Das intellektuelle Leben in der Bundesrepublik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre muss, glaubt man der Mehrzahl der Chronisten, die in jüngerer Zeit Bücher über jene Zeit vorgelegt haben, von erfahrungshungrigem Hedonismus und launiger Leselust geprägt gewesen sein. Ob der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen in dem 2012 erschienenen Band »Suche nach dem Handorakel« selbstkritisch gebrochen die Sehnsucht nach geistigen Autoritäten evoziert, ob der Historiker Ulrich Raulff in seinem zwei Jahre später publizierten Erinnerungsbuch »Wiedersehen mit den Siebzigern« die Einheit von Lektüre und Libido beschwört oder der Kulturhistoriker Philipp Flesch als Nachgeborener (Jahrgang 1972) in seiner 2015 veröffentlichten »Chronik der Revolte« auf die Nach-Achtundsechziger als einen »langen Sommer der Theorie« zurückblickt: Alle diese Werke durchzieht ein generationenübergreifender Wärmestrom aus besseren Zeiten, als offenbar alle Menschen irgendwie jung, frei und begehrenswert, die Bücher radikal und die Filme krass avantgardistisch waren. Aus jedem neuen Godard, jedem marxistischen Lesekreis und jedem zweiten Band der Edition Suhrkamp tönten dem Publikum politisch aufgefrischte Variationen auf Rilkes »Du musst dein Leben ändern« entgegen, man rezipierte und diskutierte bis tief in die Nacht, liebte sich ganz ohne Zustimmungsregelung und bekam dafür nach ein paar Jahren, wenn man Glück hatte, eine Professur auf Lebenszeit.
Einer Gegenwart, in der Akademiker bei der Lektüre eigener Arbeiten von hartnäckigen Gähnkrämpfen heimgesucht werden, jeder Textabfall als »superinteressant« und »wahnsinnig spannend« weggelobt wird, kein Streit ohne quotierte Redeliste möglich und der neue Clint Eastwood dem Wochenendseminar über Kritische Theorie unbedingt vorzuziehen ist, müssen die Nach-Achtundsechziger-Jahre wohl tatsächlich als ein einziger langer Sommer erscheinen. Doch auch der Sommer ist heute ein anderer als in den Filmen Eric Rohmers, in denen alle immerzu Ferien haben, die Mädchen hübsch, witzig und geistvoll, die Männer nachdenklich und freundlich und die Gespräche so sanft und unvorhersehbar wie das Leben sind. Wie der Sommer sich heute als Rosskur darstellt, die statt in Schneeflocken in endlosem Ekelwetter endet, so lieben heutige Chronisten am damaligen Theoriesommer den pausbäckigen Tatendurst der Beteiligten, die mit ihrem Denken immer irgendetwas machen wollten, statt nur vor sich hin zu reflektieren, und lieber im Kollektiv denn als Einzelne handelten. Diese rückblickende Präferenz führt dazu, dass nicht nur der Unterschied zwischen der Aufbruchsphase der späten Sechziger und der gesellschaftlichen Erstarrung und politischen Fanatisierung der Siebziger verwischt wird, sondern auch die regressiven, infantil-präpotenten Aspekte der Zeit der Revolte gegenüber der Tatsache, dass Denken, Lesen und Schreiben damals offenbar irgendwie Vergnügen machten, in den Hintergrund treten.
Wo sich Lethen am Wunsch der Achtundsechziger nach kritischer Belehrung abarbeitet und Raulff im Duktus des pädagogischen Erotikers die Lust am Text beschwört, reizt Felsch der Zusammenklang von Denken, Schreiben und improvisatorischer Projektemacherei, für das in seinem Buch emblematisch der Merve-Verlag steht. Als Zeugnis des Nachlebens von deren Geist wird der Verlag dabei zum späten Erbe der Achtundsechziger-Generation, während ein an gegenwärtigen Erfahrungen orientierter Blick auf dessen Geschichte das in den Mittelpunkt rücken könnte, was von Beginn an problematisch und eben darin zukunftsträchtig an Merve gewesen ist. Erfahrungsgeschichtlich bestanden zwischen den Gründern von Merve und den studentischen Wiederentdeckern der Kritischen Theorie aus der Achtundsechziger-Generation durchaus Ähnlichkeiten. Der 1936 geborene Verlagsgründer Peter Gente, der Merve im Februar 1970 mit seiner Ehefrau Merve Lowien, deren Vorname zum Verlagsnamen wurde, sowie den Freunden Rüdiger Möllering und Michael Kwiatkowski im Westberliner Bezirk Schöneberg ins Leben rief, hatte Jura studiert, seine für Angehörige der studentischen Linken obligatorische Zeit im »Betrieb« in den Siemenswerken in Spandau absolviert und nach dem Wechsel ans philosophische Institut seit 1965 an der Freien Universität als Assistent bei Jacob Taubes gearbeitet. Gentes Vater, Wehrmachtssoldat und zeitweise überzeugter Nationalsozialist, arbeitete vor und nach dem Zweiten Weltkrieg als Richter in Berlin und fungierte seit den späten Sechzigern in Prozessen gegen Fritz Teufel und Rudi Dutschke als Vertreter der bundesdeutschen Judikative.
Wie viele andere Protagonisten des studentischen Aufbruchs der sechziger Jahre übernahm Gente vom Vater die asketische Strenge, wendete sie aber gegen dessen als reaktionär abgelehnte Weltanschauung. Ab Mitte der Sechziger wirkte er als bundesdeutscher Herausgeber von Schriften Josef Stalins und begeisterte sich zugleich für die in Anlehnung an Wilhelm Reich entstehende Sexpol-Bewegung, deren rigide Polygamie auch die Kommunarden inspirierte. Dass Gente laut einer populären Kolportage der Zeitgenossen in jener Zeit fast immer ein Exemplar der »Minima Moralia« in der Tasche hatte, bekräftigt den Eindruck, der Merve-Gründer sei ein zeittypischer Adept Theodor W. Adornos gewesen. Auch die Publikationspraxis des Merve-Verlags, Texte deutscher, italienischer und französischer Sprache in fragwürdigen Übersetzungen und ohne Berücksichtigung urheberrechtlicher Usancen als Raubdrucke zu veröffentlichen, wirkt wie ein Echo darauf, dass Adornos und Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« und Max Horkheimers bei der studentischen Linken begehrte Aufsätze aus der Weimarer Republik und der frühen Zeit des Exils in den Sechzigern in der Bundesrepublik als Raubdrucke kursierten. Doch was bei ikonischen Texten der Kritischen Theorie eine von deren Exponenten skeptisch betrachtete Notlösung war, das wurde bei Merve zum Marketing-Prinzip.
Noch die professionell hergestellten Merve-Bände aus den Achtzigern und Neunzigern, als der Verlag sich längst nicht mehr wie zu Beginn als »sozialistisches Kollektiv«, sondern als Vorkämpfer eines neuen Medienbegriffs verstand, imitierten mit ihrem Kleinformat und dem primitiven Druckbild das Raubdruck-Image der frühen Jahre. Theoretisch hatte Merve mit der Mode der Kritischen Theorie in den späten Sechzigern ohnehin nie etwas zu tun gehabt. Statt Arbeiten aus dem Umfeld von Adorno und Horkheimer, das sie geradezu mieden, brachten Gente und Lowien in der Anfangszeit Grundlagentexte des italienischen Postoperaismus und französischen Poststrukturalismus heraus. Letzterer galt damals, obwohl viele seiner Exponenten einem militanten Begriff politischer Praxis huldigten und offen antizionistisch agierten (Gilles Deleuze und Félix Guattari waren Anhänger der arabischen Befreiungsbewegung und bewunderten den palästinensischen Terror), weniger als Gegner der Kritischen Theorie denn als dessen französisches und daher irgendwie zeitgemäßeres Pendant, gehe es ihm doch nicht anders als den remigrierten deutschen Juden um »Identitätskritik«. Dieser Kurzschluss ermöglichte es, die bei Merve veröffentlichten Schriften von Deleuze und Guattari, Jean Baudrillard, Jean-François Lyotard und Michel Foucault als zeitgeistige Variante der vorgeblich verbürgerlichten und kommerziellen Edition Suhrkamp zu goutieren.
Die gegenläufigen und widersprüchlichen Rezeptionsweisen des französischen Poststrukturalismus in der Bundesrepublik fanden in den Achtzigern darin ihren Ausdruck, dass die gleichen Autoren parallel in verschiedenen Verlagen erschienen, die für jeweils unterschiedliche Formen der politischen Aneignung dieses Denkens standen. Der Merve-Verlag, der auf Kommentare und Nachworte verzichtete, kompilierte ohne Achtung vor dem ursprünglichen Textzusammenhang aus Büchern entnommene Teilkapitel, verstreute Aufsätze und Interviews etwa Baudrillards, Virilios oder Foucaults zu Bänden, die den Anschein originärer Erstpublikationen erweckten, zugleich aber den Charme des Improvisatorischen vermittelten. So montierte der 1978 publizierte Band »Fahren, fahren, fahren« Texte Paul Virilios zur Kulturgeschichte des Automobils, des Gebärens und der Geschichte des Pferdes. Der im gleichen Jahr erschienene Band »Kool Killer oder Aufstand der Zeichen« stellte Zeitschriftenartikel und Interviews mit Baudrillard mit einem Kapitel aus dessen bis heute nicht übersetztem Buch »Por une critique de l’économie politique du signe« zusammen.
Während Merve die poststrukturalistischen Ursprungstexte dekontextualisierte und enthistorisierte, um ihren Anschein aufrührerischer Zeitgenossenschaft ästhetisch zu konservieren, brachte Suhrkamp in jenen Jahren Bücher von Foucault (»Die Ordnung der Dinge«, »Überwachen und Strafen«) und Deleuze/Guattari (»Anti-Ödipus«) in akademisch verwendbaren Leseausgaben heraus. Der Matthes & Seitz-Verlag hingegen begann wenig später, vor dem Hintergrund der eigenen Lesart der Werke Georges Batailles, das Œuvre Jean Baudrillards als authentisches Zeugnis einer rechten Vernunftkritik unter die Leute zu bringen. Beides – die von Suhrkamp früh erkannte Vereinbarkeit vermeintlich radikaler Denker wie Foucault mit dem wissenschaftlichen Diskurs und die Einsicht in den Irrationalismus poststrukturalistischer Theorie – erscheint rückblickend angemessener als der anarchisch-improvisatorische Kult, den Merve noch in den Achtzigern um objektiv zum Mainstream gewordene Wissenschaftsstars wie Baudrillard betrieb. In den neunziger Jahren hat Merve die spontaneistische Unbefangenheit in Fragen des Urheberrechts und seine auf Dekontextualisierung und Montage beruhende Publikationsweise in ein Selbstverständnis als Verlag der neuen digitalen Medien transformiert, das im Theorieprogramm durch Autoren wie Friedrich Kittler oder Dirk Baecker, literarisch durch Oswald Wiener und Rainald Goetz vertreten wurde. 2006, als Peter Gente seine Mitarbeit am Verlag aufgab, um nach Thailand umzusiedeln, ist das Verlagsarchiv vom Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie gekauft worden.
Das von Merve lange Zeit performativ hochgehaltene marxistische Erbe lebt heute nur noch in allerlei obskurantistischen Schrumpfformen fort, etwa in der Vorliebe des Verlags für Texte des sogenannten Akzelerationismus, der durch forcierte Beschleunigung technologischer Prozesse einen Zusammenbruch des Kapitalismus aus sich selbst heraus befördern möchte. Tatsächlich sind die historischen Rekurse auf den Marxismus – der erste, 1970 bei Merve erschienene Band war immerhin eine Übersetzung aus Louis Althussers »Das ‚Kapital‘ lesen« – inzwischen getilgt, die Verlagsreihe, die früher »Internationale Marxistische Diskussion« hieß, nennt sich heute »Internationaler Merve Diskurs«. Dass der Marxismus schon, als sie noch anders hieß, nicht mehr als ein Splitter eines ab 1968 rapide zerfallenden geistesgeschichtlichen Zusammenhangs war, rückt erst in der Retrospektive in den Blick, in der die Merve-Bände als das erscheinen, was sie schon immer waren: die irgendwie coolere, aber schlechter lesbare Variante der Taschenbücher aus der Edition Suhrkamp, die ordentlich aufarbeitete, was bei Merve gleichsam in Rohstofftrümmern erschien. Tatsächlich waren weder Suhrkamp noch Merve Orte theoretischen Aufblühens, sondern eher Zeugnisse eines Welkwerdens des Marxismus, in dessen tristem Matsch heute postmoderne Linke nach verlorenen Kostbarkeiten stochern.