Alles nur Narzissten

Mit »Der Naturbursche« ist gerade der neue Roman von Josefine Rieks erschienen. Ronny Günl hat ihn gelesen.

Im zweiten Roman von Josefine Rieks zieht sich der fiktive Autor Andreas Martin von Hohenstein auf der Suche nach Ruhe vor dem tobenden Lärm der Großstadt ins ländliche Idyll zurück. Mit dem festen Vorhaben, seinen nächsten Roman zu verfassen, verbarrikadiert er sich im leeren Haus seiner verstorbenen Eltern. Die romantische Vorstellung, nur mit sich selbst und der Arbeit vor der herbstlichen Landschaft zu sitzen, bringt dabei allerhand Abgründe zu tage. So will das Vorhaben nicht recht in Gang kommen, was den standhaften Dichter zunächst nicht aus der Ruhe bringt. Es dauert nicht lang, bis die einsame Zurückgezogenheit aufbricht. Nach einer kurzen Begegnung im örtlichen Gasthaus lernt Hohenstein Christian kennen. Er, dem Anschein nach ebenso aus der Großstadt, begegnet Hohenstein auf eine fast brüderlich verbundene Weise. Auch wenn Hohenstein zunächst eine skeptische Distanz zu Christian wahrt, fasziniert ihn sein Lebensstil im Einklang mit der Natur. Davon beflügelt, verliert der Autor allmählich seine Arbeit aus dem Blick und wendet sich neuen künstlerischen Tätigkeiten zu. Es verstreichen die Tage, während nicht nur der Bezug zur Zeit, sondern auch die Klarheit des Gedankenprotokolls schwindet. So dringt zunehmend ein wahnhaftes Verlangen des Autors durch, der sich nach echter Authentizität entgegen der stilisierten Falschheit des Literaturbetriebs sehnt. Die Gedankenwelt des Autors steigt in metaphysische Höhen. Mit einem plumpen Fall ins Nichts endet dieser Trip: Vom Zyniker zum Waldgänger, zurück auf den harten Boden der Realität.

Anfänglich will die prätentiös gefärbte Verklemmtheit seiner Erzählung irritieren und abstoßen, doch mit der Zeit wünscht man sich fast den urbanen Zyniker zurück, der sich über seine Umwelt noch einigermaßen im Klaren ist. Angeregt von flüchtigen Gedanken, werden die Episoden des Autors am Land immer wieder von Geschichten aus seiner Vergangenheit eingeholt. Hinter der vermeintlichen Souveränität des Schriftstellers tritt so jene versteckte Einsamkeit zu tage, welche die Obskurität der Ereignisse begleitet. Der Roman behält sich hierbei stets die Position des Autors vor, der nie zu konkret wird, oder gar Urteile fällt. Einige Rückblicke werfen zunächst ein Licht auf seinen familiären Hintergrund und die fast punkige Attitüde Hohensteins, mit konservativem Gehabe gegen die antiautoritäre Erziehung seiner Eltern zu rebellieren. Man könnte denken, mit diesen Einschnitten wolle der Autor vor dem Publikum über seine Abgeklärtheit Rechenschaft ablegen. Aber es zeigt sich, dass seine Künstlerseele weitaus gebrochener ist, als er sich eingestehen will. Wenn auch zunächst im Hintergrund angesiedelt, nimmt die verflossene Ehe des Schriftstellers schnell einen weitaus größeren Stellenwert ein. Der Erzähler reminisziert dahingehend reumütig die nicht lang zurückliegende Zeit. Umso näher das Ende des Romans rückt, desto hilfloser und kläglicher erscheint Hohenstein. Er, der sich vom urbanen, koksenden Schriftstellermilieu lossagen will, muss sich eingestehen, dass seine vergebliche Flucht aufs Land wohl nicht nur mit seinem Roman zusammenhängt.

Wie sich an zahlreichen Ecken und Kanten des Buches zeigt, situiert Josefine Rieks ihren Roman im Milleniumsgeist. Während im Hintergrund Late-Night-Sendungen von Harald Schmidt oder die Bilder der Anschläge auf das World-Trade-Center über die Mattscheiben flimmern, kommt die allgemeine Nervosität im verkrampften Grinsen der deutschen Pop-Literatur zu sich selbst. Insofern bedient sich Josefine Rieks an einer gewissen nostalgischen Sehnsucht nach den Nullerjahren, die gegenwärtig in bestimmten Kreisen auftaucht. Seien es weitgeschnittene Jeanshosen, klobige Schuhe oder das Revival von Trance und Gabber auf den Tanzflächen von Berlin bis Wien. Selbst, wenn nicht wenige Leser diese beschriebene Vergangenheit allenfalls im Grundschulalter erlebt haben, tut das dem Identifizierungswunsch keinen Abbruch. Diesbezüglich liest sich der Roman fast schon als ein kritischer Kommentar oder Einwand dagegen, die verblassten eigenen Erinnerungen mit dem Amalgam gesellschaftlicher Erfahrung zu vermengen. Manchmal sind 20 Jahre alte Fernsehsendungen dank YouTube oder Wikipedia oft zugänglicher als das eigene Gedächtnis. Der emotionale Ballast einer ereignisreichen Geschichte wird vom Roman durch die Banalität des Erlebens konterkariert. So gesteht der Autor Hohenstein im Roman nüchtern auf die unumgängliche Frage, wie und wo er von den Anschlägen am 11. September 2001 erfahren hätte, dass er davon erst einige Tage später mitbekam. Die vermeintliche Notwendigkeit, den Schrecklichkeiten mit dem persönlichen Befinden noch einen humanen Anstrich zu verleihen – nicht zuletzt eine vornehmlich deutsche Tugend – lässt unweigerlich auch an zahlreiche Wortmeldungen zu Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine am 24. Februar 2022 denken.

2001 verzichtete Harald Schmidt auf Witze. Mittlerweile gehört es aber zum guten Ton, der Reihe nach offene Briefe abzuzeichnen oder sich in Wochenzeitungs-Debatten einzumischen, falls es wieder zu still um die eigene Person werden sollte. Vom Hoffnungsschimmer der Pop-Literatur, wenigstens keine engagierte Kunst zu machen, sondern sich gebrauchsmäßig der Öde des Alltags ein wenig aufgeputscht zu entziehen, ist nicht viel geblieben. Stattdessen spaltet sich ein angestaubter Buchclub von Poeten, Essayisten und Novellisten in die, die etwas bewegen wollen und die, die lieber gemütlich vor sich hin texten. Der Staub ist aufgewirbelt, der Alltag bleibt derselbe. Wo sich der Schriftsteller Hohenstein aus dem Roman nach 20 Jahren einfinden würde, lässt sich kaum sagen. So viel sei vorweggenommen, er hängt das Schreiben an den Nagel und wird Lehrer. Vielleicht nicht die schlechteste Idee. Gleichwohl hinterlässt seine Flucht aufs Land einen herben Beigeschmack. Fast möchte man hinter dem neokonservativen Ernst-Jünger-Verschnitt gar einen Uwe Tellkamp aufspüren. Die Sehnsucht nach der Filterblase Landleben verspricht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, was in diesem Sinne aber nicht weniger bedeutet, als alles Störende, alles Widersprüchliche hinter sich zu lassen. Womöglich liegt zwischen dem Zweck konservativer und progressiver Gegenwartsliteratur aber kein wesentlicher Unterschied. Auf beiden Seiten wird notorisch ein Bild von Gesellschaft konstruiert, in dem sich jede Unmittelbarkeit im kollektiven Appell aufhebt. In Josefine Rieks Roman steckt stattdessen ein Moment, das sich dem gesellschaftlichem Geltungsdrang entzieht, ohne ihn auszublenden.

So wie der Autor Andreas Martin von Hohenstein im Roman an seinem zweiten Buch arbeitet, ist auch dieser Roman – Der Naturbursche – der zweite von Josefine Rieks nach ihrem Debüt Serverland. Gemeinhin stellt das zweite Buch wahrscheinlich die größere Herausforderung dar als das erste, die wohl nicht wenige in den Wahnsinn stürzen lässt. Im Gegensatz zu Hohenstein ist Rieks dieser Versuch allerdings geglückt, indem sie kunstvoll ein tragisches Gedankengeflecht entwirft. Man kann sich kaum erwehren, hinter der aufgeblasenen, gekränkten Künstlerseele eine gewisse Komik zu erkennen. Die prätentiöse Sprache des Romans, der stets in Hohensteins Perspektive verharrt, wirkt zwar inszeniert, doch nie ironisch oder unnötig überladen. So neigen auch die Beobachtungen und Erinnerungen des Autors in keinem Fall dazu, auf plumpe Pointen abzuzielen. Die Figuren, allen voran Hohensteins dubiose Bekanntschaft Christian, der einen fragwürdigen Hang zu heilenden Naturkräften pflegt, treten nicht als einfältige Charaktermasken auf. Über persönliche Beweggründe, Biografien, Glaubenssätze oder Verschwörungen lässt sich nichts erfahren. Ob nun Christian ein erfolgreicher Start-Up-Gründer oder doch Heilpraktiker ist, der sich auf dem Land seinen spießigen Traum von Freiheit verwirklicht, spielt insofern keine Rolle. Vielmehr aber, wie sehr sich der Protagonist Hohenstein in diese merkwürdige Beziehung vertieft und darin vielleicht sogar Zuflucht sucht. Erst mit dem Besuch seines alten Freundes Benjamin, dem drogenaffinen Bild-Redakteur, wird der allmähliche Sinneswandel bei Hohenstein deutlich.

In dieser Hinsicht arbeitet sich der Roman ebenso am gegenwärtigen Literaturbetrieb ab, von dem man hin und wieder meinen könnte, er kreise zwischen den Verlagshäusern und Feuilletonspalten nur um sich selbst. Neuerscheinungslisten und Rezensionstexte leisten sich ein Wettrennen um fotogene Buchcover und blumige Zitate zur Bewerbung der Newcomer, die nichts weniger seien als die Stimme ihrer Generation. Josefine Rieks Roman verzichtet auf eilfertiges Sendungsbewusstsein. Ohne Frage kommt dem Buch, das beim kleinen Berliner XS-Verlag erschienen ist, dabei das Privileg der Nische zu gute. Es nimmt eine sympathische Außenseiterrolle ein und lässt unweigerlich darüber nachdenken, in welchem Verhältnis Literatur nicht selten zu plattitüdenhaft ausgewalzten Diskursen steht. So müsste man getrost vermuten, dass auch die Figuren des Romans – allen voran Hohenstein – vom Gespenst des Narzissmus heimgesucht sind, wenn man dem aktuellem Ratgeber-Journalismus Glauben schenken will. Statt den Narzissten aufzuspüren, sollte man sich eher fragen, was vom Subjekt noch übrig bleibt. Egal, ob man sich mit dem verkorksten Charakter Hohensteins oder anderen nur widerwillig anfreunden kann, offenbart doch die von Josefine Rieks elegant und kompromisslos angelegte Gedankenwelt etwas von der dahinterliegenden Zurichtung und Einsamkeit. Die verzweifelte Suche nach Alternativen, die allzu leichtfertig verlachte Anthroposophen für sich beanspruchen, zeigt vielleicht, dass deren wirrer Glaube nur Ausdruck eines anderen Problems ist.

 

Josefine Rieks (Bild: Paul Buschnegg / XS-Verlag)

Josefine Rieks: Der Naturbursche, XS-Verlag, 192 Seiten, 18 Euro