Pessimismo dell‘intelligenza, ottimismo della volontà
Pessimismus des Verstandes bei Optimismus des Willens empfahl der italienische Kommunist Antonio Gramsci 1920 in einem Editorial in der Wochenzeitung L’Ordine Nuovo (Die neue Ordnung). Vier Jahre, nachdem er diese Forderung nach Nüchternheit formuliert (bzw. nach eigenen Angaben vom Schriftsteller Romain Rolland übernommen) hatte, wurde er von den Faschisten verhaftet und eingekerkert.
Die eigene Situation unsentimental wahrzunehmen, ohne sich von ihr brechen zu lassen, ist ein Vermögen, das einem Individuum helfen kann, sie zu ertragen: Zu wünschen ist das dem Menschenrechtsaktivisten Mubarak Bala, der im April 2020 in Nigeria wegen Blasphemie verhaftet wurde und seitdem in Untersuchungshaft sitzt. Seinen Fall beschreibt Felix Riedel für uns. Die Situation von Gefangenen in Österreich ist vermutlich deutlich besser, dennoch gibt es auch hier einiges zu kritisieren, wie Paul Schuberth darlegt. Die aktuelle Groll-Geschichte von Erwin Riess widmet sich insofern auch dem Themenkomplex Inhaftierung, als es darin um die katastrophale Situation von behinderten Menschen in Osteuropa geht. Thomas Schmidinger befasst sich wiederum mit den Lebensumständen jener, die im Oktober 2019 aus Nordsyrien fliehen mussten.
Nochmals zu Gramsci: Die Ausgangsüberlegung zu seinem Begriff der »kulturellen Hegemonie« (ausgearbeitet in seinen »Gefängnisheften«) bildete die Frage, warum die italienische Unabhängigkeitsbewegung nicht zu einer revolutionären wurde.
Generell gefragt: Warum lassen sich Menschen den ganzen Wahnsinn gefallen, bzw. arbeiten an ihrer eigenen Unterdrückung mit? Über die Absurdität des kapitalistischen Systems als unhinterfragter Normalzustand räsoniert Antonia Pilar-Becco in einigen Skizzen, während Klaus Blees und Ingrid Röder sie an Beispielen aus der Nahrungsmittelerzeugung konkretisieren.
Alexander Pankratz unterzieht in seinem Kurz-Essay anhand der Feier zum Baubeginn der Shoah-Gedenkstätte im Wiener Ostarrichi-Park den österreichischen Umgang mit der NS-Vergangenheit einer scharfen Kritik, während Sama Maani über Hartmut Langes Novelle »Die Heiterkeit des Todes« mehrfachen Verschiebungen in der Schuldabwehr gegenüber dem Holocaust nachgeht.
Verstörend ist an Langes Text die Liebesbeziehung zwischen einer Jüdin und ihrem Mörder. Strikt sexuelle Tabus waren 1984, als die Novelle erschien, deutlich weniger vorhanden, als noch 15 Jahre zuvor. Dies ist vermutlich auch Günter Amendts Buch »Sexfront« von 1970 zu verdanken, in dem Magnus Klaue eine damals völlig neuartige und progressive Art sieht, Sexualität darzustellen und zu entskandalisieren.
Nur vordergründig um Sexualität geht es bei der Auseinandersetzung von Davide Bevilacqua mit einer Kampagne von Pornhub, die im Kern aber eher auf Greenwashing als neue Standard-Strategie im Marketing abzielt.
Das zweite Buch der Versorgerin ist auch diesen September hauptsächlich der neuen Ausgabe von STWST48 gewidmet, die das Jahresmotto »MORE vs. LESS« (bzw. mittlerweile »MORE VIRUS LESS«) durchexerziert. In diesem Teil findet sich neben Programmüberblick und Darstellung ausgewählter Projekte auch eine rasante Reflexion über die Gesamtperspektive von Michel Trocken.
Stichwort Covid19: Vor allem für den Veranstaltungsbetrieb im Haus und das Cafe Strom ist die Situation einigermaßen zermürbend – über den Stand der Dinge berichtet Jörg Parnreiter. Nur soviel: Die nächsten Jahre ausschließlich im Streaming-Pool planschen möchte eigentlich niemand.
Abgerundet wird diese Ausgabe durch zwei Buchrezensionen und ein Interview: Till Schmidt bespricht den Sammelband »Konformistische Rebellen« und Mathias Beschorner Jan Kortes Buch »Die Verantwortung der Linken«. Alexandra Bandl schließlich hat die feministische Schriftstellerin und Psychotherapeutin Phyllis Chesler interviewt.
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Die Redaktion