In Krisenzeiten laufen die Meinungshabenden im sogenannten Land der Dichter und Denker zuverlässig zur Höchstform auf – was üblicherweise bedeutet, unter Beweis zu stellen, dass die oftmals nicht allzu hoch ist. Zuzugeben, dass man dem Grauen des Ukrainekriegs in erster Linie reichlich hilflos gegenübersteht, ist für viele offenbar schon zu viel verlangt.
Brief zu, es zieht!
Einigermaßen ehrlich ist immerhin der in der Zeitschrift »Emma« veröffentlichte offene Brief, in dem eine Reihe deutscher Talkshow-Dauergäste und sonstige Geistesgrößen vom Kaliber der Springer-Lieblinge Dieter Nuhr und »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer die Regierung auffordern, auf die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu verzichten. Die darin geäußerte Furcht vor einer atomaren Eskalation ist nachvollziehbar – ob Stillhalten und Wegducken allerdings die richtige Strategie gegen die russischen Großmachtsträume ist, die sich erklärtermaßen weit über die Ukraine hinaus erstrecken und auch das Territorium der EU nicht ausnehmen, sei dahingestellt.
Die Unterzeichnenden offenbaren hier ungefähr so viel Haltung wie Zeugen eines rassistischen Angriffs in der Straßenbahn, die sich lieber raushalten, statt dem Opfer zur Hilfe zu kommen, weil sie fürchten, sonst selbst verprügelt zu werden. Schon irgendwie verständlich, aber sicher keine Sternstunde der Ethik.
Damit das nicht so auffällt, müssen daher noch ein paar wohlklingende Worte her, etwa der Aufruf »zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können«. Wie ein Kompromiss zwischen einem Aggressor, der dem Angegriffenen das Existenzrecht abspricht, und einem Land aussehen könnte, das nun mal existieren möchte, wird leider nicht beantwortet.
Was natürlich auch nicht fehlen darf, ist, dem Opfer mindestens eine Mitschuld zu geben: »Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht […] irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis«, heißt es da – was im Prinzip nichts anderes ist das altbekannte »Zu einem Streit gehören immer zwei«, wie es etwa Mobbingopfer häufig zu hören bekommen, wenn sie es wagen, sich zur Wehr zu setzen.
Dass das Ganze letztlich einer Aufforderung an die Ukraine gleichkommt, doch gefälligst zu kapitulieren, damit wir hier im Westen wieder ruhig schlafen können, hat nach allerhand öffentlicher Empörung immerhin die Schriftstellerin Katja Lange-Müller eingesehen, die ihre Unterschrift unter dem offenen Brief mittlerweile bereut. In der Zwischenzeit durften so ziemlich alle halbwegs Prominenten des Landes und natürlich ganz Twitter ihren Beitrag zur Debatte samt völkerrechtlicher Analyse zum Besten geben, welcher Umfang an militärischer Unterstützung für die Ukraine denn nun einer deutschen Kriegsbeteiligung gleichkäme (als ob sich Russland auch nur einen Deut um das Völkerrecht kümmern würde), und mittlerweile haben zahlreiche Kulturtätige, darunter etwa »Welt«-Redakteur Deniz Yücel und der »Spiegel«-Kolumnist und Allroundexperte Sascha Lobo, zum Gegenschlag ausgeholt – pardon: einen weiteren offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz unterzeichnet, in dem sie die Regierung zu Waffenlieferungen auffordern.
Die öffentliche Aufregungsmaschinerie ist also bis auf Weiteres versorgt, die Einladung in die nächste Talkshow ist gesichert und alle sind glücklich. Na ja, bis auf die Menschen in der Ukraine natürlich, aber um die geht es in der Debatte ja ohnehin nur noch am Rande.
The Pen Is Mightier Than The Sword
Dass man das Kreisen um die eigenen Befindlichkeiten noch weiter auf die Spitze treiben kann, bewiesen ein paar Wochen zuvor bereits einige Herrschaften, denen das Wichtigste unübersehbar nicht die Weltlage, sondern die Angst vor dem Verlust ihrer Privilegien ist. Für diese Sorte Mann ist nicht etwa der schwulenfeindliche Mackertyp im Kreml der Hauptschuldige am Krieg, sondern der verweichlichte Westen mit seinem Feminismus und Gendergaga.
Wenig überraschend gehört zu dieser Riege der »Welt«-Chefredakteur Ulf Poschardt, der am Tag nach dem Überfall auf die Ukraine heldenhaft an die publizistische Front zog: »Die Freiheit wird nicht am Tampon-Behälter in der Männertoilette verteidigt.« Da wird Putin sicher vor Angst schlottern, der bekanntlich nichts mehr fürchtet als transfeindliche Großmäuler.
Aber nicht nur der weit rechtsoffene Springer-Verlag, sondern auch das liberale Feuilleton schickte seine alternden weißen Männer in den Kampf gegen den Feind bzw. die Feindin im Inneren; allen voran den »SZ-Magazin«-Autor Tobias Haberl, der zufälligerweise gerade ein Buch über den »gekränkten Mann« zu vermarkten hat und in einem Gastbeitrag im »Spiegel« zwar nicht schlüssig zu erklären vermag, warum es für ihn an Wehrkraftzersetzung grenzt, wenn Männer E-Bike fahren und gepunktete Socken tragen, dann aber immerhin doch zum Punkt kommt, was ihn eigentlich umtreibt: Wären die Kerle nämlich endlich wieder männlicher (oder was immer er dafür hält) »wäre [nebenbei] die Gefahr gebannt, dass sich Frauen zu einer Art dominanter Mutter entwickeln, die ihre Männer zwar liebenswert, ja sogar wahnsinnig hilfreich finden – ‚er ist so toll mit den Kindern‘ –, aber keinerlei erotisches Interesse mehr an ihnen haben.«
Womit immerhin geklärt wäre, worin die Kränkung dieses speziellen Mannes liegt – nicht aber, warum es ihm nicht peinlich ist, damit hausieren zu gehen, dass sich seine erotische Anziehungskraft offenbar in Grenzen hält, und was um alles in der Welt das wiederum mit Russland und der Ukraine zu tun hat.
Außer natürlich, dass diese Herrschaften, die jetzt eine neue (alte) männliche Härte gegen Putin in Stellung bringen wollen, so viel mit dessen hypermaskulinen Selbstinszenierungen und Verachtung für den »verweiblichten« und »verweichlichten« Westen gemein haben, dass es ihnen eigentlich egal sein könnte, wenn ganz Europa unter russische Herrschaft geriete, unter der Schwulsein verboten und häusliche Gewalt praktisch straffrei wäre.
Fossilien des Feuilletons
Wer allerdings glaubt, mit derlei, nun ja: Denkfiguren wäre schon der Gipfel publizistischer Schamlosigkeit erreicht, hat nicht mit Björn Lomborg gerechnet. Der schreibt wiederum für die »Welt«, und wie es sich für das inoffizielle Zentralorgan der Neuen Rechten trumpistischen Zuschnitts gehört, sind Fakten zweitrangig – wo es nicht reicht, diese zu verdrehen, muss eben eine offene Lüge her: »Vor lauter Klima-Obsession hat der Westen andere Gefahren ignoriert«, schreibt Lomborg, und heißer als diese These ist derzeit eigentlich nur der indische Subkontinent, der zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen mit Temperaturen um die 50 Grad noch vor Beginn des Sommers an die Grenze der Bewohnbarkeit gelangt.
Kontrafaktisch ist die Behauptung gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen ist die einzige »Klima-Obsession« weit und breit diejenige in Lombergs Hirn – in der Welt außerhalb seines Kopfes hat (nicht nur) Deutschland in den vergangenen Jahren den Klimaschutz nicht nur einfach verschlafen, etwa durch mangelnde Förderung der erneuerbaren Energien und fehlenden Willen zu einer echten Verkehrswende, sondern regelrecht sabotiert: Man denke nur an Abstandsregelungen für Wohngebäude, die den Bau neuer Windräder praktisch unmöglich machen, oder die Vertagung des Kohleausstiegs auf 2038 - also acht Jahre, nachdem laut einer Prognose des Club of Rome die globale Nahrungsmittelversorgung zusammenbrechen wird, wenn nicht unverzüglich drastische Maßnahmen zum Abbremsen der Erderhitzung unternommen werden. Und gerade einmal drei Wochen vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine stufte die EU, vor allem auf deutschen Druck hin, Erdgas als »nachhaltige« Energiequelle ein.
Womit wir beim zweiten Punkt wären, dass es nämlich gerade die politisch gewollte Abhängigkeit von russischem Öl und Gas ist, die zum einen den Krieg finanziert und zum anderen Russland so sicher machen konnte, dass die europäischen Staaten sich lieber vornehm zurückhalten würden.
Mit Tempo 200 in den Abgrund
Anders als von ihrer Wichtigkeit überzeugte Brief(unter)schreiber*innen und narzisstisch gekränkte Männer bringt Lomberg, wenn auch auf denkbar verquerste Weise, somit immerhin die zwei großen Krisen unserer Zeit zusammen und auf jenen Punkt, an dem sich tatsächlich ansetzen ließe, um die russische Aggression zu stoppen – und ganz nebenbei endlich die längst überfällige Notbremsung in Sachen Klima einzuleiten.
Nicht zufällig waren Fridays for Future unter den ersten, die Großdemonstrationen gegen den Krieg organisierten. Und ebenfalls nicht zufällig sind sie so ziemlich die einzigen, die statt hilflosen Friedensappellen die konkrete und sinnvolle Forderung nach einem schnellstmöglichen Ausstieg aus den fossilen Energien zu bieten haben.
In einer vernünftiger eingerichteten Welt wäre der freilich ohnehin längst in vollem Gange oder hätte die deutsche Regierung zumindest direkt nach Kriegsbeginn mindestens so viel Geld für die Energiewende lockergemacht wie die 100 Milliarden (!) Euro, die sie der Bundeswehr ohne konkreten Verwendungszweck zukommen lässt. Leider leben wir jedoch ausgerechnet in jenem Seitenstrang des Multiversums, in dem ein menschenfeindliches Wirtschaftssystem, politische Bräsigkeit1 und (allen feuilletonistischen Abgesängen zum Trotz) Seilschaften alter weißer Männer2 mit besten Gazprom-Connections zusammentreffen und damit die Welt weiter in die geo- und klimapolitische Sackgasse treiben – ohne erkennbaren Willen zur Umkehr.
Denn zurück wollen alle hier Angesprochenen – ob Politik, Offene-Brief-Unterzeichnende oder von Kastrations- und Veränderungsängsten geplagte Zeilenschinder – einzig und allein zu einem illusorischen Status quo ante; in eine Zeit, als man gute Geschäfte mit Russland noch als Friedensprojekt vermarkten konnte, »Männer noch richtige Männer, Frauen noch richtige Frauen und kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri noch richtige kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri«3 waren und man noch mit 200 Sachen über die Autobahn brettern konnte, ohne dass einem irgendwelche Gören ein schlechtes Gewissen machten, weil sie noch ein paar Jahrzehnte auf diesem Planeten leben wollen.
Wer sich das Morgen nur als aufgewärmtes Gestern vorstellen kann – ohne zu begreifen, dass dieses auch schon vor Krieg und Spürbarwerden der Klimakrise kein so supertolles war –, ebnet stattdessen den Weg in eine Zukunft, für die die heutigen Kriege und Katastrophen nur einen geradezu verhaltenen Auftakt darstellen. Und die Begleitmusik dazu liefert das Aufblasorchester des Feuilletons, für das sich lautstarke Rechthaberei nun mal mehr auszahlt als die Suche nach Lösungen.