Mit der Einwanderung von Menschengruppen aus Nahost, Zentralasien sowie Nord- und Westafrika in den Jahren von 2014 bis 2018 erfährt Hannah Arendts 1943 veröffentlichter Essay „We Refugees“ eine Konjunktur in der Berliner Republik. Kulturwissenschaftler und Feuilletonisten machen die liberalkonservative Kosmopolitin zur Gewährsfrau der deutschen Flüchtlingspolitik. Inwieweit eine Parallelisierung der Situation von Staatenlosen, wie sie Arendt untersucht hat, und der Situation von Refugees in der Gegenwart realitätstauglich ist, gilt es zu ergründen.
Fragwürdig ist der Analogismus, weil das Interesse an ihrem Essay darin zu bestehen scheint, die – wie in einem Bernstein eingeschlossene – zeitgebundene Wahrheit über die spezifische Konstellation staatenlos gewordener, verfolgter Juden reflexionslos auf die Gegenwart zu übertragen. Die Strategie, Unterschiede zwischen der Wirklichkeit der Juden damals und jener der jüngst in die Bundesrepublik geflüchteten Menschen mittels ahistorischer Verallgemeinerungen einzuebnen, zielt darauf ab, die Neuankömmlinge als Juden von heute zu präsentieren (1). Der 2015 eingeschlagene deutsche Sonderweg hat dabei eine enorme Ausstrahlungskraft auf internationaler Bühne: Denn er kündet davon, dass die Läuterung und Resozialisierung Deutschlands nicht nur geglückt, sondern einen Grad absoluter Vollkommenheit erreicht hat (2).
Mit der Konsolidierung des supranationalen EU-Handelsraums delegieren Staaten Kompetenzen nach Brüssel. Auch um die Transformation in eine supranationale Föderation politisch zu begründen, lässt sich in den Kulturwissenschaften eine allgemeine Delegitimierung westlicher Zivilisationsleistungen beobachten. Insbesondere das Konzept des Nationalstaats ist zur ausgeweiteten Kampfzone geworden, steht es doch globalen Verwertungsmechanismen polyzentrischer Kapitalakkumulation potentiell im Wege. Um den Einigungsprozess Europas unter dem Primat der Ökonomie ideell zu stützen, sind weite Teile der kritischen und politischen Theorie deshalb heute zum Think-Tank des Fortschritts zerronnen. Exemplarisch hierfür steht Daniel Loick, akademischer Schützling von Axel Honneth. Er hat sich besonders hervorgetan, Arendts Œuvre Gewalt anzutun. In seinem Text „Wir Flüchtlinge: Überlegungen zu einer Bürgerschaft jenseits des Nationalstaats“ (Leviathan 4/2017, 574-591) glaubt er eine Lösung für Arendts „Aporien der Menschenrechte“ gefunden zu haben, erklärt er Nationalstaatlichkeit doch per se zur „latent katastrophale[n] Struktur der modernen Souveränität“ (Loick, 575).
Romantisierung des Lebensmodells Diaspora
Loick verteufelt das staatliche Territorialitätsprinzip. Er erkennt darin den alleinigen Grund von Entrechtung und Exklusion, ohne zu reflektieren, dass die Bedingung der Möglichkeit für die von ihm propagierten Modelle politischer Gemeinschaft und kollektiver Selbstbestimmung – transversale Konvivialität, Interlegalität und flexible Staatsbürgerschaft – eine Antwort darauf offen lässt, wer oder was das „Recht, Rechte zu haben“ (Arendt 1955, 462) durchsetzt.
Loick deutet Arendts Aporie so aus: „Das Recht auf Rechte ist kein Recht auf Mitgliedschaft in einem traditionellen Nationalstaat, sondern im Gegenteil ein Recht auf Teilhabe in einer nichtstaatlichen politischen Gemeinschaft.“ (575) Seine Idealisierung eines post-souveränen und „nicht auf Zwang gestützte[n] Konfliktschlichtungsverfahren[s]“ (584), dessen Umsetzung durch die gewaltfreie „Koexistenz pluraler Rechtsquellen“ (585) möglich sei, ist mit einer akademisch aufgemotzten Romantisierung identitärer Vergemeinschaftungen und migrantischer Existenzweisen verfilzt: „Mehrere Gemeinschaften [...] teilen sich ein und dasselbe Territorium, haben aber unterschiedliche Formen politischer Selbstbestimmung und juristischer Konfliktschlichtung.“ (585) Wer zumeist erzwungene Migration als Erfahrungsvorsprung begreift, wer Praktiken der Migration im Stil professoraler Projektmittel-Prosa generell zum Wettbewerbsvorteil erklärt, geht dem Hype um Diversität, Differenz und Diaspora auf den Leim. Einige Kostproben: „Arendts Einsicht von den Flüchtlingen als »Avantgarde« ernst zu nehmen muss vielmehr bedeuten, realexistierende diasporische Praktiken als Wissensressourcen zu konsultieren.“ (578) „Durch die diasporische Existenz außerhalb der von Gewalt durchzogenen Weltgeschichte sind es gerade die Jüdinnen und Juden, die eine Erfahrung vorwegnehmen, welche die anderen Völker erst noch erstreben.“ (583) „Hiergegen lehren die Erfahrungen der migrantischen Diaspora, die Möglichkeit der kulturellen Hybridität, der politischen Inklusion und des rechtlichen Pluralismus wertzuschätzen und zu fördern.“ (587) Loicks Verständnis menschlicher Sozialität wohnt nicht nur eine Heroisierung der Lebensweise wehrloser Juden in der Diaspora vor der Realisierung des Zionismus inne. Vielmehr noch wird die Besonderheit jüdischer Diaspora ausgeblendet: Denn in ihr schwingt, wie Magnus Klaue einmal schrieb, das Transnationale als transzendierendes Moment mit, weist sie doch über den Begriff des Nationalstaats und der Staatsbürgerschaft hinaus, bleibt aber auf deren Konkretion in Gestalt rechtsstaatlicher Souveränität angewiesen (3).
Destruktion durch Desintegration
Zudem sind Verfolgung und Pogrom keine Erfindungen nationalstaatlicher Herrschaft. Große Massaker der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts finden nicht selten in zerfallenden Imperien statt. Infolge der Transformation multi-ethnischer Gemeinwesen in moderne Nationalstaaten entsteht zwar der Status der Staatenlosigkeit. Dagegen suspendiert die kollektive Entrechtung der Juden im Dritten Reich das bisher abstrakt durch Staatsbürgerschaft vermittelte Prinzip der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Eine Voraussetzung für die Entrechtung der Juden besteht Arendt zufolge darin, ihnen ihre Staatsbürgerschaft zu entziehen und zugleich „den Nationalstaat durch eine supranationale völkische Organisation abzulösen, die durch die Benutzung völkischer Minderheiten in anderen Nationen die zu eng gewordenen Grenzen des nationalen Territoriums sprengen konnte [...].“ (1955, 87)
Deshalb gilt es, die blindlings zur Ikone stilisierte Hannah Arendt vor der einseitigen Vereinnahmung durch anarcho-primitive und marktkonforme Anhänger in Schutz zu nehmen, behauptet jene im Gegensatz zu diesen doch eine innere Kausalität zwischen großen Migrationsbewegungen und deren desintegrative Wirkung auf staatliche Formen von politischer Integrität und menschlicher Sozialität: „Die Minderheiten Ost- und Südeuropas und die Staatenlosen, die sich in großen Gruppen und schließlich als kompakte Volkssplitter über ganz Mittel- und Westeuropa ergossen, haben den Zerfallsprozeß des Nationalstaates insofern außerordentlich beschleunigt, als die nationalstaatliche Lebensform nun immer größere Gruppen europäischer Menschen ausschloß und in ein Niemandsland verwies, in dem es weder Recht noch Gesetz noch irgendeine Form geregelten menschlichen Zusammenlebens gab. Totalitäre Regierungen, die im Zuge ihrer Welteroberungspolitik ohnehin trachten mußten, die Nationalstaaten zu zerstören, haben sich dann ganz bewusst darum bemüht, die staatenlosen Gruppen zu vermehren, um die Nationalstaaten von innen her zu zersetzen.“ (Arendt 1955, 425)
Die Destruktion des Nationalitätsprinzips durch den NS schlägt notwendigerweise nach außen um: „Die Nazis haben ihre ursprüngliche Verachtung des Nationalismus, ihre Geringschätzung des Nationalstaats [...] niemals widerrufen; dafür sind sie nicht müde geworden, zu betonen, daß ihre »Bewegung« [...] internationale Ausmaße und Bedeutung habe und als solche wichtiger sei als jeder, auch der eigene Staat, der seinem Wesen nach an ein bestimmtes begrenztes Territorium gebunden ist.“ (Arendt 1955, 26)
Der NS-Terror richtet sich v.a. gegen Juden, doch wurden „nach der Ächtung des jüdischen Volkes [überdies] die meisten europäischen Nationen für vogelfrei erklärt“ (Arendt 1943, 21). Auch deshalb ist Loicks, auf einer missbräuchlichen Lesart von Arendt beruhende Prämisse falsch, wonach das europäische Konzept moderner Staatsbürgerschaft „strukturell auf die Fabrikation von Staatenlosen und Vogelfreien angewiesen [sei], wie gerade Jüdinnen und Juden immer wieder am eigenen Leib erfahren haben.“ (Loick, 574)
Denn Refugees der Gegenwart unterscheiden sich schon allein dadurch deutlich von Staatenlosen in Arendts Analyse, dass Erstere aus Failed States fliehen, die nie moderne Nationalstaaten wurden, während Letztere durch eine in ihrem Ausmaß nicht vorhersehbare Katastrophe zu Staatenlosen im Dritten Reich gemacht wurden. Die ausweglose Lage der europäischen Juden infolge des grenzenlos sich ausweitendenden NS-Herrschaftsgebiets entspricht nicht der gegenwärtigen Lage der Kriegs- und Armutsflüchtlinge: Während jene als das negative Prinzip der antisemitischen Wahnidee um jeden Preis auszurotten waren, um die jüdische Weltherrschaft zu brechen und die Welt vom Bösen zu erlösen, fliehen diese vor den Auswirkungen rivalisierender Ausprägungen einer totalitären Kriegsreligion oder in der Hoffnung auf ein besseres Leben im zum Paradies stilisierten Europa (4).
Über die Agambenisierung Arendts
Wer staatenlos ist, dessen Rechte lassen sich aufgrund fehlender Garantien nicht oder nur bedingt Geltung verschaffen. Das von Loick für gut befundene Prinzip „universeller Aterritorialität“ (589) als auch die Durchsetzbarkeit „exterritorialen Weltrechts“ (584) liegen außerhalb jeder historischen Erfahrung. Indem er aus Arendts Werk das „Recht auf die Überwindung des Staates“ (577) ableitet, vereinnahmt, verfremdet und verhunzt er ihr Denken für eine Staatskritik nach Schema F: „Arendt geht es gerade darum, zu zeigen, dass Staaten die Verursacher von Staatenlosigkeit sind.“ (577) Offensichtlich bezieht sich Loick hier auf Giorgio Agambens Konzept des Homo Sacer. Ausgehend vom Befund, als Mensch im KZ aller Rechte beraubt und auf das nackte Leben reduziert zu sein, erklärt Agamben diesen Zustand absoluter Rechtlosigkeit zum kennzeichnenden Moment moderner politischer Herrschaft, worin das Totalitäre, wie er es in Flüchtlings- und Gefangenenlager zu erkennen meint, stets wirkmächtig sei. So bleibt Loicks Arendt-Rezeption durch die Brille Giorgio Agambens hochbrisant, manifestiert sich darin doch ausdrücklich die Forderung nach einer Universalisierung des Zustands der Staaten- und Rechtlosigkeit:
„Es gilt daher, neue Modelle der politischen Selbstbestimmung zu finden, die über die traditionellen Vorstellungen von Assimilation und Integration hinausweisen. Wie Arendt argumentiert hat, können hierfür gerade die Erfahrungen und das Wissen der Geflüchteten leitend sein: Es ist der Zustand der Staatenlosigkeit, nicht der Staatsbürgerschaft, den es zu universalisieren gilt. Dass Geflüchtete, wie Arendt schreibt, die »Avantgarde ihrer Völker« sind, heißt, dass sich nicht die Geflüchteten an die Staaten mit ihren Gewaltapparaten anpassen müssen, sondern die Staaten so umgestaltet werden müssen, dass sie den Praktiken der Geflüchteten gerecht werden können: Aus »normalen« Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern müssen demnach Flüchtlinge werden.“ (575)
Eine Anwendung von Loicks Theorie läuft nolens volens auf Barbarisierung hinaus. Indem er auch an die jüdische Denktradition von Franz Rosenzweig anknüpft, überverallgemeinert er dessen voraussetzungsreiche Ethik. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die an der Heilsgeschichte ausgebildete exterritoriale Lebensweise des staatenlosen Paria-Volks von Loick zum universellen Maßstab menschlichen Handelns erklärt wird, um so das Recht durch Tugendhaftigkeit zu ersetzen. Wie Agamben scheitert auch Loick mit dem von seinem Spiritus Rector übernommenen Versuch der Begründung einer Ethik, erschöpft sie sich doch darin, den liberalen Rechtsstaat kategorisch zur Wurzel allen Übels zu machen. Indessen sind Menschenrechte Arendt zufolge prinzipiell wertlos, solange es unmöglich ist, diese durchzusetzen. Daher stellt die Verwirklichung von Bürgerrechten die einzige Form dar, dem Einzelnen überhaupt das Recht auf Rechte zu garantieren. Wer nicht über eine entsprechende Staatsbürgerschaft verfügt, ist rechtlos, da kein Souverän für die Durchsetzung zuständig ist. Das heißt, dass Menschenrechte laut Arendt ausschließlich für Bürger von Nationalstaaten gelten können:
„Die einzige Rechtsquelle, die bleibt, wenn die Gesetze der Natur wie die Gebote Gottes nicht mehr gelten sollen, scheint in der Tat die Nation zu sein. [...] Der Verlust der nationalen Rechte hat in allen Fällen den Verlust der Rechte nach sich gezogen, die seit dem achtzehnten Jahrhundert zu den Menschenrechten gezählt wurden, und diese haben wie das Beispiel der Juden und des Staates Israel zeigt, bisher nur durch die Etablierung nationaler Rechte wiederhergestellt werden können. Der Begriff der Menschenrechte brach [...] in der Tat in dem Augenblick zusammen, wo Menschen sich wirklich nur noch auf sie und auf keine national garantierten Rechte mehr berufen konnten.“ (Arendt 1955, 466)
Krise des Nationalstaats
Die Überwindung des Nationalstaats ist kein genuin in den Überlegungen Arendts angelegtes Theorem. Stattdessen sind Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Arendt zufolge aus „dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaats und dem anarchischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft“ (1955, 14) ableitbar. Es geht ihr nicht um eine Abschaffung der „Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat“ (1955, 84, 422). Angesichts der von Arendt diagnostizierten Krise des Nationalstaats ist eine Re-Lektüre ihrer Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift des Antisemitismus Die Protokolle der Weisen von Zion unbedingt zu empfehlen (5). Im Aufsatz „Antisemitismus und faschistische Internationale“ legt sie dar, wie der Nationalismus in den 1920-er Jahren (in Mittelost- und Südosteuropa) seine Faszinationskraft im Bewusstsein der Massen wie der Eliten verliert. Die chronische Krise des Nationalstaats ist die Stunde des wohl geschichtsmächtigsten Lehrbuchs des Antisemitismus, das bis heute weltweit Inspirationsquelle für Antisemiten ist, obwohl und weil es sich nachweislich um eine Fälschung handelt. Denn: „Ihr [gemeint sind Die Protokolle der Weisen von Zion] durchweg antinationaler Tenor und ihre quasi-anarchistische Ablehnung des Staates korrespondieren auf höchst beeindruckende Weise mit wichtigen modernen Entwicklungen.“ (Arendt 1945, 35)
Die Beliebtheit der Protokolle befeuert den „Faschismus als eine gegen die Nation gerichtete internationale Bewegung“ (Arendt 1945, 38). An der Phantasmagorie eines Komplotts einer von Juden bestimmten Weltpolitik entzünden sich demnach die Triebkräfte totaler Destruktion. Die NS-Bewegung ahmt die den Juden unterstellte Organisationsstruktur einer okkult-spirituellen Geheimgesellschaft zur Lenkung der Weltpolitik nach: „Die Nazis begannen mit der ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewußt nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion.“ (Arendt 1955, 595)
Die Bewunderung der Nazis für die konspirative Gerissenheit der Juden, sich weltweit ohne eigenen Staat und Territorium zu organisieren sowie Nationalstaaten zur Durchsetzung eigener Interessen zu benutzen, kann sich Arendt zufolge auch deshalb entfalten, da der Nationalismus gegenüber der globalen Verstreuung und imaginierten Weltherrschaft der Juden ohnehin antiquiert wirkt: „Indem die Protokolle vorführen, wie der Nationalstaat unterminiert werden kann, zeigen sie ganz offen, daß sie ihn für einen Koloß auf tönernen Füßen halten, für eine überholte Form politischer Machtkonzentration.“ (Arendt 1945, 35)
Der fanatische Kampf gegen die jüdische Weltherrschaft verhilft dem übernationalen Rasse-Ideologem zu einem Schub, stellt doch nicht mehr – wie noch im Ersten Weltkrieg – die Nationalität sondern die Rasse den unhintergehbaren Fixpunkt kollektiver Zugehörigkeit dar.
Sentimental-subversiver Selbstverwirklichungsaltruismus
In einer Zeit zunehmender Polarisierung lässt sich eine Verkümmerung von Differenzierungs- und Urteilsfähigkeit beobachten: Die zivilgesellschaftliche Mobilmachung in der Berliner Republik verläuft erfolgreich, da sie im Rechtspopulismus nichts Geringeres als den Vorschein des Nazismus bekämpft. Die strukturlose Herrschaft des Dritten Reichs stand im Gegensatz zur Agenda rechtspopulistischer Parteien jedoch für die Zersplitterung einheitlicher politischer Gewalt. Auch Internierungslager oder Sammelunterkünfte haben trotz der kritikwürdigen Zustände darin so wenig mit deutschen KZs oder Gettos gemeinsam wie die Inexistenz uneingeschränkter globaler Niederlassungsfreiheit mit Rassismus. Die karnevalesken Auswüchse politisierender Kampagnen in Deutschland lassen sich mit Dan Diner als kontraphobisch fassen, d.h. als radikalisierte psychische Reaktionsbildung auf die NS-Vergangenheit. Charakteristisch dafür sei die verallgemeinernde und entgrenzende Vorstellung vom Faschismus sowie eine ebenso pauschale Identifikation mit seinem vermeintlichen Gegenteil (6).
Dass Loicks fantastische Elitenerzählung ausgerechnet im Hier und Jetzt als Rechts- und Sozialphilosophie durchgeht, ist kein Zufall. Da global fließende Waren- und Kapitalströme von staatlicher Kontrolle weitgehend entkoppelt sind, entsteht eine Krise der Legitimation und Glaubwürdigkeit von Politik. Loick wendet die Krise produktiv, indem er die Rahmenbedingungen für eine in Communities zerfallende Gesellschaft der Vielen entwirft. Er setzt eine post-souveräne Vorstellung von Sozialität friedlich nebeneinander lebender Communities gegen das im Rechtssystem eingeschriebene Gleichheitsprinzip und unterschiedslos geltende Freiheitsrechte des liberalen Nationalstaats ein. Um sich von der Ohnmacht angesichts multifaktorieller Konstitutionsverhältnisse einer deregulierten Verwertungsmaschinerie nicht irre machen zu lassen, kommt es laut Nancy Fraser zur Stabilisierung polit-ökonomischer Verhältnisse im Sinne des progressiven Neoliberalismus darauf an, die Krisenhaftigkeit einer regressiver werdenden Verteilungspolitik (Wachstum sozialer Ungleichheit) mit einer Hochkonjunktur progressiver Anerkennungspolitik (Bereicherung durch kulturelle Vielfalt) zu kombinieren (7).
Demzufolge lässt sich die Verschärfung sozialer Ungleichheit durch ein Bündnis mit verschiedenen Formen der Anerkennung von sich ethnisch, kulturell oder religiös definierenden Gruppen neutralisieren. Dies erklärt zumindest ansatzweise, warum heute ein so großes geschichtsdidaktisches Interesse daran besteht, „die moderne Version des Antisemitismus mit der bloßen Diskriminierung von Minderheiten“ zu verwechseln. Damit versperrt man sich hermetisch gegen die Einsicht, „daß der Antisemitismus am erschreckendsten in einem Land ausbrach, in dem Juden vergleichsweise wenig diskriminiert wurden.“ (Arendt 1945, 32)
Viele sentimental-subversive Selbstverwirklichungsaltruisten sehen in den Neuankömmlingen nicht nur die neuen Juden. In ihrer Imagination stehen sie auch für eine globale Sozialität, die erstaunlich mit den Anforderungen einer ortsungebundenen und flexibilisierten Arbeitswelt übereinstimmt (8). Am Ende verheißt Loicks Theorie die Welt in ein globales Flüchtlingscamp zu verwandeln, worin Arendts Befund von der Aporie der Menschenrechte schimärisch aufgelöst ist. Denn wo Staatenlosigkeit als universalisiertes Heilsversprechen Wirklichkeit ist, wuchert Rechtlosigkeit. Wo Recht eine Frage der Vermittlung pluraler Rechtsquellen ist, schrumpft Gerichtsbarkeit im Zweifelsfall zum Gesetz des Dschungels.
Primärliteratur
Hannah Arendt (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper 1993
Hannah Arendt (1945): Antisemitismus und faschistische Internationale. In: Dies.: Nach Auschwitz: Essays und Kommentare 1. Hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin: Edition Tiamat 1989, 31-48
Hannah Arendt (1943): Wir Flüchtlinge. In: Dies.: Zur Zeit: Politische Essays. Hrsg. von Marie Luise Knott. Hamburg: Rotbuch 1999, 7-21
Daniel Loick (2017): Wir Flüchtlinge: Überlegungen zu einer Bürgerschaft jenseits des Nationalstaats. In: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 4/2017, 574-591
Weiterführende Literatur
Jan-Georg Gerber (2019): Schutz und Illusion. Ein Plädoyer für die Fetischisierung des Rechts. In: Bahamas #81, 45-51
Philipp Lenhard (2009): Wir sind alle KZ-Insassen. Über Foucault, Agamben und die Relativierung des Holocausts. In: Bahamas #58, 24-28
Marcel Matthies (2020): Aus Auschwitz gelernt? In: Novo Argumente Verlag
Andreas Reckwitz (2019): Liberalismus. Ein Ordnungsruf. In: Die Zeit, 14.11.2019
Jan Philipp Reemtsma (2008): Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition
Gerhard Scheit (2015): Kelsen für Anarchisten, Schmitt für Sozialdemokraten: Über die Theorien von Daniel Loick und Chantal Mouffe. In: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie. Bd. 2, Heft 1. Hrsg. von Ingo Elbe et al., 118-138
Sabine Schulzendorf (2019): Härtere Zeiten: Von der »doppelten Staatsbürgerschaft« zur »Non-Citizenship«. In: Bahamas #81, 51-57