In demokratischen Gesellschaften haben Medien als sogenannte »Vierte Gewalt« bekanntlich die grundlegende Funktion der Information, Meinungsbildung und Kontrolle der drei weiteren Gewalten im Staat. Seit Längerem befinden sich die Medien der europäischen Demokratien allerdings in einer Krise, vor allem die Disruption bisheriger Geschäftsmodelle durch digitale Plattformen haben zu dramatischen Verlusten von Werbeeinnahmen geführt. Gleichzeitig findet die Kommunikation im digitalen Raum überwiegend auf US-amerikanischen oder chinesischen Plattformen statt, deren Nutzungsbedingungen naturgemäß nach kommerziellen Kriterien und nicht nach den Interessen des Gemeinwohls ausgestaltet sind. Um nicht länger von diesen Plattformen abhängig zu sein, reicht Plattformregulierung alleine nicht aus. Vielmehr braucht Europa mittel- und langfristig eine eigene souveräne digitale Infrastruktur basierend auf europäischen Werten. Ein wichtiger Aspekt dabei ist eine demokratische Governance, wobei die Einbindung der Zivilgesellschaft ein Lackmustest für die demokratische Reife sein muss. Ein European Open Media Fund sollte dabei für zivilgesellschaftliche Non-Profit-Medien dazu dienen, die Digitalisierung voranzutreiben sowie die Bildung und das Kuratieren als auch den Austausch von europäischen Formaten und Programmen für unterrepräsentierte Gruppen zu fördern.
Fand im Mai in Linz statt
Der Aufstieg der sozialen Medien führte nicht nur zu einer Verlagerung der Nachrichtenrezeption weg von den journalistisch-redaktionellen Massenmedien hin zu monopolistischen Plattformen, sondern auch zu einer generellen disruptiven Veränderung des Mediensektors mit mehreren wichtigen Auswirkungen: Persönliche Profile von Nutzer:innen werden an kommerzielle und politische Kund:innen vermarktet, was zu einem System der Massenüberwachung und der Intransparenz führt. Gleichzeitig wird mit Hilfe von Algorithmen die Aufmerksamkeit und damit auch die Aktivität der Nutzer:innen auf Dienste gelenkt, die die meisten Interaktionen dadurch auslösen, dass sie starke positive oder negative Emotionen unterstützen. Dies verstärkt die politische Polarisierung unserer Gesellschaften. Nicht zuletzt findet eine massive Verlagerung von Werbegeldern zu den Big-Tech-Plattformen statt. Auf diese Weise bekommen diese, vorwiegend aus den USA und China, immer mehr Einfluss darauf, wie wir miteinander kommunizieren.
Die EU hat nun mit reichlich Verspätung eine Reihe an regulierenden Maßnahmen für digitale Dienste und Online-Plattformen aufgestellt. Sie sollen unter anderem dem Mediensektor einen besseren Zugang zu Finanzmitteln bieten, die digitale Transition im audiovisuellen Bereich unterstützen und zusätzlich europäische Datenräume für Datenaustausch und Innovation in der Medienbranche fördern. Im Fokus stehen außerdem die Schaffung von Medienkompetenz bei den Bürger:innen sowie eine Stärkung der Zusammenarbeit der Regulierungsbehörden. Gegen die zunehmende Desinformation soll vor allem der kürzlich verabschiedete »Digital Service Act« (DSA) regulierend eingreifen. Mit dem »Digital Market Act« (DMA) wiederum werden nun EU-weite, harmonisierte Regelungen zur Schaffung von fairen und offenen digitalen Märkten eingeführt. Der Missbrauch künstlicher Intelligenz soll durch den »Artificial Intelligence Act« (AI Act) hintangehalten werden. Nicht zuletzt soll der Medienpluralismus durch den »European Media Freedom Act« geschützt werden.
Diese Maßnahmen der EU sind in einigen Teilen sehr zu begrüßen. Mehr Medienkompetenz und mehr Regulierung der großen Plattformen allein werden jedoch keinen European Public Space herstellen können. Google, Facebook & Co. haben kein Interesse daran, für unsere europäischen Demokratien die Funktion der vierten Gewalt zu übernehmen. Selbst wenn die neuen Regulierungsmaßnahmen wirksam umgesetzt werden, bleibt die Frage, wie Pluralismus und demokratische Kontrolle über die Verfasstheit unserer europäischen Öffentlichkeiten im (dominierenden) digitalen Raum hergestellt werden kann.
Unabhängige europäische Infrastrukturen für einen European Digital Public Space
Das Projekt European Cultural Backbone ist der Versuch, einen Prototyp eines European Public Space zu entwickeln, eine europäische öffentliche Sphäre, die, basierend auf einer souveränen und öffentlichen, digitalen europäischen Infrastruktur, demokratische Grundrechte sichert. Im Gegensatz zu den geschlossenen monopolistischen Plattformen soll sie offene Standards verwenden, so dass neue Technologien leicht wiederverwendet werden können (Open Source, Interoperabilität, Übertragbarkeit).
Im Zentrum steht ein Netzwerk aus Plattformen, die untereinander Metadaten zu audiovisuellen Medien austauschen. Technisch braucht es dazu ein Set an Tools, mit denen eine solche Vernetzung in Anbindung an bestehende Infrastruktur hergestellt werden kann. Organisatorisch ist es ein Netzwerk mit demokratischer Verfasstheit, das durch inhaltliche Kooperationen und Schnittmengen die technischen Möglichkeiten in eine öffentlichkeitsgenerierende Praxis überführt – als Beispiel und Experimentierfeld, wie zivilgesellschaftlicher Diskurs und »öffentlicher Diskurs« interagieren können. Entstehen soll also keineswegs ein »EuroTube«, sondern ein Netzwerk europäischer Plattformen unter demokratischer Kontrolle, das dezentral weiterentwickelt werden soll. Die Kernfrage wird sein, wer anstelle der kommerziellen Plattformmonopole diese öffentliche Infrastruktur betreibt. Gleichzeitig müssen folgende Fragen beantwortet werden: Wie kann eine demokratische Organisation gesichert werden? Wie funktioniert die Finanzierung, sodass Unabhängigkeit gewährleistet ist? Welche Sondermaßnahmen werden gesetzt, um ergänzend aktiv Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt zu organisieren?
Die beteiligten Plattformen1 stehen sich inhaltlich und organisatorisch nahe und verfügen über eigene Systeme der Community-Moderation. Sie fühlen sich den Grundrechten, insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit verpflichtet und treten für respektvolle und wertschätzende Kommunikation ein. Auf Basis der abgestimmten Grundsätze und der gemeinsamen Werte soll so ein Vertrauensnetzwerk entstehen, das einen konstruktiven Public Space bildet. Dafür werden kulturelle Praxen zu entwickeln sein, wie über Sprachbarrieren hinweg ein Diskursraum für europäische Debatten genutzt werden kann, etwa durch Kuratierung/Kontextualisierung/Moderation von Inhalten durch lokale Knoten, seien es öffentlich-rechtliche oder Community Medien.
Technische Layer
In der ECB Developer Community werden die dafür notwendigen Werkzeuge wie Spracherkennungs- und Übersetzungstools, Replikation von Metadaten, Vorschlagsysteme etc. als Open Source zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, sich gemeinsam mit Kolleg:innen aus den öffentlich-rechtlichen und Open GLAM-Bereichen (Galleries, Libraries, Archives, Museums) auf allgemeine Standards zu verständigen, um hier ein gemeinsames Ökosystem für eine nachhaltige Technologieentwicklung aufzubauen. Jede Plattform selbst entscheidet, welche algorithmischen Such- und Vorschlagsysteme wie zum Einsatz kommen. Im Netzwerk ist deren Funktionsweise offenzulegen, um Transparenz gewährleisten
zu können.
Mit automatischer Spracherkennung können umfangreiche Bestände an audiovisuellen Produktionen in Text verwandelt und somit maschinenlesbar über eine Suchmaschine zugänglich gemacht werden. Diese kann von jedem Knotenpunkt selbst oder durch gemeinsam genutzte Server betrieben werden. Damit ist gezielte Recherche, potentiell angereichert durch automatisch extrahierte Schlagworte, auf einer Bandbreite an Communitymedien möglich. Ist ein Inhalt erst einmal als geschriebener Text repräsentiert, können Schlagwörter extrahiert und darüber Verbindungen zwischen themenverwandten Beiträgen über Sprach- und Knotengrenzen hinweg hergestellt werden.
Neben der Recherche kann eine vernetze Plattform mit vielfältigen Inhalten auch neue Wege zur automatischen Recommendation von Beiträgen anbieten. Gemeint sind damit Vorschlagsysteme, die aufgrund des bisherigen Nutzungsverhaltens, das mit jenem anderer Nutzer:innen verglichen wird, neue Inhalte vorschlagen. Aufgrund der Fülle an laufend neuen Informationen (im cba etwa werden jährlich mehr als 10.000 neue Produktionen hochgeladen) ist eine redaktionelle Auswahl und Darstellung nur begrenzt möglich. Das heißt, der Betrieb eines Vorschlagsystems ist unausweichlich, wenn auch Nischenthemen adäquat verbreitet werden sollen.
Die ebenfalls notwendige Inhalte-Moderation ist gewissermaßen die Kehrseite der Recommendation. Für Plattformbetreiber (Nodes) wie auch für User:innen ist sie unabdingbar, rechtliche Gründe sind offenkundig. Im ECB sollen die vorhandenen Projekt- und Diskursstrukturen der Partnerorganisationen dafür genutzt werden, ein föderiertes Vertrauenssystem zur Moderation von Inhalten zu implementieren. Das bedeutet: Moderationsentscheidungen stellen – vielleicht abseits von Copyright-Verstößen – ein separates Layer über den veröffentlichten Inhalten dar, das ähnlich wie Metadaten zwischen den teilnehmenden Nodes ausgetauscht werden kann. Die Nodes diskutieren intern ihre Policies, setzen sie autark um – und können dann die getroffenen Entscheidungen automatisch mit anderen Nodes kommunizieren, die wiederum entscheiden können, ob sie einem anderen Node in der Moderation folgen oder nicht. Damit kann die notwendige Arbeit aufgeteilt werden und zugleich bleibt die redaktionelle Autonomie einzelner Knotenpunkte gewahrt.
Über solche Systeme können Moderationsentscheidungen und der Umgang mit Hate Speech, Zensur, Safer Spaces für marginalisierte Gruppen und anderen Fragestellungen rückgebunden werden – an die partizipativen Strukturen der einzelnen Netzwerkknoten. Damit werden einerseits notwendige Diskurse ausgetragen, andererseits bleibt eine Autonomie bestehen, die abweichende Publikations- und Moderationsstrategien ermöglicht und darüber hinaus einer Meinungsäußerungsfreiheit ebenso zuträglich ist wie der Etablierung von Räumen, die auch marginalisierten Gruppen Medienpraxen ohne Diskriminierung ermöglicht.
Entscheidend wird sein, was sich aus diesen geteilten Beständen machen lässt. Hier liegt die große Chance, sich gemeinsam den aktuellen Stand der Technik für gemeinnützige und egalitäre Zwecke nutzbar zu machen. Im Zuge des Hackathons und der Konferenz »Building a European Cultural Backbone« von 23. - 28. Mai in Linz wurde eine Reihe dieser technischen und politischen Aspekte vorgestellt und diskutiert. Vorträge, Diskussionen und Panels stehen als Videos online unter https://cba.media/labs-conference zur Verfügung.
Dieser Text ist ein Amalgam aus zwei Aufsätzen, die in der Publikation »Building a European Digital Public Space – Strategies for taking back control from Big Tech platforms« im Verlag irights.info erschienen sind: https://www.irights-lab.de/publikationen/dps