Oben links, unten rechts

UNTEN ist ein Film zwischen Coming-of-Age eines Gastarbeiter-Kindes und Jugoslawien-Doku, zwischen Versprechen auf ein besseres Leben und Kriegstrauma. Notizen zum Film von Melanie Letschnig

Wo unten ist, ist Sache der Perspektive. Nicht immer suchen wir sie uns aus. Manchmal wird eine*r von den äußeren Bedingungen gezwungen, Position zu beziehen und vom neuen Standpunkt auf die Dinge draufzuschauen, sich dazu zu verhalten. Manchmal – ob freiwillig oder unter Druck – verschiebt sich das Subjekt/Objekt der Anschauung mit der eigenen Bewegung – eine Parallaxe, nicht als Effekt, sondern ganz real. Und oft geraten die unterschiedlichen Konzepte der Perspektivierung durcheinander und müssen entwirrt werden.

Ein eindrückliches Beispiel für dieses Gemisch ist Djordje Čenićs Dokumentation UNTEN1 (AT, 2016), in der er – als Regisseur und Protagonist in Personalunion – seine Biographie als 1975 in Linz geborenes Kind von Gastarbeiter*innen aus Uzdolje (Norddalmatien), heute Kroatien, rekonstruiert. It‘s complicated und das macht der Film deutlich. 

Wiener Straße, Substandard, Gastarbeiterji

Es beginnt mit Vogelgezwitscher an einem sonnigen Tag, die Kamera filmt, wie der Protagonist sich auf ein baufälliges Haus zubewegt und es betritt. Das Voice-over setzt ein, er berichtet, dass das zerstörte Haus – so viele Glassplitter, am Boden verstreut zerfetzte Bücher – seine Schule gewesen wäre, wäre er nicht in Österreich aufgewachsen. Er klaubt einen handgeschriebenen Aufsatz vom Boden auf, »Kosovo, 24. 12. 1980«, eine kurze Geschichte Jugoslawiens, die Djordje Čenić, der später Geschichte in Salzburg studieren wird, im Laufe des Films genauer betrachtet. Dass diese Geschichte schon vor Djordjes Geburt mit Österreich verwoben ist und wie sich bestimmte Muster wiederholen. Muster der Ausbeutung zum Beispiel. 

 

Bild: Djordje Čenić / Hermann Peseckas

 

Pöstlingberg Linz. In breitestem Oberösterreichisch kommentiert Djordje eine Karte der Stadt und bleibt mit dem Finger bei der VOEST stehen, sie ist wichtig für seine Familie. Als sich die Eltern in den 1970er Jahren fix in Linz ansiedeln, um Geld zu verdienen und eine Familie zu gründen, leben aufgrund diverser Maßnahmen zur »Anwerbung von Arbeitskräften« aus dem Ausland bereits Hunderttausende Gastarbeiter*innen in Österreich.2 Zu Beginn sind es die Männer, die hier »gutes Geld« verdienen, um die Familien im Herkunftsland zu unterstützen. Aber Milica, Djordjes Mama, sagt selbstbewusst in die Kamera, dass für sie nie in Frage kam, nach der Hochzeit in Jugoslawien zu bleiben. Sie macht Karriere in Österreich, von der Arbeiterin zur Vorarbeiterin bis zur Produktionsmanagerin. Rajko, Djordjes Vater, kommt zum ersten Mal auf die Idee, im Ausland zu arbeiten, als ein Schulkollege mit einem Audi aus Deutschland zurückkommt. Die Verbesserung der eigenen Lebensumstände beginnt für ihn aber schon in Jugoslawien, konkret in der Stadt in Slowenien, wo der Lebensstandard während des Kommunismus höher ist. 1972 bekommt er Arbeit als Betriebsschlosser in der von Djordjes zuvor per Karte hervorgehobenen VOEST, ein Staatsbetrieb, berufliche Sicherheit, gute Bezahlung, Versicherung, noch desolate Wohnverhältnisse. Den Gastarbeiter*innen werden zum Wohnen jene Baracken zugeteilt, in denen während des Zweiten Weltkriegs die Zwangsarbeiter*innen untergebracht waren. Als der Vater Nachtarbeiter wird, darf er ins »VOEST-Hotel« ziehen und bekommt dort ein kleines Zimmer zugewiesen. Als die Kinder da sind, erfolgen zahlreiche Umzüge. Irgendwann eröffnet sich die Möglichkeit, in eine schwer renovierungsbedürftige Gemeindewohnung zu ziehen. Beziehungen zu einem politischen Funktionär haben das ermöglicht. Dafür vermittelt ihm die Familie eine Ferienwohnung in Jugoslawien. Typisch österreichisch. 

An einer Stelle zum Schluss des Films sagt Djordje, dass die, die zuhause bleiben, immer glauben, denen im Ausland geht‘s automatisch gut, weil sie im Ausland sind. Aber so einfach ist das nicht. Das macht diese Filmbiographie deutlich. »Man schätzt Österreich, kann es aber nicht lieben, weil man selbst nicht Teil davon werden kann«, sagt Rajko Čenić auf Serbisch und thematisiert damit auch, dass Diskriminierung an der Tagesordnung steht. Wieviel mehr eine*r leisten muss, um in guten Verhältnissen leben zu können. Wie österreichischer eine*r sein muss, um von der Gesellschaft anerkannt zu werden. Für die Familie bedeutet das auch Urlaub im Salzkammergut, Skifahren, ein Faible für die Löwingerbühne und das Tragen von österreichischem Trachtengewand, das von der jugoslawischen Verwandtschaft – ganz zu Recht – auf den ersten Blick als Uniform identifiziert wird. In Djordjes Fall bedeutet das mit Beginn der schulischen Laufbahn auch Demütigung: »oben« in Österreich als nur eines von zwei ausländischen Kindern in der Volksschulklasse, »unten« in Jugoslawien, wenn er beim »Partisanen & Faschisten«3-Spielen den Nazi geben muss, weil Švabo. In der Schule gibt es muttersprachlichen Zusatzunterricht, aus heutiger Sicht ein edukativer Luxus. 1982 wird er zum Tito-Pionier vereidigt, eine durchaus schillernde Facette eines kindlichen Lebens in Österreich, im Nachhinein des Films fast humoresk zu lesen. Er ist stolz. Später Gymnasium, Klassensprecher, die Einbindung in die Community in Linz ist wichtig für die Familie, freiwillige Nachmittagsbetreuung der Mitschüler*innen, Theater, Sport, das Verbessern der deutschen Sprachfähigkeiten mit dem Nachrappen von Falcos »Amadeus«. Und politischer Aktivismus. In der Pubertät entdeckt der an sich links eingestellte Djordje, dass er Serbe, nicht Kroate ist. Überhaupt entdeckt Djordje über die Rockmusik aus der alten Heimat seine Roots (»Ich entdeckte den Jugo in mir«). Später schlagen nationalistische Tendenzen durch, was »unten« anbelangt, Djordje spricht ganz offen darüber. Es ist nicht angenehm, ihm diesbezüglich zuzuhören, aber es ist Teil seiner Biographie. Und es wäre seltsam, würde er diese Phase verschweigen. Die Widersprüche, die in ihm amalgamieren, als Gastarbeiterkind auf dem Weg in ein so genanntes besseres Leben und als Jugendlicher, der seine Wurzeln sucht, fasst er an einer Stelle, was seine politische Einstellung anbelangt, so zusammen: Er erkannte, dass er »oben links, unten rechts.« war. Und studierte eben später Geschichte. 

Das Material, mit dem der Film arbeitet, ist reich. Unzählige Archivaufnahmen präsentieren ein akribisch dokumentiertes Leben und erleichtern so im Einklang mit den extra für den Film gedrehten Ausschnitten die Rekonstruktion. 
Mit Ausbrechen des Krieges setzt das Trauma ein. In einer sehr eindrücklichen Szene berichtet der Großvater, wie »sie« aufs Grundstück kommen, ihn ausfragen, sein Leben bedrohen und wissentlich das Haus anzünden, in dem sich seine gehunfähige Frau befindet, er sie rettet und beide zuschauen, wie das Feuer alles vernichtet. Djordje filmt seinen Opa im Close-up, wie er schaut, wenn er das erzählt, Pausen macht, wie alt er plötzlich aussieht im Vergleich zu der Szene, in der er aus früheren Zeiten berichtet. Später wird die Leiche von Milicas Mutter exhumiert, nach Hause gebracht und beklagt. In diesen Momenten schließt der Film Kollektiverfahrungen wie Kriegstrauma als etwas Singuläres auf, intim, schwer anzuschauen. 

Dass der Film zu einem Happy End findet, hat er dem sich auch über die gesamten 87 Minuten ziehenden optimistischen Ton des Protagonisten zu tun. Und dem Humor. Als die Familie das mit dem in Österreich hart erarbeiteten Geld zerstörte Haus in Ex-Jugoslawien besucht, gibt es eine Szene, in der Oma, Sohn und Enkel in einem in Schutt und Asche gelegten Raum hocken, der einmal ein Badezimmer hätte werden sollen. Der Kleine muss aufs Klo. Djordje stellt ihm den Rest einer Klomuschel hin, woraufhin der Sohn wissen möchte, ob die Polizei komme, wenn er da reinpieselt. Darauf der Vater auf Serbisch: »Das ist unser Haus. Niemand kann uns verbieten, in unser Klo zu pinkeln.« Ein Beispiel dafür, wie Pläne und Lebensentwürfe nie ihre Gültigkeit verlieren, selbst wenn sie vom Krieg zerfetzt wurden. 

In dritter Generation kehrt Djordje mit Frau und Kindern und seinen Eltern immer wieder zum Großvater nach Uzdolje zurück, wo die Familie den Rohbau des Onkels fertiggestellt hat, nachdem dieser im Krieg Richtung Kroatien flüchten musste. Das Leben findet zwischen Oben und Unten statt und schaut selbstbewusst in beide Richtungen. »Unten«, und das ist das Besondere an der Sicht des Films, bezeichnet also nicht nur die schwierigen Verhältnisse, aus denen sich die Familie Čenić in Österreich nach oben arbeitet. Unten bezeichnet auch die nie gekappte Verbindung in die frühere Heimat, in der das Leben genauso weitergeht wie oben, nur eben anders. Anders als vor dem Krieg, nicht nach Plan und trotzdem und deswegen gut.

Screening: UNTEN 

UNTEN wird am 9. Juni auf der Eleonore in Linz, einem Schiff in der Traun-Donau-Mündung und in unmittelbarer Nähe zur Voest gelegen, gezeigt. Bei Interesse mehr Infos und Anmeldung: office@stwst.at

[1] Gemeinsam mit Hermann Peseckas.
[2] vgl. Volkshilfe – Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung OÖ/migrare – Zentrum für MigrantInnen OÖ (Hrsg.): Begleitheft zur Ausstellung Gekommen und geblieben. 50 Jahre Arbeitsmigration. Linz 2014, S. 9. Allein im Großraum Linz arbeiteten 1973 13.000 Gastarbeiter*innen. a.a.O., S. 10.
[3] Eine Version von »Räuber & Gendarm«, so erklärt es der Regisseur im Film.