Sehr zu meinem Glück habe ich einen Beruf, der bedingt, dass ich mich mit Studierenden regelmäßig über die Filme unterhalte, die sie zuletzt im Kino geschaut haben. Mir hilft das beim Denken. Auch, weil sich mit zunehmendem Alter meinerseits Alltagserfahrungen und Realitätsbezüge immer deutlicher von denen junger Menschen unterscheiden. Besonders spannend wird es, wenn wir einen Film gesehen haben, dessen Stoff bereits durch mehrere generationelle Diskursperioden hindurchtradiert wurde. Die Mutzenbacher ist so ein Stoff. 1906 ohne Autorenschaft zum ersten Mal erschienen, avanciert das pornographische Werk im katholischen Österreich der Nachkriegszeit zum Aufklärungsbuch für eine Generation, deren Eltern es wundersamer Weise – wie mag es da hingekommen sein – im Regal stehen hatten. Es schildert aus der Ich-Perspektive die sexuellen Begegnungen eines Mädchens im Alter von fünf bis 14 Jahren, das – so will es die Phantasie des nach wie vor nicht festzumachenden Autors – voller Lust zu jeder Eskapade bereit ist, in die sie von den Nachbarskindern, vom Vater, dem Pfarrer, dem Bettgeher in der Wohnung, dem Freier und zahlreichen anderen Männern verstrickt wird. Allezeit willig und lustig ist sie, die Pepi. Und immer wieder dient diese Ich-Perspektive als Argument dafür, dass die Josefine Mutzenbacher als selbstermächtigte Figur gelesen werden kann. Ich kann bereits jetzt vorausschicken, dass ich dieser Sichtweise nichts abgewinnen kann. Ich nehme zur Kenntnis, dass dem vulgären wienerischen Idiom ein gewisser Reiz anhaftet, der mich aber nicht darüber hinwegsehen lässt, dass im Roman Missbrauch und Vergewaltigung einer Minderjährigen erzählt werden. Es ist schwierig, über die Mutzenbacher zu schreiben, ohne Stellung zu beziehen.
Stellung bezogen haben auch die Männer, die die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann für ihren Mutzenbacher-Film mittels öffentlichem Aufruf gecastet hat, wobei die Auseinandersetzung mit dem Pornoroman als Ausgangspunkt dazu dient, die Männer über ihren Zugang zu Sexualität sprechen zu lassen. Gedreht wurde in der Halle der ehemaligen Sargerzeugungsfabrik in Atzgersdorf nahe Wien, als zentrales Requisit dient eine opulente Polstercouch, tapeziert mit Brokat, zuckerlrosa mit güldenem Blumenmuster, sehr barock und sehr wienerisch. Zwei Assoziationen zu diesem Möbel im Kontext des Films fallen mir ein: Erstens eine Erzählform, wie sie gern im heterosexuellen Mainstream-Porno bemüht wird, in der die Darstellerin vor dem eigentlichen Dreh auf einer Couch Platz nimmt, um über ihre Phantasien zu berichten, die später verwirklicht werden. Eine beliebte Legitimierungs-strategie für Missbrauchserzählungen, weil – und das klingt wiederum an die Bauweise des Mutzenbacher-Texts an – sie hat ja ihren Wunsch formuliert. Beckermann spielt mit diesem Prinzip.
Die zweite Assoziation ruft – naheliegend – die Couch in der Praxis des Analytikers/der Analytikerin auf, allerdings erweitert um Félix Guattaris Auffassung des Kinos als »Couch des Armen«. Im gleichnamigen Text schreibt Guattari 1975: »Man geht ins Kino, um für eine gewisse Zeit die üblichen Kommunikationsweisen zu unterbrechen. Die Gesamtheit der für diese Situation konstitutiven Elemente trägt zu dieser Unterbrechung bei. Welches auch immer der entfremdende Charakter des Inhalts eines Films oder seiner Ausdrucksform ist, grundsätzlich zielt er auf die Herstellung eines bestimmten Typs von Verhalten ab, das ich in Ermangelung eines besseren Ausdrucks kinematografische Performanz nennen würde. Weil das Kino fähig ist, über diesen Typ der Performanz die Libido zu mobilisieren, kann es sich dem zur Verfügung stellen, was Mikel Dufrenne ein ‚Haus des Unbewussten‘ genannt hat.«1
Auf dieser Couch nehmen also die Männer Platz, um kinematografisch zu performieren, oft in Zweierkonstellationen, um einzeln oder miteinander zu sprechen. Die Filmemacherin ist anwesend, stellt Fragen aus dem Off oder kommentiert. Manche der Männer werden angehalten, Szenen aus der Mutzenbacher, die sie zuvor gelesen haben, nachzuspielen. Einmal singt einer einen Abschnitt, während er um den Flügel schleicht, der ebenfalls in der Halle steht. Ein weiteres Annäherungselement an den Text ist ein Chor, der von den Männern gebildet wird, um Passagen aus dem Buch zu skandieren, aus dem Off von einer männlichen Stimme2 angeleitet. Das Montagekonzept des Films verstärkt vor allem in jenen Szenen, in denen zwei Männer gegensätzliche Meinungen vertreten, diesen Zwiespalt und verlässt sich somit darauf, dass sich die Sprechenden gegenseitig kommentieren. Die Männer, die die Mutzenbacher sprechen und besprechen, stammen aus unterschiedlichen Alterskohorten, manche jung, manche mittelalt, manche alt. Sie liefern aus meiner Sicht einen recht repräsentativen Querschnitt an Meinungen, die Männer bestimmter Altersklassen vor allem in Hinblick auf die Wahrnehmung von Frauen haben. Da ist viel Grausliches dabei. Einer liest die Szene, in der die Mutzenbacher von ihrem Vater vergewaltigt wird und als ihn die Filmemacherin fragt, wie er das findet, sagt er »Geil. Schön. Inzest.« Der, der neben ihm auf der Couch sitzt, äußert, dass er Zeit braucht, die Szene zu verdauen. In weiterer Folge will er sie mit dem Anderen auch nicht nachspielen. Beckermann sagt, er soll dem Anderen beim Posieren und Kokettieren zuschauen. Die Wucht der Positionen bleibt unausgeglichen. Mich lässt das unglücklich zurück.
Es gibt Reflexionsebenen, die im Gegensatz zur geschilderten funktionieren. Einer analysiert die Positionen derer, die mitwirken und legt sich auf zwei Motivationen fest: Es gibt die Männer, die die Regisseurin verehren und deswegen Teil des Films sein wollen und die, die der Stoff interessiert. Daraufhin erklärt ein Älterer einem Jüngeren, worum es in dem Buch geht – ziemlich treffend wie ich finde –, und dann setzt in meinem Kopf das Plattenscratch-Geräusch ein, weil der Ältere unter den angeblich männerfeindlichen Zeiten leidet, in denen wir jetzt leben. Er sagt, er kennt keine Frau mehr, die Spaß mit Männern hat, der Jüngere kontert recht trocken, er schon. Erfrischend.
Das Big Picture, das die Ansammlung von Männern in MUTZENBACHER abgibt, vermittelt, dass es ältere Männer gibt, die ein Bewusstsein dafür haben, wie verwerflich der Stoff des Buches ist, wenn eine*r auf die massiven Unrechtsverhältnisse blickt, die pornographisch breitgetreten werden und es gibt die Unverbesserlichen, die ihre Ansichten nicht mehr ändern werden und es gibt die Jungen, die mit einem differenzierten Blick auf ihre Lebensrealität, Sex und Zusammenleben schauen. Prinzipiell arbeitet die Dramaturgie einem luftigen Ende zu, wenn Alexander Horwath – ehemaliger Direktor des Österreichischen Filmmuseums – eine Anekdote aus seiner Kindheit erzählt, die die Unkenntnis junger Buben in Bezug auf vulgäre Hapfnsprache zum Thema hat. Charmant. Oder wenn zuvor zwei Jugendliche auf der Couch über Masturbation sprechen, die einer der beiden poetisch ein »sich in Glücksekstase hineinmassieren« nennt. Und schließlich der Mann, der sich zunächst ziert, das Wort Fut auszusprechen und dann, nachdem Beckermann recht nüchtern eine Stelle aus dem Buch vorliest, sich überredet sieht, komplett in seinem Vortrag aufgeht und sich so selbst ein bisschen bloßstellt.
Ich möchte zum Ausgangspunkt des Artikels zurückkommen, also zum Gespräch mit Studierenden, weil dieses im Fall der MUTZENBACHER unterschiedliche Anschauungen hervorgebracht hat. Eine Studentin hat ihr Unbehagen und ihre Beklommenheit geäußert, die sie während des Filmschauens empfunden hat. Ich verstehe das so. Sie hat aber auch bemerkt, dass in dem Screening, das sie besucht hat, außer ihr lauter Frauen 60+ saßen. Und das passt ein wenig zum Bericht der zweiten Studentin, die den Film mit ihrer Oma geschaut hat. Auf die Frage hin, wie ihnen der Film gefallen hat, sagte die Studentin, sie fanden ihn lustig. Das hat mir gefallen. Es zeigt, dass sie über den Dingen stehen und die Couch nicht (mehr) brauchen.