Ein »revolutionäres Schreibtischsubjekt«

Klaus Bittermann hat unlängst eine Biografie über den Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt geschrieben, Chris Weinhold bespricht sie für uns.

Kein leichtes Unterfangen, Pohrts Leben einzufangen, weil er sich mit Persönlichem in seinen Texten zurückhielt. Nicht dass er nichts persönlich genommen hätte, aber statt wie andere lediglich damit hausieren zu gehen, dass man eben aus beschaulichen Verhältnissen komme, ist solcherlei Prahlerei bei Pohrt nicht zu finden. Es ist ein Glück, mit Bittermann einen Biografen zu lesen, der nicht nur Zugriff auf viele bisher unveröffentlichte Schriften und Briefe hat, sondern selbst Adressat nicht weniger der Briefe gewesen ist und damit auch etwas anzufangen weiß. Bittermann, der über mehrere Dekaden Pohrts Verleger war, bewahrt dessen Impuls gegen das Unglück des »ungelebten Lebens« im »Spätkapitalismus«, statt mit einer Biografie bloß Schlüssellochgucker auf die Frage hin zu beliefern, wie der denn so war - also menschlich?

Pohrt wurde am 5. Mai 1945 im Kreis Torgau in Sachsen geboren. Von dort zog seine Mutter mit ihm ins Badische, wo er vaterlos als sogenannter »Ostflüchtling« aufwuchs und früh lernte, welche »Gelüste« Fremde bei den »Landsleuten« wecken. Mit 19 haut er ab nach Berlin und verdingt sich als Hilfsschlosser bei Siemens, was nicht lange gut gehen konnte, weil ihm die Zukunft dort wie ein »Tod auf Raten« erschien. Um dem zu entgehen und sich der Frage zu nähern, warum sich die Menschen mit dieser Art Zukunftslosigkeit zufrieden geben, holte er auf der Abendschule das Abitur nach und wollte anfangs Psychologie studieren. In den späten 60ern studierte Pohrt allerdings Soziologie in Frankfurt am Main und bewegte sich im SDS neben Leuten wie Hans Jürgen Krahl und KD Wolf. Er war also, wenngleich in zweiter Reihe, Teil dessen, was er selbst die »Protestbewegung« nannte. Bittermann bezeichnet diese Zeit als Moment, »in dem Theorie, wenn auch nicht die Massen, so immerhin die Studenten« ergriffen hat. Als dann die Bewegung in Lifestyle und den Marsch durch die Institutionen überging, verbarrikadierte sich Pohrt hinter Marx´ Grundrisse und versuchte entlang der Kategorie des Gebrauchswerts herauszuarbeiten, welche Voraussetzung Revolutionstheorie hat.

Darauf näher einzugehen, ist wichtig, weil diese »spekulative Marxinterpretation« - immerhin seine Dissertation - zwar auch in den späteren Texten den Hintergrund bildet, doch nicht immer als die Grundlage seiner Kritiken anerkannt wird. Wohl, weil ihm die »Marxologie« selbst immer suspekter wurde und etwas sperriger das Tempo mildert, mit dem Pohrt-Texte sonst nach vorn preschen. Wahrscheinlich geht auch Bittermann deswegen nicht ganz so ausführlich darauf ein, was verständlich ist, wenngleich schade, weil so vielleicht noch ein paar mehr Missverständnisse über Pohrts »Theorie« hätten ausgeräumt werden können. Pohrt ging mit seiner Theorie des Gebrauchswerts, so der Titel seiner Dissertation, auf Konfrontationskurs mit dem Marxismus als Wissenschaft vom Wert und den Linken, die glaubten, man könne den Dingen ihre Tauschform einfach abstreifen und übrig bleibt der Gebrauchswert als unmittelbare Nützlichkeit, frei von Kalkül und Makel der kapitalistischen Warengesellschaft. Gegen diesen Gebrauchswertfetischismus, der die eigene »verkorkste Bedürfnisstruktur als Wünschelrute nimmt«, setzte Pohrt die Bestimmung des Gebrauchswerts in den sich unterscheidenden Formen des »trivialen« und »emphatischen« Gebrauchswerts. Während ersterer die bloße Reproduktion des Lebens umreist, so steht letzterer für die objektive Möglichkeit, anders mit den Dingen zu verfahren, sodass »Menschen wie Dinge zu ihrem Recht gelangen, indem die Menschen einander und den Dingen mit der Souveränität gegenübertreten, welche die Haltung des gewalttätigen Plünderers entbehrlich macht.«- Damit wird der »emphatische Gebrauchswert« zum inneren Motiv und »Telos« der Kritik der politischen Ökonomie, als das, was mit den modernen Produktionsmitteln möglich wäre: die Abschaffung des Hungers und die Abschaffung der Arbeit mit dem Ziel der freien Zeit zur Entfaltung der menschlichen Sinne. Der Gebrauchswert erscheint so als Potenz, die sich einer positiven Bestimmung im Hier und Jetzt entzieht und bleibt eine negative Kategorie. Die Abschaffung des Mangels, ist notwendige Bedingung einer freien Gesellschaft, aber nicht diese selbst, weil sie noch dazu die freie Assoziation der Menschen zur Voraussetzung hat. Wo mit immer weniger menschlicher Arbeit immer mehr Waren hergestellt werden können, wird mit dem Überfluss an Dingen eine andere Art ihres Gebrauchs möglich. Können die Menschen aber mit ihnen nichts mehr anfangen, als sich mit ihnen die Zeit totzuschlagen, weil die Freizeit nur die Monotonie der Arbeit fortsetzt - die ebenso Maschinen erledigen könnten -, dann herrsche eine Einheit von Elend und Überfluss. O-Ton Pohrt: »Von Menschen, die darauf abgerichtet sind, sich während des ersten Teils des Tages komplett absurd gewordene Produktionsverhältnisse gefallen zu lassen, und diese zusätzlich als Produzenten von grobem Unfug, ist nicht zu erwarten, dass sie nach Feierabend plötzlich lebendig werden.« Das ist, was Pohrt die »Zerstörung des Gebrauchswerts« nennt, und die Kritik daran ist Movens seiner Texte – bis zum Ende.

Bei Bittermann wird klar: Pohrt kritisierte mit der Sinnlosigkeit der Produktion um der Produktion willen auch den damit erkauften Niederschlag im Einzelnen; dessen Überflüssigkeit für den Prozess und der Unfähigkeit wirklich etwas mit der ungeheuren Warenfülle anzufangen, was sich in einem »wunschlosen Unglücklichsein« widerspiegele. Eine Nicht-Existenz: zugleich »Rentner und Zwangsarbeiter«, sei das Vorbild für den Spätkapitalismus, in der sich die Menschen – hier zitiert Pohrt dann Max Horkheimer - zuerst zu „Unterstützungsempfängern [verwandeln] und dann zu Gefolgschaften werden«. Welche grauenhaften Charaktere dies erzeugen kann, war zudem noch präsent an den »Landsleuten« der »unverwüstlichen Kriegsgeneration«, denen Wolfgang Pohrt zutraute, gegen das Fremde oder auch die Revolution noch aus jedem »Holzbein eine Waffe« zu werkeln.

Bittermann weist darauf hin, dass gegen diese Verhältnisse sich aufzulehnen, für Pohrt eine Sache der Selbstbehauptung war, wenn man nicht emotional wie intellektuell verkümmern wollte; und die »Protestbewegung« der 60er Jahre deshalb so wichtig für ihn war, weil sie als Chiffre für den Angriff auf eine »kleinbürgerliche Lebensweise« stand und für den Widerstand gegen die »Zerstörung des Gebrauchswerts«. Und dass, wie Pohrt des Öfteren Adorno und Horkheimer zu zitieren pflegte, diejenigen, die die »Hoffnungen ihrer Jugend verraten und sich in der Welt einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden«. Ersichtlich wird dadurch, wieso Wolfgang Pohrt jene Protestgewinnler scharf angriff, die durch den Verrat an ihren früheren Idealen zu Rang und Namen kamen, statt der Kumpanei mit dem Betrieb entgegenzuwirken. Bei Bittermann wiederum wird merkbar, dass es ihm um mehr geht, als um ein würdiges Andenken für einen seiner bekanntesten Autoren: Es geht um das Festhalten des vom Hass geschärften Blicks auf das Bestehende, den einst schon Horkheimer an Adorno hervorhob. Man ahnt in Bittermann einen der wenigen Komplizen Pohrts, der zu Lebzeiten zumeist Einzelkämpfer blieb.

Zumindest temporär bildete sich jedoch mit Eike Geisel – der später mit seinen Artikeln über den Antisemitismus innerhalb der Linken Bekanntheit erlangen wird – ein Bündnis an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg, wo er und Pohrt in den 70ern angestellt waren und gemeinsam Seminare veranstalteten. Bittermanns Buch gibt Einblicke in die kollektive Anstrengung der beiden, mit Studenten Texte von Krahl, Adorno, Weber ernsthaft und eingehend zu diskutieren, über die Flugblattaktionen der beiden gegen den Kleingeist einzelner Akademiker und auch über das Scheitern im Lehrbetrieb. In der Einleitung eines Seminarvortrags fasst Pohrt Anspruch und Realität zusammen: »Wir meinen schließlich, daß wir uns für das Privileg, an einer wissenschaftlichen Hochschule zu lehren, die Pflicht eingehandelt haben, Theorie nicht als toten Wissensstoff zu verabfolgen, sondern die aufschließende Kraft lebendiger Erkenntnis zu demonstrieren. [...] Unsere solidarische Kritik gilt eher dem Wahn als der pathischen Normalität, sie gilt eher dem aufrichtigen Interesse an praktischen Veränderungen als der losgelassenen Wissenschaftstheorie, und wir empfinden mehr Sympathie für jene Studenten, die sich jetzt dem Lehrbetrieb verweigern, als wir sie den beflissenen Versierten entgegenbringen könnten, welche der Scheinzwang bestenfalls reproduziert.« Die Stumpfheit des Betriebs zu stören, war gerade noch Zeichen der eigenen Lebendigkeit war. Sich bloß nicht einfügen, war die Devise, weswegen Pohrt am Ende selbst eine feste Anstellung mit Aussicht auf eine Professur ablehnte.

Pohrt hielt sich in den 80ern mit Jobs über Wasser und fing an Beiträge fürs Feuilleton und Kritiken über die Verfallsprodukte von 68´ zu schreiben: Die Hausbesetzerbewegung betitelt er als »Revolution der Heinzelmännchen« und hält ihnen vor, sich mittels politischer Tünche am Ende nur billigen Wohnraum ergattern zu wollen und dafür billigend in Kauf zu nehmen, dass andere in diesem dafür im draufgehen. In Texten wie Ein Volk, Ein Reich, Ein Frieden kritisierte er die Friedensbewegung als »nationale Erweckungsbewegung«, welche der BRD wieder den Weg zum erneuten weltpolitischen Aufplustern bereite. Auch das Dauerthema der »Zukunftsangst« kam nicht gut weg, denn sie setze voraus, es gäbe »noch eine Zukunft, vor der – oder um die – man sich ängstigen muss«. Pohrt sah darin viel mehr eine Angst vor dem Verlust von Besitz und Privilegien der Besitzenden und in ihrer »Untergangsvision« ein »Stahlbad«. Pohrt argumentiert mit Walter Benjamins Geschichtsthesen, dass man keine Katastrophe für die Zukunft beschwören müsse, da ein großer Teil der Menschheit nicht mal eine wirkliche Gegenwart habe und die Katastrophe für sie »längst tägliche Daseinsform« sei.

Bittermann schafft es zu vermitteln, wer und wieso ins Fadenkreuz der Kritik gelangte. Der »pathischen Normalität« nur scheinbar entgegengesetzt, waren es die ehemaligen Genossen aus der Linken, die zur »Zerstörung des Gebrauchswerts« beitrugen. Deshalb wurden sie vom Subjekt zum Objekt der Kritik. Damit aber schwand für Pohrt auch, worauf sich noch ein Potential zur Veränderung stützen konnte – abseits von den Hoffnungen, die man aus der Zeit der »Protestbewegung« hatte. Die Übermacht der Verhältnisse, die »pathische Normalität«, ließ zwar den Wahn als Adressat einer »solidarischen Kritik« erscheinen, aber es ließ auch den Widerstand gefährlich nah an den Wahnsinn rücken und teilweise in ihn Umschlagen. Deshalb befasste sich Pohrt in Texten über die Manson-Family und Jonestown mit Außenseitergemeinschaften, die im Off der Gesellschaft völlig durchdrehten. Am Extrem der Outsider konnte er zeigen, wie Gegengesellschaften selbst in den reinsten Irrsinn kippen können. In Mahnung daran, schaltete sich Pohrt auch in die Debatte um den bewaffneten Kampf der RAF ein und forderte eine Amnestie für die Gefangenen. Er polemisierte gegen die RAF-Hysterie derer, die, wie Bittermann schreibt, »gerne und sofort einem Erschießungskommando beigetreten wären, um politische Unruhestifter zu exekutieren«. Zugleich aber kritisierte er die Realitätsverleugnung der Desperados im Knast, die zu einer »Therapiegruppe« mutiert seien. Der bewaffnete Kampf war gescheitert, das »Projekt RAF« erledigt; nun aber gab es auch keinen Grund, warum der Staat die ehemaligen Gefangenen weiter gefangen halten müsse, so die öffentliche Argumentation. Pohrt war klar, dass der Staat nicht nur diejenigen verfolgt, deren Schlagkraft ihm eine wirkliche Gefahr ist, sondern auch die traktiert, die schon am Boden liegen. Die ehemaligen Kämpferinnen und Kämpfer aus dessen Fänge zu holen, war Grund genug für die Kampagne, denn die Verdrängung der Gewalt, auf die der Staat beruht, besorgten die Pazifisten, mit denen sich Pohrt auch öffentlich stritt. Mit seinen Versuchen um eine Amnestiekampagne stand Pohrt jedoch auch quer zu denen, die die ehemaligen Kämpfer hinter Gittern stilisierten, um weiterhin vom lebendigen Kampf sprechen zu können. Viele haben damals nicht verstanden, warum Pohrt sich so für eine Amnestie eingesetzt hat und unterstellten ihm Geltungssucht. Bittermann geht auf diese Zeit ausführlich ein und zeigt auf, dass eine gewisse Realitätsverleugnung nicht nur im Knast, sondern auch in den Debatten und auf Podien außerhalb herrschte, wogegen Pohrt nur mäßigen Erfolg hatte.

Als sich die Wiedervereinigung anbahnte und die Republikaner in den Berliner Landtag einzogen, hielt es Pohrt für angebracht, sich dem Massenbewusstsein mit einer Studie zum faschistischen Potential zu nähern. Als Feldforscher gab er noch zwei weitere eher experimentelle Forschungsberichte über die Nachwendejahre heraus. Darin polemisiert er gegen die rechtsextremen Schlägerbanden und die Hetze gegen Asylsuchende auch in der Mitte der Gesellschaft. Dagegen hatte auch die Linke nichts aufzubieten; der Versuch von Konkret mit einem Kongress zur Frage »Was tun?« die Kräfte zu bündeln und die Kritik zu schärfen, war für Pohrt ein Flop. Bittermann stellt heraus, dass für Wolfgang Pohrt dieser Kongress den endgültigen Bruch mit der Vorstellung markiert, es ließe sich von der Linken noch irgendetwas erwarten. Fortan sah Pohrt vor allem einen Zerfall der Gesellschaften in Rackets und Banden, wogegen momentan keine gesellschaftliche Kraft zu konstatieren sei. Entgegen jedoch den Stimmen, die Pohrt sodann als Renegaten gescholten haben, hat er jene Tendenz hin zur Gangsterherrschaft mit schwindenden Widerspruch durch weite Teile der Bevölkerung und besonders der Linken bereits in der Theorie des Gebrauchswerts kritisiert.

Klaus Bittermanns Pohrt-Biografie vergegenwärtigt die großen inhaltlichen Debatten der Linken in den letzten 40 Jahrenübereinen ihrer Kritiker. Streitbar dürften ein zwei Stellen sein, an denen Bittermann zu kurzen Manövern gegen die AFD oder die Woke-Linke ansetzt, weil sie schnippisch wirken. Herausragend ist jedoch, dass er Pohrt zu seinem Recht kommen lässt; nicht, weil er dessen Leben detailreich näherbringt, sondern weil er dessen Impuls rettet und diesen nicht als bloßen Stil eines tollen Schreibers neutralisiert. Er erinnert nicht nur an einen ihm Nahen, sondern daran, dass diese Welt nicht menschlich eingerichtet ist. Wolfgang Pohrts Texte waren bissig und zielten auf eine Erschütterung beim Leser – wer Form und Inhalt dabei fein säuberlich zu trennen sucht, macht es sich einfach. Und wer Pohrt daher Zynismus und Menschenhass vorwirft, verkennt die »pathische Normalität«, gegenüber der sich polemisch zu verhalten, so unvernünftig nicht ist.

Das Buch

»Der Intellektuelle als Unruhestifter« von Klaus Bittermann erschien im Februar 2022 bei Edition Tiamat. 678 Seiten, 36 Euro