Mythos Kunst (Teil 1): Der Mythos des Künstlers

Armin Medosch spannt den großen Bogen.

In diesem ersten Teil der Serie Mythos Kunst geht es darum, nachzuzeichnen, wie der Mythos vom zeitgenössischen Künstler geschichtlich entstanden ist. Die männliche Endung des Titels ist absichtlich gewählt, um zu unterstreichen, dass es sich um einen androzentrischen Mythos handelt. Der Mythos des Künstlers ist Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, die mit ihren patriarchalischen Strukturen, ebenso wie auf der Basis der ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Kunst eine mystifizierte und mystifizierende Rolle zuwies. Deshalb versucht dieser erste Teil eine historische und kritische Perspektive auf den Mythos vom Künstler zu entwickeln.
Der Begriff Mythos taucht hier nicht in seiner allgemeinsten, umgangssprachlichen Bedeutung auf, sondern verweist darauf, frei nach Claude Lévi-Strauss, dass der Mythos ein Versprechen einer Überwindung von Gegensätzen beinhaltet, und somit eine falsche, da rein symbolische Aufhebung von gesellschaftlichen Widersprüchen durchzuführen vorgibt. Deshalb werden Mythen gerne in die Vergangenheit projiziert, oder in die Zukunft, oder in eine Parallelwelt verlegt, eben wie die Kunst. Der Umstand, dass die Widersprüche nur scheinbar aufgehoben werden, bedeutet nicht, dass der Mythos keine Wirkungsmacht hat, im Gegenteil.
    Der Mythos Kunst hat viel mit der Autonomie der Kunst zu tun. Die Autonomie der Kunst ist eine soziale, historisch entstandene, und insofern eine harte Kategorie, die sich nicht wegleugnen lässt. Der Begriff der Autonomie der Kunst verweist auf das Entstehen einer autonomen Sphäre der Kunst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft, dem Beginn der industriellen Revolution und dem Prozess der Säkularisierung verbunden ist. Mit der Ablöse des Systems der Gönnerschaft durch Adel und Religion durch den Markt konnten Maler vom Verkauf der Bilder, Schriftsteller vom Verkauf von Büchern leben. Damit wurde die Kunst auch im ökonomischen Sinn ein wenig weniger abhängig, aber das bezeichnet nicht den Kern der Autonomie der Kunst. Die Künstler und Kritiker und jener Teil der Gesellschaft, der sich mit Kunst befasste, bestimmten gemeinsam was Kunst war, das ist im eigentlichen Sinn die Autonomie der Kunst. Das war jedoch von Beginn an eine zweischneidige Angelegenheit.

Die Autonomie war Bedingung für die Freiheit der Kunst im inhaltlichen Sinn, das aber zu dem Preis, dass sie in der bürgerlichen Gesellschaft in eine Randposition abgedrängt wurde. Die Kunst stand außerhalb der Produktionsverhältnisse. Einerseits verkörperte sie die höchsten Werte dieser Gesellschaft, andererseits wurde ihr ein besonderer Ort zugewiesen, ein idealer Ort, an dem die bürgerliche Gesellschaft in symbolischer Form ihre Probleme bewältigte. Diese besondere, geschützte autonome Sphäre der Kunst entstand zu einer Zeit, als das neue System der Warenproduktion alles mit sich zu fegen drohte. In diesem System triumphierte der Tauschwert über den Gebrauchswert, und diese Spaltung selbst wurde zum »Thema« der Kunst. Es wurde »Thema« insofern als die Spaltung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert zur Grundlage für den Warenfetischismus wurde. Die Kluft zwischen Gebrauchswert und Tauschwert ist die Quelle für die Tendenz zur Verdinglichung. Die Dinge werden von ihren Produzent_innen getrennt, existieren außerhalb von ihnen und nehmen eine eigene Macht über sie an. Diese Tendenz zur Verdinglichung ist überall anzutreffen, auch in der Wissensproduktion und in der Kunst. Die Kunstwerke selbst werden, zu Waren auf dem Kunstmarkt gemacht, Opfer der Verdinglichung. Die Kunst wurde somit Objekt einer doppelten Mystifizierung, einerseits als Ware, andererseits als idealisierte, außerhalb der kapitalistischen Warenform stehende Sphäre menschlicher Produktion, als dieses »andere« der kapitalistischen Welt, welche diese sich als notwendige Gegenthese gegen sich selbst erlaubte. Dabei kam diesem »anderen« Ort eine wichtige Funktion der Kompensation zu: die Freiheit der Kunst verdeckte den unvollständigen Charakter der bürgerlichen Revolution, wie Herbert Marcuse an verschiedenen Stellen erörterte.

Die Autonomie der Kunst und das Rollenbild des Künstlers sind eng mit der Französischen Revolution verbunden. Bei dieser Revolution des Bürgertums gegen Adel und Kleriker benötigten die Bürger die Unterstützung der Arbeiter und Bauern. Es wurden daher die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausgerufen, in der universellen Erklärung der Männerrechte – gefolgt von der »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« von Olympe de Gouges, die dafür unter der Guillotine landete. Die bürgerlichen Revolutionen waren gekennzeichnet von dieser negativen Dialektik: einerseits konnten sie nur gewinnen, indem sie an universale Werte appellierten; andererseits war das Bürgertum als Klasse nicht geneigt, anderen - Frauen, Arbeitern, Bauern - ebenso die aktive Ausübung dieser Rechte zuzugestehen. In Frankreich, während der zweiten revolutionären Phase, im Jahr 1793, organisierte der Maler und glühende Republikaner Jacques-Louis David die Feierlichkeiten zum einjährigen Jubiläum des Falls der Monarchie. Seine künstlerisch gestaltete Prozession, an der 200.000 Menschen teilnahmen, hatte zum Inhalt und Thema die Einheit, Freiheit und Gleichheit der revolutionären Massen. David stand am linken Flügel der bürgerlichen Revolution, lehnte die Akademie der Künste ab und gründete gleich 1789 seine eigene, basisdemokratische Kunstschule. Er war Mitunterzeichner des Todesurteils gegen Ludwig XVI. und Marie Antoinette. Die zahlreichen von ihm organisierten Massenveranstaltungen hatten die Revolution nicht nur zum Inhalt, sondern zogen Bürgerinnen und Bürger aller Schichten und Hautfarben direkt mit ein. Sie können somit als Vorläufer einer partizipativen Kunst gelten, mehr als 100 Jahre bevor Theaterdirektor Wsewolod Meyerhold am Jahrestag der bolschewistischen Revolution in Leningrad, mit Hilfe von Zehntausenden Statistinnen und Statisten und unter Beteiligung konstruktivistischer Künstler den Triumph der revolutionären Massen feierte. Formal unterschieden sich diese Prozessionen von den Großaufmärschen der Nazis, die den Einzelnen mit den Mitteln der ästhetischen Überwältigung vor dem Führer und der Partei in die Knie zwangen, wie Walter Benjamin kritisierte. In den karnevalesken Umzügen von Jacques-Louis David, ebenso wie den Revolutionsfeiern während der frühen Jahre des Sowjetkommunismus wurde den Menschen eine Rolle als aktive Mitgestalter zugedacht, und die Grenzen zwischen Hochkultur und Folklore fielen. Diese Events waren partizipative Kunstformen und dem Genre des Karnevals zugehörig, wie von Mikhail Bakhtin theoretisiert. Dieser verstand Karneval, um es sehr frei zu paraphrasieren, als Gleichzeitigkeit der Stimmen der Multitudes wodurch, temporär, aber mit einem Schlag, alle Mystifizierungen aufgehoben sind und die Gesellschaft ein direktes Bewusstsein von sich selbst erhält.
    David ebenso wie die nachrevolutionären Konstruktivist_innen stehen für die Idee von Künstler_innen als Revolutionäre, deren Praxis nicht nur Jospeh Beuys Aussage antizipierte, dass jeder Mensch ein Künstler sei, sondern auch die parallel zu setzende Behauptung des westindischen marxistischen Autors C.L.R. James, demzufolge jeder Koch regieren kann. Die revolutionären Bestrebungen von Künstlerbewegungen der 1950er und 1960er Jahre wie der Situationistischen Internationale (SI) und die von ihnen gewählten Formate gehen auf diese Vorläufer zurück, aber auch Arbeiten jüngeren Datums wie z.B. The Battle of Orgreave (2001) von Jeremy Deller. In dieser Arbeit thematisierte Deller durch ein sogenanntes »Re-enactment,« eine Nachstellung der Ereignisse, einen Wendepunkt während des Streiks der Minenarbeiter in England in der Thatcher-Ära, der durch massive Polizeigewalt gekennzeichnet war und von weitreichenden Folgen über England hinaus. Künstler_innen als Revolutionäre wurden hier eingeführt, um zugleich auf die Limitierungen einer politischen Kunst heute zu verweisen, die sich auf die historische Figur des Künstler-Revolutionäre beruft, um ihre eigene Beschränktheit zu vertuschen. David steht als Vorläufer einer Tradition, bei der Kunst und Revolution in direkten Austausch miteinander gerieten. Damals wurde auch erstmals der Louvre als nationales Museum allen Menschen zugänglich gemacht, Kunst nicht mehr länger als Spielzeug der Reichen betrachtet, sondern mit dem demokratischen Ideal assoziiert.

Doch schon Jahre früher hatte David als Maler der Revolution zu gearbeitet, indem er die bürgerlichen Revolutionäre in die Kostüme des republikanischen Roms steckte, wie z.B. in Der Schwur der Horatier (1784). Das Bürgertum, in seiner heroischen Phase, versuchte dem eigenen Ideal zusätzlichen Anspruch verleihen, indem es seinen politischen Kampf in die Gewänder der klassischen Antike kleidete. 1793 schuf David mit dem Bild vom Tod des Marat (1793) nicht nur eine Ikone der verratenen Revolution, sondern laut T J Clark das erste Werk der modernen Kunst, das seinen politischen Gehalt unverhüllt und unmittelbar präsentierte. Der in der Badewanne erstochene Marat, die Feder noch in der Hand, um eine letzte Botschaft an das Volk abzufassen, stilistisch der Jesusfigur in einer Pietà ähnelnd, vereinte in sich die geballte narrative Kraft der Revolution am Vorabend ihrer eigenen Dämmerstunde.

Guter Anfang, schlechtes Ende

Kurz danach war die Revolution vorüber und es begann, nach einer Ära der Unsicherheit, die Regierungszeit Napoleons, die napoleonischen Kriege und schließlich die Phase der Restauration. In dieser Zeit gab zwar zunächst politisch noch der Adel den Ton an, doch eigentlich war es bereits der Beginn des langen Jahrhunderts der bürgerlichen Gesellschaft und des freien Marktes. In dieser Gesellschaftsform, die Marx analysierte, standen sich Kapital und Arbeit gegenüber. Die Lebenszeit der Menschen, in Form der Arbeitskraft, wurde zur Quelle des Mehrwerts für die Unternehmer. Die Arbeiter_innen produzieren nicht nur das, was sie zur Reproduktion der eigenen Arbeitskraft benötigen, sondern darüber hinaus den Mehrwert, den sich das Kapital aneignet, einerseits um in den Luxuskonsum gesteckt zu werden, andererseits um wieder in die Produktion zu investieren. Die Expansion des Kapitals beruht auf der Ausbeutung der Arbeitnehmer_innen, was genau bedeutet, die einseitige Aneignung des Mehrwerts. Diese Trennung des Resultats der Arbeit von den Arbeitnehmer_innen, ebenso wie die Spaltung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, mit all den Folgen, die das bringt, stellt das dunkle Geheimnis des Kapitalismus dar. Es sind inakzeptable Zustände, die, um aufrechterhalten zu werden, staatlich sanktionierter Gewaltakte bedürfen, einer Klassenjustiz, und repressiver Institutionen wie von Michel Foucault dargestellt – Gefängnis, Irrenhaus, Kaserne, aber auch Schule und Museum. Es braucht einen Marx um in einer Tiefenanalyse hinter die Oberflächen der Warenwirtschaft zu schauen, in der sich die Menschen als Konsument_innen begegnen. Es braucht aber auch die Tiefenanalyse eines Freud, um hinter den sogenannten Neurosen die Arbeit des Unbewussten zu sehen.
 
In der entfesselten Marktwirtschaft des 19. Jahrhunderts kommt die Autonomie der Kunst erst eigentlich zur Geltung. In ihr konnten die utopischen Werte der Revolution gewissermaßen überwintern. Wie Herbert Marcuse analysierte, erlaubte das Bürgertum die Existenz wirklich demokratisch, egalitärer Verhältnisse nur in der autonomen Sphäre der Kunst. Das Versprechen eines besseren Lebens für alle musste in der Theorie aufrechterhalten, in der Wirklichkeit aber den Arbeiter_innen verweigert werden. Zum Unterschied vom Adel und Klerus hatte das Bürgertum seine Phase der Klassenherrschaft mit dem Versprechen der Demokratie begonnen, der politischen Beteiligung von allen. Defacto lief es dann aber auf politische Beteiligung der besitzenden männlichen Bürger hinaus. In der Kunst musste dieser demokratische Anspruch aber weiter bestehen. Dabei bedurfte es gar nicht einer besonders politischen Kunst. Marcuse verortete sogar in der am wenigsten revolutionären Kunst, dem L‘Art pour L‘art – der Kunst um der Kunst willen – deren einziges Anliegen es war, ästhetische Erfahrungen zu bescheren, noch ein utopisches Moment. Diese Kunst, da sie im Prinzip allen zugänglich war, enthielt via die ästhetische Erfahrung ein Versprechen auf ein besseres Leben. Auch wenn Arbeiter_in nie ins Museum ging und nie ein solches Kunstwerk besitzen würde, so konnte sie oder er doch über Reproduktionen in Zeitungen oder auf Postkarten und Kalendern – also dank der modernen Techniken der Vervielfältigung – Kunst ebenfalls genießen.
    Stichwort Technik. Mit Bezug auf Sigmund Freuds zivilisationskritisches Werk »Civilization and its Discontent« sieht Marcuse den Fortschritt von Gesellschaft und Technologie für den Preis der Triebunterdrückung erkauft. In einer Welt, die von rasendem technologischem Fortschritt und der permanenten Revolution der Produktivkräfte geprägt ist, werden die antiken Figuren Narziss und Orpheus zu unwahrscheinlichen Helden der Kunstrevolution. Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt und dadurch völlig funktionsunfähig wird und stirbt, ist eben durch diese völlige Hingabe an die Schönheit ein Gegenimpuls zur alles umfassenden Nutzenmaximierung der kapitalistischen Gesellschaft. Auch Orpheus, dessen Stimme die wilden Tiere beruhigen kann und der im Namen der Liebe den Weg in die Unterwelt antritt, wird als Antiheld und Gegenstück zum Homo Oeconomicus der kapitalistischen Revolution angesehen. Orpheus, lässt Marcuse nicht unerwähnt, wurde von den Frauen getötet, weil er ihre Söhne verführte. Die prometheische Kraft des Dichters entzieht sich dem heteronormativen Zwang zum Sex als Teil der Fortpflanzung. Und insgesamt, auf rein abstrakter Ebene, nimmt Marcuses Definition einer Kunst als Überschreitung und Transgression bürgerlicher Rollenverständnisse ein Künstlerbild vorweg, das insbesondere mit den Revolten von 1968 und deren langem Nachwirken verbunden sein wird.
    Im bürgerlichen Zeitalter wird ein besonderes Künstlerbild konstruiert. Der Künstler, als Erzeuger einer anderweltlichen Schönheit, die den Ausstieg aus der von Zwängen und Hierarchien überdeterminierten Gegenwart ermöglicht, kann kein normaler Mensch sein. Wie schon Kant argumentierte, braucht es ein Genie, um wahre Kunst zu schaffen. Also wird der Künstler zu jemandem stilisiert, der, besonders empfindungsfähig wie Orpheus, zum Abstieg in die Tiefen des Seelenlebens fähig ist, jemand, der in direkterem Kontakt mit den eigenen Trieben und den Gesetzmäßigkeiten des Kosmos und Universums steht. Dieser Künstler muss ein Außenseiter sein, er kann nicht im Zentrum der Gesellschaft stehen und muss gewissen Widrigkeiten, die naturgemäß aus dieser Außenseiterstellung erwachsen, etwas entgegensetzen können. Er ist ein Pionier, ein Grenzgänger, er ist vor allem auch ein Individuum, der höchste Ausdruck der Individualisierung, das gerade deshalb zugleich innerhalb und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft steht, als Verkörperung ihrer höchsten Werte, die zugleich für diese Gesellschaft, in zu konzentrierter Form, inakzeptabel sind. Dieser Mythos vom Künstler, entstanden bereits in der deutschen Romantik und in verschiedenen Versionen gehegt und gepflegt das ganze 19. Jahrhundert hindurch, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum dominanten Künstlerbild der westlichen Welt, verkörpert durch Figuren wie Jackson Pollock und die gesamte amerikanische Schule des Abstrakten Expressionismus. Die Freiheit der Kunst und der Mythos vom Künstler-Individuum wurden explizit in Gegensatz zum Kollektivismus der Sowjetgesellschaften gesetzt und im ideologischen Kampf um die Weltherrschaft benutzt.
Diese Sicht unterschlägt, dass Kollektivität ein weiteres gut gehütetes Geheimnis des Kapitalismus ist. Kapitalismus bedeutet fortwährende Vergesellschaftung, Kapitalismus erzeugt Kooperation auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Es ist Kooperation unter Zwang und Diktat, aber nichtsdestotrotz funktioniert sie zu einem gewissen Grad, sie erzeugt Weltausstellungen, Glaspaläste, den Eiffelturm. Was sie nun zu verheimlichen sucht, ist der gesellschaftliche Charakter dieser Produktion. Deshalb muss der Künstler – als eigentlicher, aber nicht wirklicher Inbegriff dieser Gesellschaft – besonders individuell sein. Doch selbst was dieser Künstler schafft, wird, von seiner sozialen Substanz getrennt, zur Ware auf dem Kunstmarkt. Die Verdinglichung erlaubt es, die Kunst vom Künstler zu trennen.
    Diese verdinglichte Kunst, wie Fredric Jameson fast nebensätzlich bemerkte, bezieht gerade daraus ihre besondere Faszination, dass wir sie als verdinglichte Kunst genießen können, befreit vom störenden Kontext, der uns immer wieder nur zurück in die Realität, in den schmutzigen Infight unauflöslicher Gegensätze stoßen würde. Die Kunst lebt davon, ihr politisches Unbewusstes zugleich zu erzählen und zu verbergen. Die Ausübung des Berufs des Künstlers ist nur möglich, wenn andere die »gesellschaftlich notwendige Arbeit« machen. Die Sonderstellung der Kunst ist ihr Privileg, aber auch ihr Fluch. Das utopische Versprechen der Schönheit als im Kunstwerk aufgehobenes Versprechen einer besseren Welt ist, kann, nur ein Zwischenstadium sein, wenn, wie im 19. Jahrhundert geschehen, die Arbeiterbewegungen immer mehr erstarken und nicht länger nur kompensatorische Befriedigung erwarten.

Die Künstler-Avantgarden

Dabei kommt nun aber noch eine weitere Dialektik zum Tragen, die erst durch die Autonomie der Kunst ermöglicht wurde. Die autonome Sphäre der Kunst ermöglicht die Annahme einer Außenposition, die zur Bedingung wird, um radikal Neues zu denken. Erst dieser andersweltliche Blickwinkel erlaubt die Wahrnehmung der Gesellschaft in ihrer Begrenztheit und die Formulierung radikaler Alternativen. Bühne frei für die Avantgarden. In der Phase der Restauration nach der Absetzung Napoleons verfasste Henri de Saint-Simon eine Reihe von Schriften über eine neue Klasse, gebildet aus Unternehmern, aber auch Intellektuellen und Künstlern, die eine neue Gesellschaft aus der Synthese der Künste und Wissenschaften herbeiführen würden. Saint-Simon und seine Schüler und Anhänger, die so etwas wie eine radikale, früh-sozialistische Sekte bilden, darunter sein Sekretär, Auguste Comte, entwickeln die Vorstellung einer Allianz von Unternehmern, Ingenieuren, Bankiers und Künstlern als Avantgarde, als bewusster gesellschaftlicher Vorhut, und verwenden auch diesen Begriff zum ersten Mal in diesem nicht militärischem Sinn. Diese Idee einer »Klasse des Neuen«, wie Richard Barbrook es im gleichnamigen Buch nannte, wird zur Blaupause eines anderen Künstlerbildes, das die Neo-impressionisten beeinflusste, ebenso wie die »konstruktiven Avantgarden« des frühen 20. Jahrhunderts, die russischen Konstruktivisten und Bauhaus. Die Selbstdarstellungen konstruktivistischer Künstler wie El Lissitzky, Dsiga Wertow, oder Alexander Rotdschenko, mit Rasterpapier, Kameraauge und Cyborg-Körper verbinden das Ideal der Maschinenkunst mit dem Bild des neuen Menschen.

Diese Ideen fanden Fortsetzung, in abgewandelter Form, durch die Nachkriegsavantgarden wie die Neuen Tendenzen in Europa und Experiments in Art and Technology (E.A.T.) in den USA, beides direkte Vorläufer der Medienkunst. Davon wird in späteren Folgen dieser Serie sicher noch die Rede sein. Doch was an dieser Stelle zählt, ist zunächst die Bewegung der Avantgarde selbst als dialektische Bewegung. Sie benötigt die geschützte Zone der Autonomie der Kunst, um sich zu formieren, will sich aber mit einer Revolution in der Kunst allein nicht zufrieden geben. In diesem Sinn ist die Urbewegung aller Avantgarden das Durchbrechen der Schranke zwischen Kunst und Leben. Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert arbeiten politische und künstlerische Avantgarden an der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Formen der Verdrängung. Die Autonomie der Kunst findet ihren vollständigsten Ausdruck im Symbolismus, der keinerlei Realitätsbezug aufweist. Von diesem Nicht-Ort erfolgen die Guerrilla-Attacken der Avantgarden auf die Gesellschaft und symbolische Ordnung, seien es Dada, Surrealismus, und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Happening, Fluxus, Intermedia, Land Art, Arte Povera, Videokunst, Feminismus. Der, aus Sicht progressiver Künstler, eigentlich verfemte Standort der Autonomie der Kunst bildet eine Art Basis, von der aus zum Angriff auf die Kunst-Leben-Schranke geblasen wird. Das Ideal der Überwindung der Schranke zwischen Kunst und Leben war noch bis weit in die 1970er Jahre wirksam, als die Neo- zu den Post- und Retro-avantgarden wurden. Dabei wurde, oft gegen besseres Wissen oder auch im Widerspruch zu den eigenen, basisdemokratischen politischen Idealen, immer wieder die romantische Figur des Außenseiter-Künstler-Genies in Anspruch genommen. Politische Künstler taten ihr bestes, die letzten Reste der sakralen Wurzeln der Kunst abzustreifen und das bürgerliche Kunstgenie zu Grabe zu tragen. Doch seither sind wiederum 40 Jahre vergangen, und in Folge der neoliberalen Konterrevolution ist das Künstlergenie wie ein Phönix aus der Asche der Kunst wieder erstanden. Die Bemühungen der Avantgarden und Neo-avantgarden, ein neues, mit dem Kollektiv verbundenes Künstlerbild zu entwickeln, das nicht mehr von der bürgerlichen Ausnahmestellung gekennzeichnet war, wurden und werden durch den Markt unterlaufen, der auf den Künstler als Markennamen setzt, wobei der Wert der spekulativen Ware Kunst untrennbar mit dem Namen des Künstlers verbunden ist, wie etwa bei Damian Hirst, Jeff Koons oder Olafur Eliason.


Teil 2: Kunst und Technik
Teil 3: Im Blitzlicht der Ästhetik des Neuen
Teil 4: Feminismus, Semiotik, Anti-Kunst, Befreiung
Teil 5: Die Computerkunst ist tot, es lebe die Medienkunst!
Teil 6: Post-Art oder in der Endlosschleife des Zeitgenössischen

Lesetipps

Marcuse, Herbert. Eros and Civilisation: A Philosophical Inquiry Into Freud. Ark Paperbacks, 1987.

Marcuse, Herbert. Art and Liberation: Collected Papers of Herbert Marcuse. Taylor & Francis, 2007.

Jameson, Fredric. The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic Act. Cornell University Press, 1982.

Bishop, Claire. Artificial Hells: Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London: Verso Books, 2012.

Lunn, Eugene. Marxism and Modernism: An Historical Study of Lukács, Brecht, Benjamin, and Adorno. Berkeley: University of California Press, 1984.