Politiker, die sich im Namen eines ominösen »Volkswillens« gegen eine »allmächtige Elite« in Stellung bringen, machen sich schnell verdächtig. Das liegt weniger daran, dass sie häufig selbst aus elitären Kreisen stammen. Problematisch ist vor allem der politische Alleinvertretungsanspruch. Autoritäre Politikstile inklusive der Durchsetzung von identitären Reinheitsfantasien sind in ihm bereits angelegt. Aus Andersdenkenden werden schnell »Volksverräter«; aus Gegnern im politischen Wettstreit eine Verschwörung von Feinden.
Für eine differenzierte Analyse von Macht- und Herrschaftsbeziehungen in demokratischen Verhältnissen ist das Schema »Volk vs. Elite« in der Regel zu starr und rigide. Der in der Alltagssprache verwendete Vorwurf, eine unzulässige Vereinfachung sei »populistisch«, trifft daher einen gewissen Punkt. Gleichzeitig ist nicht jedes vereinfachende Sprechen Ausdruck von Populismus, da Politik stets auf Simplifizierungen angewiesen ist. So etwa in der Kommunikation zwischen politischer Führung und Bevölkerung; oder in der parlamentarischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition.
Was genau aber ist dann Populismus, dieses in den letzten Jahren so viel und kontrovers diskutierte Phänomen? Das ist keine leicht zu beantwortende Frage, gerade vor dem Hintergrund der immensen Vielfalt der Bewegungen und Parteien, die ihm zugeordnet werden. Die Forschungslandschaft hat sich inzwischen stark ausdifferenziert, die wissenschaftliche Literatur zum Thema scheint unerschöpflich. Populismus wird dabei unter anderem verstanden als spezifischer Diskurs, als bestimmte Ideologie, politische Strategie und Mobilisierungstechnik oder als eigener politischer Stil.
Ein dieses Jahr bei Suhrkamp erschienener Reader versammelt vierzehn Aufsätze, die, so Herausgeber Kolja Möller, Grundlagentexte für die Debatte zum Thema Populismus darstellen. Der Sammelband umfasst neuere Studien ebenso wie klassische theoretische Texte. Die meisten Beiträge setzen sich dezidiert kritisch mit dem Phänomen des Populismus auseinander und verstehen ihn als eine zentrale politische Herausforderung unserer Zeit. Aus dem Rahmen fällt lediglich Ernesto Laclaus Plädoyer für einen linken Populismus aus
dem Jahr 1979.
Etymologisch auf das lateinische »populus« (dt. Volk) zurückgehend, sei das, was heute als Populismus bezeichnet wird, stets Teil politischer Ordnungen gewesen, bemerkt der Herausgeber in seinem Vorwort. Die Sozial- und Politikwissenschaft hingegen habe sich erst ab den 1960ern ausdrücklich am Begriff des Populismus abgearbeitet. Bereits früher veröffentlichte Texte bieten aber ebenfalls wichtige Grundlagen und Erkenntnisse. Im Reader abgedruckt sind daher Beiträge von Antonio Gramsci zum Begriff der Hegemonie (1932–33), von Leo Löwenthal und Norbert Guterman zu faschistischen Propagandatechniken (1949) sowie von Franz Neumann zur Massenpsychologie (1954).
Zentrale Texte des Sammelbandes versuchen zunächst, generische Merkmale des Populismus herauszuarbeiten. Das ist besonders sinnvoll wegen seiner unbestimmten Verwendung in der Alltagssprache und weil das Etikett »populistisch« oftmals zur Diskreditierung politischer Gegner benutzt wird. Die Politikwissenschaftlerin Karin Priester bestimmt den Populismus als ein Phänomen, das auf besondere Weise ideologisch leer, dünn und flexibel ist. Letztlich bleibe nur das bereits erwähnte Grundprinzip: einer mächtigen, korrupten Elite wird homogenisierend, antagonistisch und stereotyp ein unschuldiges, authentisches Volk gegenübergestellt.
Welche Verbindungen dabei zu sogenannten »host ideologies« (wie Liberalismus oder Sozialismus) eingegangen werden, variiere im Einzelfall. Häufig rücke der Populismus die Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen in den Vordergrund, etwa von Immigranten oder von politisch Andersdenkenden. Andere Varianten betonen jedoch stärker die Inklusion von schlechter Gestellten, so wie im Fall von linken Populismen in Lateinamerika. Priesters Aufsatz ist inhaltlich sehr dicht und berührt viele Aspekte des Populismus, die in anderen Texten des Sammelbandes ebenfalls Thema sind. Dazu gehört die große Bedeutung von manipulativen Agitationstechniken, die sich genauer als Demagogie denn als Populismus bezeichnen lasse. Das ist eine wichtige Präzisierung.
Erhellend für die Analyse jener Agitationstechniken ist vor allem ein Kapitel aus Leo Löwenthals und Norbert Gutermans Falsche Propheten aus dem Jahr 1949. Das in Gänze absolut lesenswerte Buch ist kürzlich bei Suhrkamp neu aufgelegt worden (siehe auch Versorgerin #130) und scheint inzwischen vom Geheimtipp zum Klassiker avanciert zu sein. Seine zentralen Themen sind die Mechanismen und Motive faschistischer Propaganda US-amerikanischer Agitatoren der damaligen Zeit. Als einer der letzten Mitarbeiter des Frankfurter Institutes für Sozialforschung war Leo Löwenthal 1934 vor den Nazis nach New York emigriert.
Löwenthal und Guterman arbeiten heraus, dass die zentrale Funktion der Äußerungen des Agitators in der »Auslösung von Bestätigungs- oder Frustrationsreaktionen« liegt. In der Folge würden seine Zuhörer sich »willig seiner Führung überlassen«. Dafür bediene sich der Agitator unbewusster Sehnsüchte seiner Zuhörer und lenke deren Triebimpulse in eine bestimmte Richtung. Das Unbehagen, das die Zuhörenden angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen und Krisen empfinden, werde auf manipulative Weise aufgegriffen.
Mit der Beziehung zwischen Masse und Agitator beschäftigt sich auch Franz Neumann. In »Angst und Politik« (1954) geht es um die affektive Identifizierung mit einer demagogischen Führerfigur. Dadurch würden Individuen versuchen, ihre Angst, die etwa durch Krieg oder Hunger entsteht, zu überwinden. Letztlich würde diese Angst aber nur in eine neue Form der Angst verwandelt und über Propaganda und Terror institutionalisiert. Vorteile ziehen daraus vor allem der Führer und seine Clique. Ebenso wie im Auszug aus Falsche Propheten findet sich in Neumann Aufsatz Vieles, das dabei hilft, autoritäre Dynamiken besser zu verstehen. Dazu gehört auch die Rolle von Verschwörungsmythen.
Die dem Populismus inhärenten Feindbildkonstruktionen und ihre situative Aktivierung thematisiert auch der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin. Zudem verweist er auf Modernisierungsprozesse als Kontexte für die Empfänglichkeit von Gesellschaften für Populismus. Man merkt: in diesem Text aus dem Jahr 1967 wird gerade erst mit dem Versuch begonnen, den Gegenstand zu fassen. Ähnlich assoziativ geht der deutsch-britische Soziologe Rolf Dahrendorf in seinen »Acht Anmerkungen zum Populismus« aus dem Jahr 2003 vor.
Dahrendorf betont die Bedeutung des Protests für populistische Bewegungen und Politiker, ihre Affinität zu Plebisziten sowie ihre Unfähigkeit, gut zu regieren. Der Erfolg von Populisten zeuge immer auch von der Schwäche der Parlamente. In ihnen passiere genau das, was der Populismus per defintionem negiere: eine detaillierte Debatte sowie deren Übersetzung in auf Kompromiss abzielende politische Entscheidungen. Mit dem Problem des anti-pluralistischen Alleinver-tretungsanspruchs beschäftigt sich auch der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in seinem Aufsatz »Was ist Populismus?« (2016).
Im konkreten Einzelfall sei der Begriff des Populismus jedoch viel zu unbestimmt, argumentiert Wilhelm Heitmeyer in seinem Text zur Alternative für Deutschland (AfD). Erst mit einer differenzierteren Begrifflichkeit ließe sich die Spezifik dieser Partei auf den Punkt bringen. Auf Grundlage einer Analyse von Einstellungsmustern von Funktionären und Wählern, zentralen programmatischen Aussagen sowie dem politischen Mobilisierungsstil der Partei schlägt Heitmeyer vor, die AfD nicht bloß als »populistisch«, sondern als Protagonistin eines »autoritären Nationalradikalismus« zu charakterisieren.
Was genau er mit diesem Begriff meint, führt Heitmeyer detailliert aus. Der Aufsatz, der seiner Monographie Autoritäre Versuchungen aus dem Jahr 2018 entnommen ist, macht ein weiteres Mal deutlich, wie vage der Begriff des Populismus letztlich ist – und wie sehr er die inzwischen noch mehr radikalisierte AfD verharmlost. Eine weitere Stärke von Heitmeyers Text ist die Frage nach den sozio-ökonomischen und politischen Erfolgsbedingungen für den autoritären Nationalradikalismus. Dieser Frage gehen auch Cas Mudde (2004), Philip Manow (2018) sowie Armin Schäfer und Michel Zürn (2021) in ihren Beiträgen nach – allerdings aus jeweils eigenen Blickwinkeln.
Insgesamt ist Populismus. Ein Reader ein inhaltlich reichhaltiger, sehr dichter Band. Er versammelt weniger Fallstudien zu konkreten Ausprägungen des Populismus, sondern versucht vor allem, das Feld möglichst breit abzustecken. Dabei beschränken sich die Texte weitgehend auf Europa und die USA. Dass es thematisch manchmal etwas unübersichtlich wird, liegt in der Natur eines Readers. Was aber fehlt, sind genauere Einführungen oder auch Kommentare zu den einzelnen Beiträgen. Dadurch ließen sie sich historisch und politisch genauer einordnen und auch in Beziehung zueinander setzen. Für sich genommen sind aber alle Beiträge lesens- und diskutierenswert.