Die Lust am Jenseitsprinzip

Felix Riedel erläutert, warum die Narzissmustheorie die These vom Todestrieb überholt hat.

Der Begriff des Todestriebes dient bei Freud als Prothese, um Probleme zu beschreiben. Er ist primär deskriptiv und hat keine analytische Qualität.

Noch zu Lebzeiten Freuds nahm die Kritische Theorie eine rege Diskussion, Erweiterung und Integration der Psychoanalyse in Propagandaanalysen, in die Studien zum Autoritarismus und in die Theorie der pathischen Projektion vor. Es ist deshalb überraschend, dass gerade in ihren Arbeiten ein Begriff fast vollständig fehlt: »Todestrieb«. In der »Dialektik der Aufklärung« taucht der Begriff lediglich im Fragment »Interesse am Körper« auf: als explizite Metapher für destruktiv-regressives »Verfließen« gegen den Fortschritt, und als Freud’sche »Interpretation« dessen, was Nietzsche und de Sade »erkannt« hatten: ein Verhältnis von »Narzissmus und Todestrieb«, das Adorno, Horkheimer und Löwenthal in der Folge als »Haßliebe gegen den Körper« und »verzweifelte Rache« ohne Glück auf eine analytische Grundlage stellen (Dialektik der Aufklärung 1969: 247f). Erich Fromm lehnt den Begriff später im Zuge einiger weiterer Revisionen ab, die ihn in Distanz zur Kritischen Theorie brachten (Erich Fromm und die Frankfurter Schule: 1991). Lediglich Herbert Marcuse nahm den Begriff emphatisch, wenngleich durchaus im Bewusstsein seiner begrenzten metaphorischen Reichweite auf. Er versetzte indes den Todestrieb als »Thanatos« in einen Konflikt zwischen Individuum und repressiver Gesellschaft und stellte so die Psychodynamik des Kleinkindes in den Hintergrund (Eros und Thanatos, MS 5: 190ff).

Bei Freud selbst bleibt der Begriff stets eine Prothese. Seine Erfahrung mit den Traumaopfern des Ersten Weltkrieges führt ihn vor das Problem, dass sich alleine durch das herkömmliche Modell der Unlustvermeidung nicht erklären ließ, wieso traumatisierte Individuen sich im Wiederholungszwang in extrem unlustvolle Träume und Flashbacks begeben (S. FSA 3, 218. Orig. 1920). Das »Realitätsprinzip«, das ansonsten den direkten Lustgewinn im Interesse seines wiederholten Genusses aufzuschieben vermag, kann diese »rätselhaften masochistischen Tendenzen des Ichs« (224) nicht erschließen. In die folgende Theorie über den Wiederholungszwang im Trauma führt Freud nun eine neue These ein: »Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, welchen dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungsergebnisse aufgeben musste […].« »Alle Triebe« wollten »etwas Früheres« wiederherstellen (246). Diese »regressive«, »konservative« Tendenz verteidigt Freud vorahnend gegen jeden Anschein des »Mystischen«. Und doch endet er selbst wenige Sätze später in Mystik: Der Trieb habe wie alles Leben ein »Todesziel«. Plötzlich »schrumpft« für Freud die Bedeutung anderer Triebe zu »Partialtrieben« zusammen, die
den »Todesweg des Organismus« sichern (248).

Die folgenden Passagen über den Gegensatz von »Ich(Todes-)Trieben und Sexual(Lebens-)trieben« sind nur aus Freuds Biographie heraus zu verstehen. Wie stets, wenn seine analytische Kompetenz an Schranken stößt, flüchtet Freud auf seine früheste Profession, die Zoologie, zurück und ergeht sich in biologistischen Spekulationen über den Werdegang von Seeigeln und Protozoen. Der Lamarckismus, seine Achillesferse, verführt ihn zum Glauben an eine biologische Grundlage des Todestriebes in der Evolution (258). Fatalerweise stellt Freud nun seinen spekulativen »Dualismus« von Lebens- und Todestrieb dem »Monismus« Jungs gegenüber, der alles aus der Libido zu erklären suche. Dadurch wird die Todestriebthese politisch aufgeladen und in den generellen Konflikt zwischen Freud und Jung geschleudert, was eine differenzierte Kritik in eine jener Loyalitätsfragen verwandelte, von denen die Diskursgeschichte der Psychoanalyse unnötig tief zerfurcht wurde.

So real Freuds Problem ist, so schlecht ist seine Antwort eines aus der Urgeschichte von Mikroben entstandenen Todestriebes. Er endet im Biologismus, weil er an eine Prämisse der Psychoanalyse anknüpfen will: Dass sich die Prozesse der Psyche aus den natürlichen Rahmenbedingungen des Menschen in der frühen Kindheit entwickeln müssen – Bio-Logik, die Schwäche und Unselbstständigkeit des Kleinkindes reflektiert. Es gibt indes keine biologische Erklärung für den Todestrieb und die Energie in den Phänomenen, die damit assoziiert werden. Kinder kennen keinen Tod. Auf seine empirische Realität reagieren sie mit Indifferenz und Ignoranz. Sie können den Tod nicht ähnlich lustvoll besetzen wie destruktiven Sadismus und die Regression.

Viel wertvoller sind demnach Passagen bei Freud, in denen der »Narzißmus« in seiner Argumentation aufschimmert: »narzißtische Libido« hätte den Todestrieb »vom Ich abgedrängt« (263ff). Es ist nun nicht Rosinenpickerei, sondern ein konsequenter Reinigungsprozess, wenn Béla Grunberger und Janine Chasseguet-Smirgel in »Freud oder Reich?« (1979) den »Sturz des Todestriebes« auf der Grundlage von Freuds Narzissmustheorie vollziehen. Mit Pierre Dessuant schließt Grunberger in »Narzißmus, Christentum, Antisemitismus« (1997) diese Theorie weiter auf, um den analen Sadismus, Transzendenz und Projektivität von religiösen Narzissten zu erklären.

Grunberger/Chasseguet-Smirgel verweigern sich vor allem der biologistischen Spekulation der Todestrieb-Hypothese (44). Sämtliche darunter befassten Phänomene tödlicher Aggressivität entstehen ihnen zufolge aus der Geburt als unfertiges Wesen, das seine Handlungsunfähigkeit als permanente Frustration eines vorher genossenen Zustands des »intrauterinen Narzissmus« erfahren muss. »Keine Veränderung der materiellen Existenzbedingungen wird es je schaffen, die narzißtische Kränkung zu überwinden, welche dem Kind durch seine verfrühte Geburt und durch sein ödipales Versagen zugefügt wird« (Freud oder Reich: 47). Ist das Inzestverbot bei Freud zunächst Resultat einer realen, äußeren Drohung, so erlaubt seine Narzissmustheorie eine weitere Erklärung: Das narzisstische Kleinkind sieht die eigene kränkende körperliche Ohnmacht, seine Unfähigkeit zum Inzest. Um diese Kränkung zu vermeiden, imaginiert es eine sadistische Drohung eines übermächtigen Dämons. Der ebenso zum Scheitern verurteilte Kastrationswunsch des Kindes verwandelt sich analog in eine imaginierte Kastrationsdrohung. Dieser Vorgang lässt sich an Kleinkindern stereotyp beobachten im Verhalten, eigene sadistische Akte in völliger Verkehrung der Realität auf das Opfer zu schieben. Das Inzestverbot ist demnach eine Deckerinnerung für eine durch das Realitätsprinzip zugefügte narzisstische Kränkung. Diese kann nicht völlig durch progressive Pädagogik abgestellt werden und ist daher überkulturell in allen Individuen zu finden. Das ewige »Unbehagen in der Kultur« hat hier seine Quelle und das erklärt auch die überkulturelle Wirksamkeit von Propaganda.

Das reale Inzestverbot behält jedoch seine Bedeutung: Es kann als Wiederholung und Verstärker dieses Traumas gelten, was wiederum das ödipale Drama ins Unaushaltbare zu verstärken vermag (»Freud oder Reich?«: 24). Imagination, Misserfolg und reale Drohung sind demnach nicht konkurrierende Modelle, sondern sich wechselseitig verstärkende Ebenen. Der ohnehin regressive und damit triebfeindliche Narzissmus wird gerade unter unaushaltbarem Druck von Kastrationsdrohungen zu einem manichäischen, unversöhnlichen Gegenspieler des Triebes, der einen vorgeburtlichen Zustand ohne störende Objektgrenzen anstrebt oder diese in analem Sadismus zerstört. Aus der primären Wut des Säuglings über das Geburtstrauma, später über Hunger und andere unkontrollierbare störende Empfindungen speist sich die Energie späterer Frustrationen über reale und imaginierte Kastrationsdrohungen. Propaganda arbeitet stets daran, diese primären Energien anzuzapfen und in allen Menschen vorhandene Ambivalenzen weiter aufzureißen als diese ohnehin aufklaffen, um dann in diese künstliche Wunde Projektionsangebote zu säen. Die im Reifungsprozess krisenhaft gebliebene und unter dem Realitätsprinzip vernarbte Integration der Konkurrenten Narzissmus und Trieb wird sabotiert und der Narzissmus gegen den Trieb aufgehetzt. Der mit dem Realitätsprinzip vereinbarte Kompromiss wird aufgehoben und in eine Wahl gedrängt zwischen extrem gekränkter, denarzissierter Existenz und narzisstischer Transzendenz. Dieses Muster ist empirisch nachweisbar bei den lustfeindlichen Religionen und autoritärer Propaganda.

Die Berufung auf einen Todestrieb als Erklärung destruktiver Prozesse hingegen ist ein ideologisches Manöver, das den analytischen Denkprozess abkürzt und so die Erleichterung verschafft, die unangenehmen eigenen narzisstischen Konflikte im Individuum zu vergesellschaften. Es kann insofern nicht überraschen, dass Todestriebthesen an Stellen wieder auftreten, an denen der Schleier der Verhältnisse am schwersten herabdrückt. Die Frage etwa, warum Menschen im Stande bester wissenschaftlicher Erkenntnisse über Drastik und Dramatik der Klimakrise sich gegen Maßnahmen zur effektiven Eindämmung weiterer Erwärmung entscheiden, wird heute gern mit dem »Todestrieb« erklärt. Es ist jedoch hier nicht die Psychoanalyse, die dieses Verhalten erklären kann, sondern die Marx’sche Analyse des Kapitalismus. Erst durch sie hindurch wird verständlich, warum Menschen nicht allein durch Erkenntnis und Entscheidung ein System überwinden können, das sie selbst durch ihre Einzelhandlungen erschaffen haben, das aber zugleich als äußerliches Naturgesetz auftritt. Menschen mögen noch so viel Klimaschutz wollen, sie können als Individuen nicht aus einem globalen System von Milliarden Warentauschhandlungen aussteigen, dessen Resultat ein ehernes Gesetz des Wachstums ist. So treiben sie zunächst andere, dann sich selbst in den Untergang. Die Todestriebthese kürzt die Erkenntnis der Notwendigkeit einer vollständigen Veränderung dieses Systems ab und entlässt die Individuen in voreiligem Pessimismus aus ihrer Verantwortung zum Handeln und ihrer Erkenntnis des eigenen Anteils am äußeren Elend.