staat, »wenn er seine Verbrecher weiter so behandelt«, überhaupt nicht, »welche zu haben.« (Oscar Wilde)

Weiterführend: Homepage der österreichischen Gefangenengewerkschaft: ggraus.blogsport.at

[1] Das gilt für Österreich und Deutschland. In den USA zählen Gefängnisse zu den wesentlichen Infektionsherden.

Facharbeit aus dem Gefängnis: Gitterstäbe (Bild: Michael Coghlan)