Reise nach Ungarn, August 2019

Eine Groll-Geschichte

Groll und der Dozent waren auf dem Weg nach Visegrád in die pittoreske Donauschlinge oberhalb von Budapest, die auch Donauknie oder Dunakanyar genannt wird. Seit dem Jahr 1977 besuchte Groll die »ungarische Wachau«, oft mehrmals pro Jahr, manchmal für einige Wochen, dann wieder nur für ein paar Tage. In Visegrád hatte Groll Familienanschluß bei den Szedlacseks in der Szécheny Utca Nummer zehn gefunden, hinter dem Dorfbach und neben einem 48er Denkmal. Schräg gegenüber befand sich ein Müvelödésihaz, ein Kultur- und Jugendzentrum, es war in einer Villa aus den 1880er Jahren untergebracht. János und Irena hatten Grolls Lebensweg über Jahrzehnte begleitet. In jungen und wilden Jahren hatte Herr Groll seine wechselnden Lebenspartnerinnen und Freundinnen immer zuerst den Szedlacseks vorgestellt, und Irena, die als Sekretärin bei den Ausgrabungen des weltberühmten Renaissanceschlosses von Mátyás Corvinus arbeitete, aber am liebsten Bordellmutter gewesen wäre, hatte den Frauen jedes Mal abgeraten, sich mit Groll einzulassen, denn dieser habe ein rhapsodisches Gemüt, sei aufbrausend und unberechenbar, kurzum kein Mann, mit dem eine Frau eine ruhige und gedeihliche Zukunft planen könne. Außerdem politisiere er zu viel und neige dazu, sich in abseitigen historischen Geschichten zu verlieren. Darüber hinaus würde er dem ungarischen Rotwein und dem Marillenschnaps in einem Ausmaß zusprechen, das nicht nur für Grolls Leberwerte einen Crash erwarten lasse. Die meisten Freundinnen hatten sich früher oder später an Irenas Rat gehalten und so konnte Irena »ihren« Wiener Stiefsohn – der eigene, Henryk, war zwanzig Jahre jünger als Groll – alleine begrüßen und in wundersame Gespräche verwickeln, die durch Topfenpalatschinken, Lecsó oder Paprikahendl veredelt wurden. Und János holte verläßlich Weinnachschub aus seinem unerschöpflichen Keller. Im Herbst gab es Berge von Edelkastanien, die auf einem Hügel hinter dem kleinen Häuschen wuchsen und im August Fische aus der Donau, Hecht oder Zander, selten auch Karpfen für legendär scharfe Fischsuppen.
János war 2004 verstorben, als ihn ein Schwer-LKW der Pilis-Wald-Verwaltung in einer unübersichtlichen Kurve der für den Allgemein-verkehr gesperrten Waldstrecke von der Straße räumte, worauf János‘ Kleinwagen in den Patak, den Bach, der aus dem Gebirge kommend der Donau zueilt, gestürzt war. Das war am späten Sylvesternachmittag geschehen, János lebte noch, aber nach einer Nacht im Budapester Spital war er tot. Sein Sohn schwört Stein und Bein, daß die Ärzte, die nicht nur im Sozialismus schlecht verdienten, die Patienten vernachlässigt und im Schwesternzimmer mulatiert hatten. Wenn es ihm hilft, mit dem Tod des Vaters fertigzuwerden, dann soll es so sein. Manchmal tut es gut, jemandem die Schuld für ein schwer zu ertragendes Ereignis zu geben, das ist nicht nur im Donauknie so, hatte Groll gedacht. János war auf dem Weg zu einer Waldquelle, einer forrás, gewesen. Deren Wasser wurde im Dorf heilkräftige Wirkung nachgesagt, erzählte Groll dem Dozenten, als sie in Grolls Renault 5 Automatic kurz vor der Autostadt Györ mit ihren Audi- und MAN-Fabriken ein Dorf namens Abda
passierten.
Hätte er der Heilkraft des Gebirgswassers nicht vertraut, wäre er heute noch am Leben, hatte der Dozent geantwortet. Das sei die Dialektik, die über der menschlichen Existenz aufgespannt sei.
Akademisches Wortgeklingel helfe in diesem Fall auch nicht weiter, wollte Groll erwidern, aber im letzten Moment behielt er den Satz bei sich, er wollte die Anreise ins Donauknie nicht durch unnötigen Verdruß stören. In philosophischen Fragen konnte der Dozent, der sich sonst gern einer gelassenen Zurückhaltung befleißigte, starrsinnig und kratzbürstig sein.
Daß seine geliebte Irena, die sich oft wortreich über ihren János bei Groll beklagt hatte, kurz nach dessen Tod schwer erkrankte und keine zwei Jahre nach dem Unfall ihres Mannes verschied, ersparte sich Groll ebenso wie den Hinweis darauf, daß der donauschwäbische Waisensohn János als 17jähriger im Jänner 1945 zur Waffen-SS gezwungen wurde, bei den entsetzlichen Kämpfen um Budapest und Esztergom dabei war, nur mit viel Glück überlebt hatte und dann viele Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbrachte, wo er lernte, LKW zu reparieren und dabei so geschickt war, daß er von Dutzenden Dienststellen der Roten Armee angefordert wurde, wodurch seine Lebensumstände sich dramatisch verbesserten. Das verschwieg Groll ebenso wie den Umstand, daß János als später Kriegsheimkehrer noch einmal für drei Jahre in den malariaverseuchten Theißsümpfen als Zwangsarbeiter bei der Errichtung des Chemiekombinats Leninvarós schuften mußte. Danach bewährte er sich als Mechaniker bei Schwerlastern im Csepel-Stahlwerk auf der gleichnamigen Budapester Insel. Im Guten wie im Schlechten waren Lastkraftwagen sein Schicksal, dachte Groll. Wenig später bremste er den Wagen ab und bog zu einem Denkmal neben der Straße ab. Er machte keine Anstalten, den Rollstuhl aus dem Wagen hervorzuholen, ernst und ruhig betrachtete er den Stein mit der verwitterten Inschrift. Auch der Dozent schwieg. Als sie sich wieder auf der Bundesstraße befanden, klärte Groll seinen Bekannten auf. Das Denkmal erinnere an den 35jährigen Dichter Miklós Radnóti, den der große ungarische Schriftsteller György Dalos als den besten der jungen, verlorenen Dichter der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts beschreibt. Ähnlich wie Attila József, der sich 32jährig als verfolgter Jude und Kommunist 1937 vor einen Zug warf, war auch Radnóti, der wie sein Freund Attila eine Lyrik von unerhörter Schönheit und Intensität hervorbrachte, nur ein kurzes Leben beschieden. Anfang November 1944, der genaue Todestag ist nicht bekannt, wurde er gemeinsam mit zwanzig anderen erschöpften Gefangenen von ungarischen SS-Bütteln erschossen. Der Zug der 3600 Gefangenen kam aus der serbischen Kupfermine Bor, die fünfzig Prozent des für die Deutsche Militärmaschinerie benötigten Kupfers produzierte. Rádnóti war einer von 560 000 ungarischen Juden, die von den Nazis und den ungarischen Faschisten ermordet wurden, fuhr Groll fort. Wie so oft bei SS-Verbrechen hatten sich ehemalige Österreicher dabei besonders hervorgetan. Die Truppe um den Linzer SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann war verantwortlich für die Massendeportation von Juden aus Saloniki, Berlin, Bratislava bis Marseille in die Vernichtungslager des Deutschen Reiches. So organisierte er im Spätfrühling 1944 auch die Transporte von 400 000 ungarischen Juden in die Mordfabriken.
»Alois Brunner, gebürtig aus Rohrbrunn im heutigen Burgenland, war sein wichtigster ‚Mitarbeiter‘. Er starb erst um 2010 in Damaskus, wo er als Staatsgast der syrischen Regierung seinen Lebensabend genoß. Vorher hatte er aber am Aufbau des syrischen Geheimdienstes wie hunderte andere SS-Verbrecher in Ägypten und Lybien mitgewirkt, deren Folterkenntnisse waren sehr gefragt. Über Vermittlung des Grazer Bischofs Hudal im Vatikan gelangte die Elite der Mordgesellen nach Südamerika und in den Nahen Osten. Hudal wurde vom Papst und der österreichischen Bischofskonferenz gedeckt.«
Sie durchquerten Györ und blieben auf der Bundesstraße Nummer 1 am Ufer der Donau. Groll fuhr in seiner Erzählung fort:
»Zwar gibt es heute in Ungarn noch in einigen Städten Rádnóti-Denkmäler, jenes in Abda wurde 2013 vermutlich von Rechtsradikalen geschändet. Es dauerte lange, bis es wiederhergestellt war. Die Täter wurden nie gefasst. Ganz in der Nähe, in dem Dorf Böny, gab es jahrelang ein abgelegenes Trainingszentrum von Faschisten aus ganz Europa. Die braunen Herren erfreuten sich der tatkräftigen Kooperation der ungarischen Behörden.«
»Ich habe im Pester Lloyd, der jetzt in Wien als Internetzeitschrift erscheint, weil er in Ungarn verboten ist, gelesen, daß das gegenwärtige Ungarn ganz offen ungarische Antisemiten hofiert, die in den dreißiger und vierziger Jahren den Überbau des Judenmords ausgestalteten«, fügte der Dozent hinzu und nannte József Nyirö, einen völkisch judenfeindlichen Schriftsteller und katholischen Geistlichen, der die Nazis angehimmelt habe.
»Im März 1945 flüchtete er nach Deutschland und beschloß sein Leben Anfang der fünfziger Jahre in Franco-Spanien. Orbáns Regierung erklärte ihn zum bedeutenden Volksdichter und machte seine Schriften zur Pflichtlektüre in den Schulen. Mittlerweile erinnern Dutzende Denkmäler an ihn und Schulen, die vorher nach antifaschistischen Kämpfern benannt waren, schmücken sich jetzt mit seinem Namen.«
Sie näherten sich der Werft- und Festungsstadt Komárom. Franz Lehár stamme aus der Stadt, erzählte Groll. »Sein Vater war Militärkapell-meister, der Bruder hoher Offizier der k.k. Armee.«
»Der Lieblingskomponist des Führers!« rief der Dozent. »Einer von dreien«, korrigierte ihn Groll. Richard Wagner, Richard Strauß – Präsident der Reichsmusikkammer und Mitglied der Gottbegnadetenliste des Führers – und eben Franz Lehár.«
»Eine seltsame Mischung.«
»Finden Sie? Ein germanophiler Antisemit, ein reaktionärer Spätromanti-ker und ein Kitschproduzent von Rang, der nichts tat, seinen jüdischen Freund und Librettisten Fritz Löhner-Beda vor dem Gas zu retten. Die drei passen doch zusammen!« Nach einer kurzen Pause fügte Groll hinzu. »Zu Hitlers Geburtstag im Jahr des ‚Anschlusses‘ schenkte der Operettenfürst dem Diktator ein in Leder gebundenes Büchlein anläßlich der 50. Aufführung der »Lustigen Witwe«. Und noch im Jänner 1945 erhielt er vom Führer einen persönlichen Neujahrsgruß.«
»Wo hat Lehár die letzten Kriegsmonate verbracht?« Der Dozent griff nach seinem Notizbuch.
»In Bad Ischl, der Welthauptstadt der arisierten jüdischen Villen. Wo denn sonst? Dort starb er auch 1948, im Alter von achtundsiebzig Jahren.«
Ein erfülltes Leben, sagte der Dozent sarkastisch und nahm eine Eintragung vor. Das könne man wohl sagen, bekräftigte Groll. Linkerhand tauchten die ziegelbewehrten Wälle der Festung Komárom auf.

Festung Komárom (Bild: CC/Civertan Grafikai Stúdió)