Willkommen in den sozialen Fangnetzwerken

Mit freundlicher Genehmigung des Matthes & Seitz Verlags - Berlin und des Autors Richard Schuberth drucken wir ein Kapitel aus seinem aktuellen Buch »Narzissmus und Konformität« ab, einen Text, der sich ausschließlich Facebook und anderen Sozialen Medien widmet. In einer Mail an die Redaktion teilt der regelmäßige Facebook-User der Redaktion mit, dass er dieses Kapitel vor zwei Jahren unter anderem gegen sich selbst geschrieben habe, als er noch mit »einem Fuß in der analogen, mit dem anderen in der digitalen Wirklichkeit gestanden« sei und »Instagram noch nicht kannte«. Und weiters: »Wer nun meint, ich predige Wasser und trinke Wein, dem entgegne ich mit den Worten Oscar Wildes aus dem Theaterstück ›Wartet nur, bis Captain Flint kommt‹: ›Fünf Gallonen vom besten Portwein für den, der mir überzeugend Wasser predigt.‹«

Kannst du dich noch an den Sommer ’17 erinnern, was haben wir gelacht, geliebt, gelikt, gelitten …? – Nein, ehrlich gesagt nicht. – Ich auch nicht. – Da, doch, ein inneres Zeitfenster tut sich auf: Du liktest mein Trüffelrisotto und meine mutige Haltung in der Flüchtlingsfrage, und dann, ich glaube, es war anderthalb Stunden später, hast du dieses kompromisslose Video von Richard David Precht gepostet und im Oktober dann die Onlinepetition gegen die Polkappenschmelze angeleiert. – Ach ja? – Was verstehen die Jungen von unserem Engagement damals. – Ich weiß nicht, ich würde jetzt gerne meine Tabletten nehmen … ach, wie der Schorf bloß juckt.

Wer vor der digitalen Wende geboren wurde und erstmals soziale Netzwerke wie Facebook betritt, traut zunächst seinen Augen nicht. Meinen die das alles ernst? So viel Ironie würde den Friends zur Hochachtung gereichen, doch die hatten sie meist als Freunde schon nicht. Als Friends aber zeigen sie ein Gesicht, in das zu blicken der Facebook-Novize lieber unterlassen hätte. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: dass seines bald genauso aussehen wird.

Der Blick ins Fratzenbuch gleicht einer Vivisektion, welche die Anatomie des Neoliberalismus schamlos entblößt. Was der distanzierte Betrachter sieht, aber wegen seiner unweigerlichen Assimilation bald nicht mehr verraten kann, ist die Bestätigung einer uralten Einsicht: Es tummeln sich dort keine egalitären Individuen, sondern Profile gleichgemachter Subjektlosigkeit, die einander mit ihrer virtuellen Bedeutsamkeit multipel belästigen. Frei nach Rousseau lässt sich sagen: Der Mensch wurde frei geboren, und überall ist er in sozialen Netzen gefangen. Seine facelessness existierte aber schon vor Facebook, das wie jede neue Technologie nicht schlechter und besser als ihre User ist und dessen zivilisatorisches Potenzial viel zu groß, als dass man es wirklich ausschöpfen wollte. Hat Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, so schuf der Mensch sein Facebook-Profil nach dem seinen. Und wie der liebe Gott sich vor seinem Tod ins Altersheim des Deismus abgeschoben sah, so lebt das Profil anstelle seines prometheischen Schöpfers gleichfalls weiter, weil dieses mehr Aufmerksamkeit erhält als der unvollkommenere Prototyp und es auch nach dem Wunschbild sympathischer Authentizität zurechtdesignt werden kann, was seinem Schöpfer, seiner Schöpferin zuvor misslang.

Ganz gleich ob per Duckface und Selbstpornografisierung oder aber Unterschriftenpetition und Onlineaphorismus, das gesamte Szenario gibt eine böse Burleske ab. Angestachelt durch den Rausch der Selbstexpressivität und des kreativen Eigendesigns schaffen die User nicht nur unverwechselbare Altäre ihrer absoluten Austauschbarkeit, sondern geben auch permanent ihre Daten preis, wobei der Verkauf der Userprofile an Geheimdienste nur ein Nebenverdienst und der harmloseste Teil der finalen Vermessung des Menschen ist. Die zynische Rechnung, der zufolge dieses Ding da namens Mensch dazu angehalten wird, als Individuum bis zur Selbstparodie zu posieren, um es seiner eigentlichen Bestimmung, einem exklusiv zugeschnittenen Konsumprofil einzupassen, bestätigt die Übertreibungen früherer Kritiker: der Mensch als kaufende Ware, die bloß in ihren Konsumbedürfnissen unverwechselbar ist. Dem digitalen Aufruf zur Revolution folgt eine Phalanx an Pop-ups mit Kaufanreizen für Bücher zur brennenden Aktualität von Karl Marx.

Längst keine Dystopie mehr ist die Datensammlung zur virtuellen Rekonstruktion des fehlerhaften Menschen anhand seiner Vorlieben und Abneigungen, und die geniale Pointe eines noch zu schreibenden Science-Fiction-Romans bestünde darin, dass erst die virtuellen Replikanten in einer subversiven Selbstfindung jene Individualität wiederfinden, welche den echten Menschen im Laufe ihrer kapitalistischen Zurichtung abhanden kam und bloß als narzisstische, aber instrumentalisierbare Störfunktion in ihnen weiterweste. Denn bekanntlich beneidet der Mensch den Cyborg ja nicht um dessen maschinelle, sondern menschliche Anteile.

An den Knötchenpunkten der Aufmerksamkeit

Im Grunde ist das alles nicht so schlimm, und man muss höllisch aufpassen, nicht mit den Kulturpessimisten zu heulen, die über den imaginären Charakter der digitalisierten Kommunikation zetern, was genauso naiv ist, wie mit der Erkenntnis zu prahlen, unser Geld sei bloß fiktiver Wert, oder aufzuatmen, weil Leonardo DiCaprio gar nicht mit der Titanic versunken ist, sondern im nächsten Film zwar etwas kühl, aber quicklebendig wirkte. Diese Netzwerke sind faszinierende Zwitterwesen: Alles, was sich durch sie verbreitet, Emotionen, Diskurse, Taten, ist auf unentwirrbare Weise physisch fassbar und astralleibhaft zugleich. Nie waren zum Beispiel so viele gute Artikel verfügbar, und nie wurden sie schlampiger gelesen und schlechter verdaut. Der Hamster darf auch beim Scrollen nicht das Tretrad verlassen und lebt in ständiger Angst, neuere, noch bessere Informationen zu versäumen, die ihm Hipness und Nähe zu den Knötchenpunkten der Aufmerksamkeit versprechen.
Der Aufruf zum Flashmob gegen Jamals Abschiebung war real, und viele Friends haben ihm auch physisch Folge geleistet. Das ist die Chance der Netzwerke. Wären allerdings alle, die per Mausklick und elektronischer Betroffenheit bei Jamal waren, wirklich bei ihm gewesen, würde Jamal jetzt vielleicht nicht in Handschellen im Flugzeug sitzen. Das ist der banale Fluch der Netzwerke. Ersatzhandlung und Handlung werden austauschbar. Die Handlung aber fand nie statt, wenn sie nicht auf Handy festgehalten und auf YouTube mindestens tausendmal angeklickt wurde.

Soziale Netzwerke sind brillante potemkinsche Institutionen zur Neutralisierung kritischer Energien. Die Demokraturen des 21. Jahrhunderts werden ihre Oppositionellen nicht mehr inhaftieren müssen, weil die das selbst schon getan haben. In den sozialen Netzwerken schießen kollektiv die Geysire der Empörung, Reflexion und moralischen Selbstrechtfertigung hoch und nieseln wirkungslos zu Boden. Die Gleich- und Wohlmeinenden missverstehen sich dort aufgrund der Abwesenheit politischer Gegner als mächtige Communities. Der Echoraum ist eine wahrlich gelungene Allegorie.
Sie sind wunderbare Tauschbörsen der Diskurse und sogar probate Manöverplätze für gesellschaftliche Veränderungen, aber ihren Rekruten bleibt die Programmierung verborgen, sie so lange Revolte und Widerstand proben zu lassen, bis sie, wenn’s dann wirklich darauf ankäme, erschöpft und gelangweilt nur noch Game of Thrones streamen.

Zwischen Selbstermächtigung und Entmündigung

Der Mensch ist selbst in seiner widerständigen Ausführung dermaßen neoliberal zugerichtet, dass er auch die kritischen Inhalte im Netz und in den Social Networks wie in einer Wundertrommel so schnell an sich vorbeisausen lässt, dass sie kaum Spuren in seinem Bewusstsein hinterlassen. Mit dem Mauszeiger im einen und zugleich schon im nächsten Post. Die Pointe: Er selbst bestimmt das Tempo des Scrollens und Anlesens. Der Servicezonen-Narzisst scheut davor zurück, sich auf nur irgendetwas einzulassen, was ihm zu viel Zeit und Bestätigungsmöglichkeiten rauben könnte, da die anderen Posts in der Timeline bereits ungeduldig werden. Diese räuspern sich und ballen die Fäuste wie über jemanden, der zu lange auf dem Klo sitzt. Je schneller und kursorischer, desto mehr Information glaubt der Friend bewältigen zu können, desto mehr davon fluten aber – die nächste Pointe – auch auf seine Timeline. In der prädigitalen Steinzeit war dem Info-Bukkake das Sammeln von Büchern und Magazinen vorausgegangen, die Suspendierung eigenen Denkens und Wissens also durch dessen Auslagerung und Verfügbarkeit in Bibliothek und Schublade. Nun reichen serielles Posten und Liken schon für die Illusion, des Inhalts mächtig zu sein. Eine Illusion, die sich noch dazu egogewinnbringend zur Schau stellen lässt. Hinfällig wird die Frage, ob alles, was gelikt und gepostet, auch gelesen wurde. Denn besser noch Scheinessen als Bulimie.

Denn vielleicht bedeutet wahre Subversion, das Posting- und Likeritual zur Zufriedenheit der Maschine mitzumachen und sich so wenig wie möglich davon die Sinne verderben zu lassen; wie ein Gast, der all die energieraubenden Antipasti und Tapas und Meze formhalber anknabbert, um keinen Verdacht zu erregen, sein Wohlgefallen äußert und sie dann heimlich unter dem Tisch verschwinden lässt, nur um sich zuhause in aller Ruhe sein eigenes Süppchen zu kochen.

Was wirkliche Reflexion einmal bedeutete, gerät in Vergessenheit, so wie geistige Inhalte sich dem gehetzten Verständnis assimilieren und diese marktgeile Verarmung als antielitäre Volksnähe firmiert. Die Networks gleichen einem Backblech, auf dem keine Brötchen gebacken werden, weil der Teig, der seriell nachtropft, zu dünn ist und verdunstet. Die Verschiebung von Kollektivität ins Virtuelle ist bloß die reale Übertreibung dessen, was Günther Anders in den Fünfzigerjahren als die globale Verbiederung vor dem Fernsehgerät analysierte.

Wer den digitalen Vanity Fair betritt, bemerkt, dass Eitelkeit sich einerseits als bescheidene Transparenz verkaufen will, andererseits dermaßen übertreibt, dass sie aufhört, als solche erkennbar zu sein, und schließlich zur kollektiven Tugend mutiert: permanente Onanie in public mit Claqueuren. Denn ist nicht schließlich jeder von uns in seinem tiefsten Herzen ein Wichser? Und das sei uns auch gegönnt. Doch in der Ekstase multiplen Geliktwerdens rubbeln sich die nie befriedigten Eigenstimulatoren ins Zentrum gesellschaftlicher Konformität. Wenn kollektiver Narzissmus die neue Demokratie ist, dann gerät echte Nonkonformität zum neuen Narzissmus, zu elitärem, asozialem Verhalten.
Die Demokratisierung der Unzähligen, die nicht zählen, deren Meinung Gewicht hat, weil sie nichts wiegt, ist nichts mehr als die Verramschung mottenstichiger Selbstdarstellungstools aus der Requisite des Marktes ans Volk. So wie Joseph II. am hoffnungsvollen Beginn der modernen Individualität für die Bürger Wiens die adeligen Jagdgründe des Augartens öffnen ließ, wird an dessen Ende auch die Selbstwertrequisite geöffnet, um von der ungebremsten Entdemokratisierung abzulenken. Jeder darf nun in Madonnas abgewetzter Federboa tanzen, jeder ohne Zeilenhonorar dahinfeuilletonieren, im permanenten Faschingsumzug der monadischen Demokratie als Model, Blogger, Literaturkritiker, Weltretter, In- und Auslandskorrespondent, Wahlkämpfer, Meisterkoch oder einfach nur er selbst gehen. Weil all das ohnehin keinen Wert mehr hat. Hinterm virtuellen Karneval der Selbstermächtigung vollzieht sich die reale Entmündigung.

Schaschlikspieße aus Herzileins und herzlose Daumen

Doch nicht die Enthemmung der Eitelkeit erstaunt im Buch der Fratzen, sondern ihr Grad an Regression. Sie kommt nackt und entsublimiert und auf dem Niveau von 12-Jährigen daher, die gerade erst gelernt haben, sich in den Augen anderer zu gefallen, und dem ersten süßen Rausch der Selbstsucht erliegen. Nimmt man die beliebte Entschuldigung, dass alle Menschen eitel sind, für bare Münze, könnte man zumindest Reifestufen der Eitelkeit voraussetzen, raffinierte Muster der Selbstdarstellung und Camouflage. Doch die Imperative von Authentizität und Transparenz haben bekanntlich keine ehrlicheren Charaktere geschaffen, sondern bloß ungelenkere Narzissten. Geächtete Qualitäten wie Spiel, Täuschung und Witz, die man als narzisstisch bannte, wären im Gegenteil die letzten Modi gewesen, das in seiner eigenen Stube hockende Ich in die Welt hinauszulocken. Doch so kollektiv die Crowds sich auch geben mögen, und sie tun es mit der hysterischen Vehemenz echter Puritaner, die Akkumulation der digitalen Profile macht noch kein glaubhaftes Wir.
Das Ausmaß verblüfft, in welchem Menschen aller Altersstufen und Bildungsniveaus mit ihren digitalen Nüssen und Äpfeln spielen, jener Währung, die ihren Selbstwert bemisst: den sogenannten Likes; wie erwachsene Menschen auf das Niveau der Teenie-Clique zurückfallen, wenn sie wie verliebte Hummeln um die jeweils angesagten Alpha-Girls und It-Boys herumsummen, deren Wert auf dem Markt der Nüsse und Äpfel sich mit jedem noch so dämlichen Post potenziert, weil man wie im richtigen Leben Äpfel und Nüsse am liebsten jenen schenkt, die schon ganz viele davon haben. Deren Nuss- und Apfelreichtum kommt schließlich nicht von irgendwo, es wird schon Gründe geben, warum sie so angesagt sind, und weil die Apfel- und Nussschalen, die man von ihnen – wenn alles gut geht – hie und da mal zurückbekommt, höher dotiert sind als die Likes von Annie Anybody und Lenny Laptoploser. Susis und Kais Clique heißt nun Peergroup, doch die Mechanismen der In- und Exklusion sind die gleichen wie damals in der 4 B. Und wie damals in der 4 B geht es darum, sich um die Beliebten zu scharen, und wie der psychisch labile Teenager bereit war, für die Aufnahme in Kais oder Susis Gang die eigenen Eltern zu ermorden, scheuen Erwachsene nicht davor zurück, für ähnliche Ziele Wahrheit und Selbstachtung zu opfern. Manche Minderjährige wurden durchs Ausbleiben der Nüsse und Äpfel schon in den Suizid getrieben. Nicht auszudenken also, in welchem Ausmaß all die kleinen digitalen narzisstischen Kränkungen und Belohnungen – das mal mehr, mal weniger verhohlene Betteln um Äpfel und Nüsse – die Energien erwachsener Menschen absorbieren.
Social Networks erweisen sich somit nicht nur als Institutionalisierungen des allgegenwärtigen Narzissmus, sondern auch seiner Infantilisierung. All das über die Jahrzehnte nur scheinbar angefressene Charakterfett aus Integrität, Dignität und Position fällt im Internet prompt und scheibchenweise wie Frühstücksspeck vom Ego und gibt es als das zu erkennen, was es immer geblieben war: als den kleinen nach Anerkennung lechzenden Pennäler aus der 4 B.

Auch die kulturtechnische Regression von Schrift und Abstraktion zu Bild und Ikone ist mit der Regression der Eitelkeit verlinkt. Wie über eine Limited Edition freuten sich die Facebook-User, als der erhobene Daumen – Symbol und Werkzeug leerer Positivität – eines Tages durch Herzlein, Trauervisage, Zornköpfchen, Lachkrampf und Gruselstaunen ergänzt wurde. Was wie eine Erweiterung der emotionalen Amplitude wirkt, bewirkt deren Verflachung, das Festfrieren potenziell reicher Gefühlshaushalte auf fünf Visiotype. Obwohl die Gefühle eigentlich aufatmen könnten, sobald ihr sprachlicher Ausdruck einmal pausiert, ist nicht auszuschließen, dass facebook-gerechte Menschen nur noch in diesen Symbolen fühlen. Doch kaum war das Herzlein in Umlauf, waren neue Bedürfnisse geschaffen, und der kalte Like-Daumen wurde bald als herzlos empfunden, so wie ein ironischer Satz ohne seine Markierung als ironischer Satz durchs Zwinkerauge wie eine abgefeimte Lüge wirkte und sofortige Entfriendung provozierte. Ein Herzlein ist folglich weniger liebevoll als zwei Herzlein, und die grenzenlose Liebesfähigkeit der digitalisierten Menschen drückt sich immer häufiger in ganzen Schaschlikspießen an Herzlein aus. Narzisstische Bestätigung lechzt nicht nach Qualität, sondern nach Kumulation. Größter Gewinn bei geringster Investition.

Der kosmische Konformierungs-Donut

Ist das Bedürfnis nach Bestätigung die List der Konformierung, so sind soziale Netze ihre digitalen Mühlen. Man kann sie sich als riesige Räderwerke vorstellen. Eigenliebe lässt diese Rädchen oder Kreise in allen Größen um sich selbst drehen, doch bleiben sie nicht an Ort und Stelle, sondern schieben einander über ihre Zacken oder Noppen per wechselseitiger Gratifikation milliardenfach in eine Richtung – und zwar ins Innere des Getriebes. Dort aber kam noch niemand an. Ist es ein Schwarzes Loch? Ein Desiderat? Das Versprechen gesellschaftlicher Kohärenz? Man weiß es nicht.
Satelliten würden die Konformierungsgalaxie möglicherweise als riesigen Donut zu erkennen geben, dessen Loch stets von mysteriösen, aber wunderschön wetterleuchtenden Nebeln verhangen ist.
Wie kleine Partikelchen wird noch unverdrehte Individualität am Außenrand in den Reigen hineingezogen, um ihre Reise ohne Wiederkehr in den Mainstream anzutreten. Natürlich gibt es auf diesem Gebilde unendlich viele kleine Zentrifugalturbulenzen und subkulturelle Gegenbewegungen, doch sorgt die Eigenliebe der Einzelrädchen dafür, dass die Mikrokreisläufe sich an größeren Zacken verfangen, die das gesamte widerständige Gefüge schließlich doch nach innen schieben. Bietet sich dieses Drehballett dem Satellitenblick in den weiten Außenzonen des kosmischen Narzissmusdonuts noch gemächlich, beinahe kontemplativ dar, beschleunigt es sich, je weiter die Rädchen einander nach innen drehen. Und wer diesen blinden Mechanismus durchschaut hat und dennoch erkennt, dass das Ende der Drehbewegung das Ende der eigenen Existenz bedeutete, wird zunächst einmal seine Zacken und Noppen kappen, um nicht von denen der anderen Rädchen nach innen geschoben zu werden und – wichtig – nicht andere mit dorthin zu schieben. Doch das legt ihm das narzisstische Großsystem als defekte soziale Kompetenz aus und schickt – tatü-tata – sofort die Narzissmusingenieure, um den Betriebsschaden zu beheben.
Was ihre Konformierungspotenz anbelangt, sind soziale Netzwerke maßstabgerechte Miniaturen der neoliberalen Gesellschaft, zugleich ihre Zulieferbetriebe und Zuchtanstalten. Anders als einst Kaserne, Gefängnis, Schule und Fabrik hat man sie wie Wellnesscenter eingerichtet.

Es ist erstaunlich. Weiter als die Entwicklung vom Waschbrett zur computergesteuerten Hightech-Waschmaschine hat es die Macht gebracht. Was war das für eine unmenschliche Schufterei, all das gelenkschädigende Foltern, Hinrichten, Abschrecken, dann das mühselige Disziplinieren, Indoktrinieren, Vermessen, Katastrieren, Homogenisieren, Pathologisieren, Sanktionieren, und jetzt – ein nie für möglich gehaltener Traum wurde war: Die Macht kann sich endlich in die Hängematte legen und dort sorglos an ihrem Cocktail saugen. Sie hatte nur die kollektive Eitelkeit anstupsen müssen, und siehe da – die erledigte alles von selbst in einer nie endenden Dominoreaktion.
Über den Wunsch nach Anerkennung eliminiert sich Individualität. Ohne dass sie es merkt, selektiert sich Bewusstsein in der denkbar schwachsinnigsten Form der Scheindemokratie, dem Konsumenten-Voting, der jeweils größeren Popularität entgegen. Und die Subjekte machen das alles nicht nur aus freien Stücken mit, sondern als Ausdruck ihrer unteilbaren Freiheit und ihrer unverwechselbaren Identität. Nie wurde Unintelligenz intelligenter gemanagt.
Nicht unter den Signa Disziplin und Selbstentsagung werden die Friends zugerichtet, sondern unter denen von Freiheit und Expressivität machen sie sich selbst gebrauchsfertig. Soziale Netzwerke sind weitaus ausgefuchstere Nachfolger jener kulturindustriellen Zerstreuungen, in welchen die Kritische Theorie die Fortsetzung der Verdinglichung mit den Mitteln des Fun erkannte.
Es ist bemerkenswert, wie viel Arbeitszeit auf Facebook verbracht wird. Das lässt nur den Schluss zu, dass es von Vorgesetzten geduldet wird, die selbst permanent online sind. Diese Arrangements der Duldung scheinen zugleich Eingeständnisse der Sinnlosigkeit der Arbeitsgesellschaft zu sein. Ziel der Maschinerie ist es bloß, die Simulation ihres Funktionierens aufrechtzuerhalten.

Die Glättung und Konfektionierung des digitalisierten Subjekts erfolgt langsam und unmerklich – die Novizen mögen es zu Beginn noch komisch und befremdlich finden, dann aus Neugier, aber vielleicht mit dem Sicherungsseil der Ironie sich in diesen bunten Abyss abseilen, bis dieses reißt und sie Teil des komfortablen Irrenhauses der institutionalisierten Eitelkeit, der Transparenz, der wie Blasen nach oben dringenden und verpuffenden Selbstexpositionen werden.
Das System der mit erhobenem Daumen gewährten Anerkennung mag kindisch wirken, doch es ist effektiver als Bananen für Laborschimpansen. Durch permanentes Trial and Error trainiert sich der Friend, auch in der Illusion von ungebrochener Integrität, den meisten Likes entgegen. In Milliarden Makro- und Mikrostrukturen vollziehen sich täglich diese Zurichtungen hin zur schlechten Mitte der Gesellschaft. Für dreißig Likes und weniger verrät er alles, was besonders an ihm gewesen sein mag, an die Gefälligkeit.
Selbst die unbequeme Wahrheit scheidet sich in zwei Arten, diejenige, die viele Likes erhält, und die, welche wirklich unbequem ist. Auch diese wird der verunsicherte Friend dermaßen striegeln, frisieren und zurechtkneten, bis sie in die Wahrnehmungs- und Zustimmungsraster des Kollektivs passt. Deshalb gibt der Blick auf die politisch linken Segmente der Social Networks mehr Aufschluss über die Mechanismen der Konformierung, die in der gesellschaftlichen Mitte ja bereits vollzogen ist. Wer sie studieren will, muss sich in die Echoräume der fortschrittlichen Milieus einschleusen, dort, wo aus vage Widerständigen per narzisstischem Crowdfunding konstruktive Kritiker, Kulturfunktionäre, reformistische Politiker, Volkstribunen und andere Sympathieträger gebastelt werden.
Nichts funktioniert dort anders als im Rest der neoliberalen Shoppingmall, bloß verkaufen die Widerstandsnarzissten in ihren Boutiquen folgenlose Kritik als Wimpel und Fanbuttons ihrer weltanschaulichen Haltungen. Wer wissen will, wie Menschen sich in Zombies verwandeln, muss dort forschen. Es ist allerdings eine Reise ohne Wiederkehr.

Unangebracht ist die Kritik an Katzenvideos und Food Photography, sobald kritisches Engagement sich wie Katzenvideos und Food Photography gebärdet. Wie im Neoliberalismus die Menschen Zitronen gleichen, denen man es als Höhepunkt ihrer Autonomie einredete, sich selbst auspressen zu können, lernen kritische Menschen in den digitalen Schaufenstern also, sich selbst zur bestmöglichen Popularität hinzuzensieren. Keine disziplinierende Macht schreibt vor, was sein darf und was nicht, die unsichtbare, vielköpfige und allen immanente Macht lässt das nie gestillte Bedürfnis nach Bestätigung für sich arbeiten. Auf dieses aber ist Verlass.

Likes als Grabbeigabe?

»Lieber mit den Massen irren, als gegen sie Recht zu behalten«, diese Opportunistenlosung Victor Adlers zeugte noch von einer Ahnung, was recht und was richtig ist. Die falsche Demokratie des täglichen Onlineplebiszits sagt, recht behalte, was die meisten Likes lukriert. Der romantische Reiz der unterdrückten Wahrheit existiert nicht mehr. Weil niemand sie unterdrückt. Wer Wahrheit nicht sexy zu designen und wer nicht um seine Crowd zu buhlen weiß, ist entweder unfähig oder kein Demokrat. Die seligen Zeiten, da kritisches Denken gefoltert und ermordet wurde, da dessen Köpfe wenn schon nicht zum Sexsymbol, so doch zum Märtyrer taugten, sind unwiederbringlich vorbei: Nun wird es weggewischt. Über sein Bestätigungsbedürfnis genötigt, sich in die gängigen Formate zerhacken zu lassen, in Memes, Spickzettel, operationable Textmodule nach dem Muster »10 Gründe, warum das Schlechte schlecht ist«, oder peinlich rappende Aufklärungsvideos verrät auch Professorchen Neunmalklug seine letzten Reste der Dissidenz. Als Belohnung für diese Selbstentleibung winken aber weder Sex noch gelehrige Schüler noch eine bessere Gesellschaft, sondern – ganz viele Likes. Die aber taugen nicht mal als Grabbeigabe. Denn sie sind Einminutenfliegen. Gleichsam wie nach dem Prinzip der Geplanten Obsoleszenz zu lange funktionierende Kühlschränke Konstruktionsfehler aus der fordistischen Ära waren, sind die Likes vorsorglich solcher Art, dass sie vom Donator so schnell vergessen werden, wie sie gegeben wurden, und ihre Wirkdauer so kurz währt, dass permanent nach weiteren Selbstwertimpulsen geschnorrt werden muss.

Der verhängnisvollste Irrtum aber liegt im Glauben an den demokratischen Wert der Trivialisierung von Wahrheit. Das Einfrieren von Denkbewegung in für jeden und jede lutschbare Meinungswürfel ist keine Volksaufklärung, die sich gegen hochkulturelle Eliten richtet, sondern Kniefall vor dem Marketing. Die Bauern und Arbeiter, zu denen die Volkstribune der einfachen Wahrheiten predigen, sind Pappkameraden, in Wirklichkeit erheben hier aus der Wohlstandsgesellschaft verbannte Durchschnittsnarzissten ihr je eigenes Niveau zum einzig richtigen Kompromiss zwischen abgehoben und populär.

Dissidentes Denken wagte in vordigitalen Zeiten noch selbstbewusster aufzutreten. Unmittelbares Gespräch, die Kultur der Magazine und Zeitungsdebatten sowie Publikumsdiskussionen waren die einzigen Fenster zur Öffentlichkeit. In den seligen Blasen der Überschätzung der eigenen Resonanz kamen auch bessere Werke zustande, weil sich diese Intellektuellen nie ganz des Ausmaßes ihrer tatsächlichen Marginalisierung bewusst wurden. Die sozialen Netzwerke, basisdemokratische Voting- und Konformierungsmaschinen, die alles, was dem je eigenen Bewusstsein gleicht, belohnen – und bestrafen, woran dieses wachsen könnte, knicken diese Intellektuellen binnen Wochen.

Übertragen lässt sich das Prinzip auf die Partikularität jedes sozialen Kreises aus vordigitalen Zeiten. In solchen Intellektuellen überwinterten Reste von Individualität, weil sie genug Menschen um sich scharen konnte, die sie zu schätzen wussten und so über ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutungslosigkeit hinwegtäuschten. Doch die Exposition im digitalen Panoptikum führte zum Schock. Das permanente Online-Voting überführte sie ihrer Wertlosigkeit; der Freund, der das Besondere an einem mochte, likt als Friend das Allgemeine stets mehr. Das formvollendete Gedicht erwies sich im besten Fall als genauso viel wert, zumeist jedoch weniger, als der banalste Kalenderspruch, weil nicht der inhaltliche oder künstlerische Wert des Posts zählt, sondern das digitale Prestige des Posters, von welchem man wahrgenommen werden und dereinst im Jenseits, dort wo alle Friends nach ihrem auch digitalen Tod einmal hinkommen, beim Prosecco-Talk leibhaftig erkannt werden will – Ach du bist Pippilotta Anarchista. Ich mochte deine klugen Kommentare zu meinen klugen Kommentaren. Der heilsame Schutzschild zerbricht an der Transparenz einer permanenten grausamen Marktforschung, welche das Individuum direkt der kollektiven Evaluierung aussetzt, deren Zaungast und Opfer es wird. Dort gibt es kein Entkommen mehr. Dem Schock folgt die Starre und dieser die ungewollte Komplizenschaft, und die Einsicht in die eigene Abgesagtheit verwandelt den psychischen Überlebenskünstler selbst zum Kapo des jeweils Angesagten.

Es ist die nackte Positivität, die Zombiehaftigkeit der automatisierten Zustimmung, welche die Netzwerke zu Kaderschmieden der menschlichen Wertlosigkeit macht. Selbst die Negation ist hier positiv. Der evolutive Rückschritt des Denkens auf die dumpfe Binarität von Zustimmung und Ablehnung, von Fake und Real News sowie auf Texte, die nur noch Kumulation positiver Aussagen sind, wird von einer sinisteren neuen Tugendhaftigkeit flankiert, die diese geistige Verflachung ethisch abzusichern scheint.

Wäre es nur politische Korrektheit – doch der ernste Gestus eines neuen Puritanismus ist umfassender und entlarvt sich als probate Krisenreaktion. Als Bedürfnis nach unumstößlichen Orientierungspfeilern im Sturm der Entwertungen bleibt aber auch eine linke Ethik als Essenzialismus dem Nationalwahn und religiösen Fundamentalismus wesensverwandt. In Motiven wie in Struktur. Viele der frisch politisierten Internet-Kommunarden (so viel wertvolle Arbeit sie auch außerhalb – und sogar innerhalb – der digitalen Echoräume leisten mögen) sind, wie es sich auch gehört, zunächst trunken von ihren neu gewonnenen Haltungen, die sie mit der Unsicherheit der Neophyten witz- und widerspruchslos verteidigen. Aber da sie Kinder der Dunklen Triade sind, neigen sie zur Moralisierung ihrer Diskurse. Ohne Zweifel ist gesellschaftspolitisches Engagement dubios, das nicht in Empörung über eine falsche Welt gründet. Dubioser aber ist der Glaube, die Falschheit der Welt gründe auf falschen Gesinnungen und Charaktereigenschaften. Die sinnlose Kapitalakkumulation, Wachstumswahn, Kriege und Rassismus wären folglich durch mehr elterliche Liebe, feinere Umgangsformen und Narzissmustherapien zu beheben. Nach den Exzessen postmoderner Lustigkeit weht kalt der unfreiwillig lustige Geist sittlicher Ernsthaftigkeit durch die sozialen Netzwerke.

Die stumpfsinnige Positivität des Zustimmens

Moralisten verstehen keinen Spaß. Digitalisierung des Denkens und Moralisierung des Denkens passen zueinander wie das Like zur richtigen Haltung. Witz, Spiel und Travestie wurden aus dem digitalen Gebetshaus verbannt. Als postmoderne Beliebigkeit, Ironie der Gleichgültigen und politische Inkorrektheit wurden sie negativ codiert. Teilweise aus richtigen Gründen. Dass sie aber auch als philosophische Tools taugten, das narzisstische Korsett zu lockern, und gutes Training zu dialektischem Denken abgaben, versteht der Verantwortungsklicker nicht mehr. Der simpelste Trick der spielerischen Reflexion, eine Wahrheit durch ihr Gegenteil auszudrücken, löst in ihm ähnliche Verwirrung aus wie im Calvinisten um 1600 der Umstand, dass der Schauspieler gar nicht der ist, den er spielt. Vorsichtshalber wird beides als Teufelswerk gebannt. Witz wäre, wie Madame de Staël erkannte, »Wissen um die Ähnlichkeit des Verschiedenen und die Verschiedenheit des Ähnlichen«, und es setzt Ambiguitätstoleranz voraus, wie sie die Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik, Adornos Mitarbeiterin bei den Studien zum Autoritären Charakter, konzipierte. Der naive Realismus der witzlosen Tugend hat den Witz selbst degeneriert, weil dieser sich an nichts mehr als sich selber messen und folglich nicht mehr wachsen kann. Somit folgt die Floskel »sarcasm off«, mit der sich gewitzt dünkende Poster über naive Rezipienten lustig machen, zumeist einem formal schlechten Sarkasmus, gegen welchen die Naivität allemal recht behält.

Der narzisstische Tugendbold, der Unflexibilität mit Ehrlichkeit und Exhibitionismus mit Transparenz verwechselt, kann derlei Spitzfindigkeiten nur als selbstverliebte Wortkringel abtun. Oder einfach: Das dumme Narzisstische denunziert das kluge Unnarzisstische als Narzissmus und behebt sich der letzten Chance, die Verpuppung der Selbstbezogenheit zu sprengen.
Die stumpfsinnige Positivität des Zustimmens findet keinen negativen Gegenpol mehr, sondern bloß Katharsis im unartikulierten Aufschrei, im wutbürgerlichen Shitstorm. Kommunikationsethik im Netz gebietet, nicht auf dessen Niveau zu sinken. Da sich die Verantwortungsklicker durch die Bannung der Negativität aber zudem des Bewegungsprinzips eines jeden Denkens beraubt haben, verstehen sie auch Polemik nicht. Weil sie stets pro bonum et contra malum sind und folglich den Witz intellektueller Angriffe nicht verstehen, fragen sie sich, warum der Polemiker so bösartig sei. Klärt man sie auf, das sei nur literarische Pose, so ist er nicht nur böse, sondern zudem berechnend. Auch lösen die Opfer einer Polemik narzisstische Solidarität aus, selbst wenn es sich dabei um Massenmörder oder bloß Macron und Schäuble handelt. Nie zuvor waren die Menschen solche Mimosen. Hinter kommunikativer Tugend versteckt sich die Angst davor, selbst geistreich angegriffen zu werden. Kommunikationsethik – das Ressentiment der narzisstischen Feiglinge. Doch es gibt nun mal keinen herrschaftsfreien Diskurs mit der Herrschaft.

Und insgeheim dürften die friedfertigen Systemkritiker dankbar sein, dass sie so ohnmächtig sind. Denn würde sich ihre Zahl mehren, dann käme es zu wirklichen gesellschaftlichen Kämpfen, welche auf eine Gegengewalt stießen, die sie sich noch nicht und nicht mehr vorstellen wollen. Der Tagtraum von der queeren Party, die alle Antagonismen harmonisiert, Neonazis mit Refugees schmusen und Turbokapitalisten ihr ganzes Geld über die Tanzenden streuen ließe, wäre ausgeträumt. Druck von der Straße, der nicht Angst macht, ist keiner. Der Druck auf die Maus indes macht niemandem Angst. Im neoliberalen Horrordrehbuch ist die Vernetzung der engagierten Onlineseelen eine Dystopie, ein linker Hades, in dem die ewig selben Protagonisten in zwanzig Jahren noch und bis in alle Zeiten tagtäglich posten müssen, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, dieselben Liker ihre Likes dazu abkarren und dieselben zwei Kommentatoren jeden Tag aufs Neue dazu meinen: »Wow, genauso denk ich auch« und »Danke Uwe, so hab ich mir das noch gar nicht überlegt«.
Man sagt, es gebe kein Zurück mehr hinter die sozialen Medien und Netzwerke. Dies anzuerkennen, heißt allemal nicht, sich blind dem Druck des Faktischen zu fügen. Das Praktische an ihrer Funktion als politische Plattform besteht darin, dass es sich dort gemeinsam das Winterpalais stürmen und nach der gelungenen Revolution, die nie stattgefunden hat, Fotos von den wirklich lecker gewordenen Rindfleischrouladen posten lässt.

Die asozialen Eigenbrötler außerhalb des Netzes

Eine der erstaunlichsten Pointen des digitalen Selbstbetrugs liegt aber darin, dass jene, welche von jeder politischen Bewegung bislang noch als asoziale Stubenhocker geächtet worden wären, sich nun als die revolutionäre Avantgarde wahrnehmen. Die Rolle der unpolitischen Stubenhocker und Asozialen übernehmen nun die, welche sich aus der Crowd ausklinken, weder ihre Empörung zeigen noch die meine liken, den Computer abschalten und ins richtige Leben zurückziehen. Eigenbrötler ist nun, wer sich verdächtigerweise schon lange weder auf meiner Timeline noch bei unseren Einhelligkeiten blicken ließ. Ist er oder sie gar zum politischen Feind übergelaufen? Ihr digitales Schweigen brennt wie ein Schandmal auf ihren Profilbildern. Wo waren sie, als es galt, mit dem ausgestreckten Zeigefinger der geballten Faust unseren Widerstand zu posten? In der digitalen Konformierungsmühle gilt Verweigerung als Eigensinn und wird mit dem sozialen Tod bestraft, in ihrer linken Sektion aber – noch lustiger – sogar als Bekenntnis der Entpolitisierung, der inneren Immigration, der Selbstaufgabe. Der Durchschnittsuser verwechselt seinen sozialen Sandkasten mit der Welt, der politisierte aber mit der Sandbarrikade, von der aus das System belagert wird. Und so tönt die Losung schicksalhafter als jede Radioansprache Churchills an die Nation:
Genossen und Genossinnen, es wird ein harter Kampf, und der Sieg ist mehr als ungewiss, wir verstehen, es ist nicht jedermanns, jederfraus Sache, täglich zwei Artikel zu ungerechter Entlohnung von Frauen und Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu posten und in knalligen Memes den Neoliberalismus als neoliberalistisch, den Faschismus als faschistisch, den Rechtsruck als nach rechts rückend zu analysieren, aber wer das nicht durchhält, der soll jetzt offline gehen, und niemand wird ihm grollen.
Wer aber bereit ist, in unserer Bewegung zu bleiben und mit uns an Bewegungsmangel zu sterben, den strategischen Tunnel zwischen Ohnmacht und Selbstüberschätzung mit dem Karpaltunnelsyndrom zu bezahlen, der wird sich unserer Herzen und erhobenen Daumen bis zum bitteren Ende sicher sein.

Einer der bewegendsten Momente in der Geschichte der sozialen Netze, er währte eine Minute nur, weil vier neue Posts ihm die Aufmerksamkeit stahlen. Ob die, welche online gingen, das Winterpalais stürmten oder sogar einen Winterspaziergang machten, ist einerlei, denn es gelang ihnen zumindest, dem digitalen Politbüro der Eitelkeiten zu entkommen.
Politisches Engagement auf Facebook ist wie ein täglicher Muttertag, ein täglicher 1. Mai, ein täglicher International Women‘s Day, ein täglicher Holocaustgedenktag. Es politisiert unpolitische und entpolitisiert politisierte Menschen, verflacht das Denken, übersättigt die Sinne, potenziert die Eitelkeit, stumpft gegen die Realität ab, schafft Gemeinschaften und zieht zugleich Ghettomauern um sie hoch, wiederholt das Offensichtliche so oft, bis das bildschirmgeplagte Auge auch blind dafür wird, und hält als feile Ausrede dafür, nicht mehr mit beiden Händen ins pralle Leben wie in die Brennnessel greifen zu müssen, die User in einem Dauerreaktionsmodus, mit dem sie sich schon zu Lebzeiten in ihre Gräber schrauben.
Bei solchen Aussichten wird man den Tag verfluchen, da Facebook je zu etwas anderem benutzt wurde als für Katzenvideos, Food Photography und ehrliche Selfies, an denen zumindest noch Spuren humaner Unmittelbarkeit klebten. The revolution though will not be selficized.

Richard Schuberth: Narzissmus und Konformität. Selbstliebe als Illusion und Befreiung
Matthes & Seitz, 172 Seiten, 18,50 Euro