Tiere sind gute Projektionsflächen für gesellschaftliche Vorstellungen und Vögel dabei keine Ausnahme: Standen sie in neutestamentarisch-christlicher Tradition noch für das Gottvertrauen schlechthin (»Sie säen nicht, aber sie ernten«), können sie auch zur Allegorie jenes Dämonischen werden, das in Gestalt der Raben ab dem Mittelalter übel beleumundet war. An Tauben zeigen sich diese widersprüchlichen Einschätzungen deutlich: Sie changieren zwischen Hoffnungssymbol nach der Sintflut und offiziell als »Schädlinge« klassifizierte »geflügelte Ratten.« Zumeist werden sie als Ärgernisse mit Dingcharakter wahrgenommen, obwohl sie sich doch etwa als Modell vorbildlicher Beziehungsgestaltung gut eigneten: Tauben entsprechen sowohl dem Ideal lebenslanger Bindung, als auch dem, Reproduktionsaufgaben partnerschaftlich zu teilen. Zugleich sind sie – aufgrund ihrer raschen Vermehrung durch mehrere, kurz dauernde Bruten pro Jahr – auch interessant für Zuchtvorhaben. Als Brieftauben übermitteln sie Nachrichten, als Renntauben (race pigeons) müssen sie Wettbewerbe bestreiten und als »Rassetauben« (fancy pigeons) werden sie auf Taubenschauen vorgeführt. Die Mannigfaltigkeit der Taubenarten interessierte auch Darwin: Ihm ging es dabei weniger darum, neue Vielfalt zu schaffen, als die Entstehung der vorhandenen zu rekonstruieren, die er gänzlich auf die Felsentaube zurückführte. Dabei ging er von einer Analogie zwischen artificial und natural selection aus: In beiden Bereichen werden demnach dieselben grundlegenden Gesetzmäßigkeiten wirksam. Die unsichtbare Hand der selektierenden ersten Natur manifestiert sich in den Zuchtaktivitäten: Taubenzucht ist Evolution im Taschenformat. Menschen versuchen jene Vorgänge, deren Resultate sich zufälliger Mutationen verdanken und bei Nützlichkeit vermittels sexueller Selektion vererbt werden, in ihrem Sinne anzuwenden, wobei im Falle der pigeon fanciers1 die Auswahl von ästhetischen Kriterien bestimmt ist. Durch das Erreichen rigoroser Standards soll ein Ideal in der Zucht verwirklicht werden. Da diese Prozedur genetisches Lotteriespiel ist, laufen Kreuzungen dabei nicht unbedingt auf die gewollten Effekte hinaus: Der Prozess ist zumeist über mehrere Generationen hinweg von wechselnden Ergebnissen gezeitigt bis eine Variation zum distinkten Merkmal wird. Darwin unterschied zwischen methodischer Selektion, bei der ein selective agent bewusst und planvoll auswählt, um Merkmale zu bewahren oder ein voraussehbares neues Ergebnis zu erzielen und unbewusster Selektion, bei der sich über individuelle Kreuzungen größere Verschiebungen ergeben, die aus den unkoordinierten Aktionen tausender einzelner Züchtungsvorgänge resultieren. Während Erstere mit dem Konzept der künstlichen Selektion leicht vereinbar ist, war Letztere für Darwin bedeutungsvoller und bereitete mehr Schwierigkeiten. Vor dem Hintergrund einer Analogie von natürlicher und künstlicher Selektion ist das Moment der planvollen Auslese eine Argumentation, die der Vorstellung vom »intelligent design« zuarbeitet, welche Darwin gerade widerlegte: Bei der Lösung der Frage, wie die Natur ohne Richtlinienkompetenz ihr fancy in der unbewussten Selektion individueller Differenzen (und damit jene long-term changes) verwirklicht, verfiel Darwin – nach Rezeption der Bevölkerungstheorien von Thomas Malthus um das Jahr 1838 – auf das Prinzip der Rivalität, wie er es nicht zuletzt in der Taubenzucht vorfand und auch folgenderweise charakterisierte: »Hard cash paid down, over and over again, is an excellent test of inhereted superiority.« Dass Bargeld nicht nur die Goldprobe für »ererbte Erhabenheit« darstellt, sondern als Wertausdruck auch auf verkehrte Verhältnisse in fetischisierter Form verweist, stellte schließlich Marx dar. Dieser schätzte an Darwins Theorie deren Materialismus, die rationale Argumentation und seine Wendung gegen eine Teleologie in der Natur. Dieser habe Darwin »trotz schlampiger englischer Methode« empirisch den Todesstoß versetzt. Während er »Über die Entstehung der Arten« zuvor noch als »das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält« bezeichnet hatte, stellen sich die expliziten Bezüge auf Darwin in zwei Fußnoten des Kapital anders dar: In der Forderung nach einer kritischen Geschichte der Technologie verwies Marx darauf, dass Darwin die Geschichte der »natürlichen Technologie« beforscht habe, die Untersuchung der »materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsformation« jedoch noch ausstehe. Diese sei zudem deshalb leichter zu liefern, da – in einer Formulierung Vicos – »die Menschheitsgeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andere nicht gemacht haben.« Zwar lassen sich zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte als strukturelle Ähnlichkeiten konstatieren, dass beide zur gleichen Zeit artikuliert wurden und epochale Wirkung entfalteten. Auf dem Hiatus zwischen diesen beiden Dimensionen insistierte aber vor allem der »ironische Sozialdarwinist Marx« (Adorno) und kritisierte vehement deren unvermittelte Amalgamierung bei denen, die die Darwinsche Theorie auf soziale Belange anwandten. Für Tiere als Teil der Natur ist es Tatsache, dass diejenigen mit den günstigeren Eigenschaften sich fortpflanzen. Was günstig und nützlich ist, stellt sich aber erst im Nachhinein als solches dar und hängt von der Umwelt und deren Veränderungen ab: Zweckmäßigkeit besteht in der Anpassung. Marx sah, dass Darwin den Konkurrenzkampf des Laissez-faire Kapitalismus im viktorianischen England auf die Natur übertrug. Die verkehrende Rücktransaktion der Theorie – welcher Darwin selbst ambivalent bis skeptisch gegenüberstand – führt dazu, dass Konkurrenz und Elend im Kapitalismus der Status unabänderlicher Naturgesetze zuerkannt wird: Ein Unterschied zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte besteht aber gerade in der Möglichkeit der Opposition gegen den scheinbar naturwüchsigen Verlauf Letzterer. Marx Kritik der politischen Ökonomie hat dabei den Willen zur Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse als Voraussetzung der Erkenntnis. Seine Bemerkung in den »Grundrissen«, wonach die Anatomie des Menschen ein Schlüssel zur Anatomie des Affen sei, ist dabei so zu verstehen, dass sich die spätere Form nicht einfach logisch aus der früheren ableiten lässt. Auch wenn ein früherer Zustand Voraussetzung für einen späteren war, ist er – wie Wolfgang Pohrt in seinem Aufsatz »Vernunft und Geschichte bei Marx« schrieb – »keineswegs die unumstößliche Basis der späteren Entwicklung, sondern ein von der späteren Entwicklung geprägtes Konstrukt, d.h. der Ursprung und der Verlauf der Geschichte ist immer durch ihr gegenwärtiges Resultat vermittelt.« Zwischen dem Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis und vorangegangenen Gesellschaften gibt es keine logische Kontinuität und es ist auch nicht aus seinen Rahmenbedingungen deduzierbar. In seiner skandalösen und widersinnigen Logik – die zugleich geschichtliche Vernunft stiftete – ist das Kapital als »automatisches Subjekt« vom erkennenden Subjekt zwar darstellbar, muss in seinen logischen Zwängen aber als abzuschaffender Skandal wahrgenommen, um begriffen zu werden. Eine dem Kapitalismus adäquate Theorie würde erst durch dessen Abschaffung bestätigt und zugleich aufgehoben: Der Wille dazu liegt aber außerhalb ihrer begründet. Die Bedingungen für Begreifen und Abschaffen haben sich jedoch geändert, da jene historische Konstellation, unter denen Marx Theorie als Kritik dadurch materielle Gewalt werden konnte, dass sie eine soziale Bewegung ergriff, verschwunden ist. Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war eben nicht die Vorstufe zu dessen Aufhebung, statt dessen wurde in ihm Auschwitz möglich und wirklich. Durch abstrakt-utopische Konzepte gestützte Bestrebungen, das »Wertgesetz« (und sei es »solidarisch«) anwenden – statt abschaffen – zu wollen, um einer geschichtlichen »List der Vernunft« zu ihrem Recht zu verhelfen, sind die unreflektierte und regressive Verlängerung jener antisemitischen Kapitalismuskritik, die im Nationalsozialismus auf die Vernichtung der »jüdischen Gegenrasse« zielte und in millionenfachen Mord mündete. Seit da verbietet es sich, eine »Logik der Geschichte« zu unterstellen, aus der heraus ein Verein freier Menschen positiv antizipierbar wäre, ohne Ideologie zu sein. Der materialistische Aufklärer Freud konnte 1930 in »Das Unbehagen in der Natur« noch postulieren, dass schon das Beispiel der Schönheit, »die wir unter den Interessen der Kultur nicht vermissen wollen«, zeige, dass »die Kultur nicht allein auf Nutzen bedacht ist«, wohingegen Adorno gerade 15 Jahre später im Aphorismus »Herr Doktor, das ist schön von Euch« konstatieren musste, dass es diese harmlose Schönheit angesichts dessen, was Menschen angetan wurde, nicht mehr gibt: »Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt.« Die Natur hält den Menschen im Bann, weil dieser zum einen Teil von ihr ist, sich andererseits aber als ihr entgegengesetzt begreift. Bei der Taubenzucht ist sie in Gestalt der Vögel nahe und zugleich unter Kontrolle: Im viktorianischen England war sie attraktiv für eine Gesellschaft, die menschlichen Körpern »tight-laced extremes of fashion« zumutete. Als »harmless gentleman‘s hobby« (das die These vom männlichen Gebärneid nicht unplausibel scheinen lässt) war das – als Kulturleistung selbstzweckhaft schöne und zugleich modisch formierte – pigeon fancying immer schon durch Qualzucht erkauft, bei der die auserlesenen Merkmale für die Tiere hinderlich, oder gar existenzbedrohend waren. Zugleich enthielt sie aber auch ein sportives Element der Stilisierung körperlicher Erscheinung gegenüber bloß kreatürlicher Notwendigkeit und damit ein Stück Freiheit. Durch die Konsequenzen des Rassenwahns hat sie auch diesen Rest Unschuld verloren. Wenn in Onlineforen von Taubenzuchtverbänden postnazistischer Gesellschaften2 Phantasien ventiliert werden, in denen es um »Träume, Ziele und Vorstellungen einer neuen Rasse« geht, müsste sich daran zeigen lassen, dass die deutsche Ideologie selbst dem glanzvollen Gebilde einer Schwanzfeder ihre Muster aufzwingt.