In seiner 2009 gehaltenen Dankesrede zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt zeichnet Alexander Kluge ein bemerkenswertes Bild des unglücklichen Namensgebers dieser akademischen Trophäe. Er beschreibt Adorno mit Attributen, die dessen Verächter ebenso wie dessen falsche Liebhaber ihm meist absprechen. Adorno sei, sagt Kluge, ein »freundlicher, kommunikativer Mensch der Gegenwart« gewesen, zugleich jedoch »von hoher Unbestechlichkeit und einem strengen Ernst, wenn es um seine eigene Arbeit geht«. Wie um die freundlich kommunikativen Unmenschen im Parkett, denen Bestechlichkeit und schale Ironie bei ihrer Arbeit selbstverständlich sind, gleich noch einmal vor den Kopf zu stoßen, hebt er an Adornos Gestik außerdem einen Zug hervor, dessen aufdringliche Abwesenheit heute jede Unterhaltung vergällt: »Sie müssen versuchen sich vorzustellen, wie ruhig seine Hände bleiben, wenn er spricht und vorträgt. In einem zweistündigen Vortrag hat er die Hände nicht einmal bewegt, um sie als Ausdruckshilfe zu verwenden. Sie liegen ruhig da, während die Gedanken sein Hirn durchstreifen und sich uns, den Zuhörern, zuwenden. Auch die Gesichtszüge sind vollkommen ruhig. Nur die Augen sprechen. Keine überflüssige Nutzung der mehr als 200 Gesichtsmuskeln, über die ein Mensch verfügt.«
Wenn auch die letzte Bemerkung bei Leuten Anklang finden könnte, die die effiziente Nutzung der Körperkräfte für ein Zeichen von Fitness halten, zielt Kluges Beschreibung auf das Gegenteil sportiver Selbstdressur. Was er an Adorno ungewöhnlich findet, ist nicht eine in Leib und Mimik verkörperte Versagung, sondern der Widerspruch gegen sie: die Askese gegenüber schalem Ornament, hohler Rhetorik und aggressiver Selbstdarstellung – die Abwesenheit jeglicher Performance. Nichts von dem, was heute Dummdreiste anderen Dummdreisten in Coaching-Seminaren zwecks Optimierung kommunikativer Kompetenz beibringen, stört die Rede und damit den Gedanken; dieser braucht, weil er sich im sprachlichen Ausdruck kristallisiert, keine »Ausdruckshilfe«, keine Effektverstärkung durch mimische Hysterie oder gestische Vehemenz. Vielmehr gewinnen die »Gedanken«, die das Hirn »durchstreifen« und sich den Zuhörern »zuwenden«, statt sich ihnen nur mitzuteilen, und die Augen, die als so ruhiges wie lebendiges Organon des Denkens zum Publikum »sprechen«, gestische Qualität. Darin drücken sich für Kluge Kommunikativität und Freundlichkeit aus, nicht in mimisch-rhetorischen Turnübungen, mit denen die Leute einander Allmacht und Unersetzlichkeit einbläuen.
Das Ausdrucksmoment, in dem sich die dringende Gültigkeit Kritischer Theorie zeigt, hat jedoch in der Welt keinen Ort, weshalb man nur »versuchen« kann, es sich »vorzustellen« – ein nicht notwendig erfolgreiches Unterfangen. Deshalb beschreibt Kluge Adorno, den er einen Menschen der »Gegenwart« nennt, dennoch als einen Anachronismus: »Ich kenne Abbildungen von Babyloniern, bürgerlichen Menschen von vor 4000 Jahren. Sie sind ihm ähnlich. Er kommt von weither zu uns.« Wer in diesem Sinne gegenwärtig ist, wer in seiner geistigen und somatischen Erfahrung mit äußerster Empfindlichkeit die verästelten Regungen der Wirklichkeit festhält, der kann in dieser Wirklichkeit nicht aufgehen, sondern muss ihr widerstreben – nicht durch Verhärtung, sondern durch eine Art nachgiebigen Widerstands, der aus eigener Erfahrung kennt, wogegen er sich wehrt. Darum erscheinen solche Menschen denen, die in den pragmatischen Forderungen des Lebens aufgehen, als fremd und unflexibel, als Menschen von gestern.
Anstößig ist weder der blinde Fortschritt, die sture Bejahung dessen, was ohnehin passiert, noch dessen blinde Zurückweisung, sondern die widerstrebende Erfahrung, die sich prägen lässt von dem, was sie verändern möchte. Gerade in dieser Fähigkeit aber, die den Menschen vom instinktiven Verhalten der Tiere unterscheidet, meldet sich die Tierähnlichkeit der Menschen an. Im Schlussfragment der Dialektik der Aufklärung, das den Titel »Zur Genese der Dummheit« trägt und das Kluge in seiner Rede erwähnt, wird dies zum Gegenstand. Kluges Bemerkungen über Adornos Gedanken, die sich ohne »Ausdruckshilfe« dem Publikum »zuwenden«, und über seine Augen, die »sprechen«, während die Hände »ruhig« bleiben, knüpfen an diesen Passus an, der mit den Worten beginnt: »Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke ‚mit dem tastenden Gesicht‘, mit dem sie, wenn man Mephistopheles glauben darf, auch riecht. Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Haut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart. Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels. Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen.«
Dass das Gesicht »tasten« kann, scheint denjenigen lächerlich, die meinen, nur mit den Händen tasten, den Ohren hören, mit der Nase riechen und den Augen sehen zu können: Es weist über die Departementalisierung der Sinne hinaus, deren Organe im Gesicht zum unwiederholbaren Antlitz, zum vergänglichen Ausdruck des lebendigen Einzelnen zusammentreten. Niemand verliebt sich in Augen, Nase, Ohren, Gestik oder Stimme eines anderen, sondern in dessen Gesicht, das selbst nicht nur abgespaltener Körperteil, sondern kondensierter Ausdruck noch der flüchtigsten körperlichen und geistigen Regungen des je individuellen Menschen ist. Erkannt wird das Gesicht nicht wegen seiner Identifizierbarkeit, sondern weil einem in ihm wiederbegegnet, was an den Erscheinungsformen des Lebendigen nicht identifizierbar ist: Darin liegt der Unterschied zwischen Erkenntnis und Erkennungsdienst. Möglich ist das aber nur, weil im Gesicht Somatisches und Geistiges, »Ganzes« und »Selbständiges«, »Sinn« und »Muskel« unendlich zart zusammenkommen. Die Erstarrung des physisch Verletzten, dessen Körper sich, auf kreatürliche Selbsterhaltung zurückgeworfen, gegen den Schmerz verhärtet, um zu überleben, ist nicht zu trennen von der blinden Dummheit des Erschrockenen, der, weil ihm keine Besinnung bleibt, verscheucht, verstockt und um sich schlagend nur noch reagiert wie ein gehetztes Tier.
Insofern ist die Möglichkeit zur Dummheit ein Index für die Ansprechbarkeit alles Lebendigen, für dessen Fähigkeit, sich von anderen, von der Welt, in der es sich bewegt, beindrucken zu lassen. Wo die Dummheit aber, der Selbstreflexion nicht mehr zugänglich, absolut wird, schlägt sie um in Unansprechbarkeit: »Die entfalteteren Tiere verdanken sich selbst der größeren Freiheit, ihr Dasein bezeugt, daß einst Fühler nach neuen Richtungen ausgestreckt waren und nicht zurückgeschlagen wurden. Jede ihrer Arten ist das Denkmal ungezählter anderer, deren Versuch zu werden schon im Beginn vereitelt wurde; die dem Schrecken schon erlagen, als nur ein Fühler sich in der Richtung ihres Werdens regte. Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken. In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte. (…) Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante Energie. Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm.«
Dies ist der einzige Grundsatz jeder Anthropologie, deren Gegenstand die Menschen und nicht ihre gesellschaftlich bornierten, als bornierte naturalisierten Erscheinungsformen sind. Die Menschen als entfaltete Tiere sind »aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört«, in doppeltem Sinn hervorgegangen: Sie entstammen ihr und lassen sie hinter sich. In der erinnernden Vergegenwärtigung dessen, dass jedes Lebewesen »Denkmal ungezählter anderer« ist, »deren Versuch zu werden schon im Beginn vereitelt wurde«, ist die unabweisbare Verpflichtung jedes einzelnen Menschen auf die Menschheit ausgesprochen, die erst wirklich wäre, wenn alles Lebendige von der »Verkümmerung der Organe durch den Schrecken« erlöst und niemand – aus der »Richtung«, in die es ihn zog, »verscheucht« – scheu und dumm wäre. Das wäre keine bombastische Erlösung, so wie der »tastende Blick«, in dem jenes Lebendige sich regt, nichts Hämisches oder Triumphales hat; vielmehr eine, in der die »fragile Hoffnung« Wirklichkeit und doch fragil wäre: Schwäche ohne Ohnmacht, Zuwendung ohne Angst, Glück ohne Stolz.
Wo die Angst übermächtig ist, wird die Dummheit zum »Wundmal«: »Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische wie geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. (…) Der gute Wille wird zum bösen durch erlittene Gewalt. Und nicht bloß die verbotene Frage, auch die verpönte Nachahmung, das verbotene Weinen, das verbotene waghalsige Spiel, können zu solchen Narben führen. Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, daß alles Lebendige unter einem Bann steht.« Diese Sätze sind die Widerlegung jeder existenzialistischen Ethik, die die Individuen auf ihre Verantwortung, Entscheidung und ureigene Wahl festlegen will, um sie umso herrschsüchtiger je nach Gusto zu lobpreisen oder zu verurteilen: Der »Bann«, unter dem »alles Lebendige« steht, erzeugt den »bösen Willen«, nicht dieser selbst.
Damit ist keine Entschuldigung ausgesprochen für jene, die den bösen Willen zum Prinzip erheben, in heroischer Selbstversteinerung nur noch Narben zufügen, statt sie zu spüren, und die dem täppischen »Spiel der Muskeln«, das seiner selbst nie sicher sein darf, um empfänglich zu bleiben, deren bedingungslosen Drill vorziehen. Der Passus stellt aber heraus, was jede Bewusstseinsphilosophie lügnerisch rationalisiert: dass jeder Einzelne geworden ist, wofür er sich entscheidet, und daher ohne Entscheidung, vielmehr durch lebendige Entwicklung, auch anders hätte werden können. Deshalb ist der »böse Wille« oberflächlicher und tiefer zugleich, als jede Ethik es sich wünscht: oberflächlicher, weil er ein spätes Ergebnis halbbewusster Entwicklungen ist; tiefer, weil jeder Mensch, der sich zum Bösen entscheidet, schon vorher böse geworden ist. Was anders wäre, nennt Kluge in Rückgriff auf Kant den »zärtlichen Keim« der Vernunft, der in jedem Menschen ruht, der aber in einermit dem Grauen fast identischen Wirklichkeit nur als ohnmächtige Phantasie existiert.