Raum für Katastrophenbewusstsein

Till Schmidt über einen aktuellen Sammelband zur europaweiten Auseinandersetzung mit der Shoah in den 1950er und 1960er Jahren.

In den aktuellen Kontroversen um die »Singularität des Holocaust« und damit verbundenen Fragen wird häufig vernachlässigt, dass es nach 1945 einige Zeit dauerte, bis die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden Eingang in das allgemeine Bewusstsein der europäischen Gesellschaften fand. Der kürzlich bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienene Sammelband »Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein« nimmt dies zur Ausgangsbeobachtung, um die Gedächtnisgeschichte des Holocausts in den 1950er und 1960er Jahren mit der politischen und Ideengeschichte des Kalten Krieges zusammenzuführen. 
In zwanzig deutsch- sowie englischsprachigen Beiträgen nehmen die internationalen Autorinnen und Autoren die Rezeptionsgeschichte und die offiziellen Erinnerungskulturen in verschiedenen Ländern vor dem Hintergrund der latenten Präsenz und Wirkung der Shoah in den Blick. Viele Beiträge nähern sich diesen länderspezifischen Konstellationen über paradigmatische Biografien von mal mehr, mal weniger bekannten, der politischen Linken zuzuordnenden, auf unterschiedliche Weise jüdischen Schriftstellern, Philosophen, Filmemachern und Politikern.

Komplexe Selbstverortungen

Mitherausgeberin Anna Pollmann arbeitet heraus, wie der Philosoph Günter Anders seine radikale Technikkritik, die darauf abzielte, die destruktiven Potentiale der damaligen Gegenwart freizulegen, zwar anhand des Atombombenabwurfes auf Hiroshima entwickelte, dabei aber auch stark auf die Shoah Bezug nahm. Pollmann behandelt nicht nur Anders‘ ersten Band seines 1956 erschienenen Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Anhand von zwei Reisen ins Nachkriegsberlin (1953 und 1959) versucht sie darüber hinaus, das Verhältnis von historischem und apokalyptischem Bewusstsein im Werk und in der Rezeption des aus dem US-Exil nach Wien remigrierten Philosophen zu rekonstruieren. 
Ein berühmter Essay des aus Österreich geflohenen Jean Améry ist Thema von Dan Diners sehr lesenswertem Beitrag. Diner geht dabei der Frage nach, warum in Die Tortur (1965) Amérys eigenes Schicksal als jüdischer Auschwitzüberlebender von dem des gefolterten politischen Widerständlers überformt wird. Dabei verweist Diner – vor allem – auf den damaligen, durch den grausamen Algerienkrieg geprägten französischen Kontext, in dem die Folter dem Diskurs der Zeit näher stand als die Vernichtung. Diners Beitrag ist zu großen Teilen zwar eine Zweitveröffentlichung, durch seine erneute und erweitere Publikation gewinnt der Sammelband jedoch dazu.
Anna Seghers‘ jüdische Herkunft und ihr marxistisches Weltbild sind Gegenstand von Philipp Grafs Beitrag »Vor den Trümmern zweier Welten«. Der Mitherausgeber zeigt dabei, dass die landläufig als »linientreue Überfigur der DDR-Literatur« wahrgenommene Seghers in der Öffentlichkeit kaum jemals ihre jüdische Herkunft thematisierte und auch ihr literarisches Werk nach 1947 »weitgehend frei« ist von expliziten Bezügen zum Judentum, jüdischer Geschichte und dem Holocaust. Warum das so war, beantwortet Graf in seinem Fazit so: 
»Alles, was Seghers dennoch als Ahnung eines gleichermaßen präzedenzlosen Schmerzes wie kategorialen Bruchs verspürte, vermochte sich (…) nur unvermittelt, privat und unvollständig (…) Ausdruck zu verschaffen. Schließlich bewahrte sie sich so womöglich selbst davor, die Rückkehr nach Deutschland und ihre Biografie letztendlich als gescheitert ansehen zu müssen. Denn dies hätte eine explizite Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der stalinistischen Ära wohl auch bedeutet: dass sie schutzlos vor den Trümmern zweier Welten gestanden hätte – den Ruinen der abgelegt geglaubten jüdischen Zugehörigkeit wie denen des dafür angenommenen marxistischen Weltbilds.«

Kritik der marxistischen Teleologie

Mit Exponenten der Kritischen Theorie und ihrer Rezeption beschäftigen sich weitere Beiträge des Sammelbandes. Falko Schmieder fragt in seinem Aufsatz »Hoffnung als Prinzip« nach den Spuren des Holocausts im Werk von Ernst Bloch und kontrastiert dies mit Vertretern der Frankfurter Schule, die Bloch selbst als »Begründer einer sehr pessimistischen Gesellschaftstheorie« bezeichnete, die »weder Marxisten noch Revolutionäre« seien. Robert Zwarg widmet sich in seinem anregenden Beitrag »Prisma der Erwartung« der Rezeption der Kritischen Theorie in der US-amerikanischen Linken und den Spezifika der dortigen Vorstellungen von Fortschritt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 
Durch die meisten Beiträge des Sammelbandes zieht sich die Kritik eines teleologischen Geschichtsoptimismus des dogmatischen Marxismus, der keinen Raum ließ für das Bewusstsein um die Katastrophe der Shoah und das Leiden ihrer Opfer. Anschaulich wird dies unter anderem in Margrit Reiters Aufsatz »Latenzen der Erinnerung«. Der Text widmet sich dem Platz des Holocausts im Gedächtnis der österreichischen Linken. Im Mittelpunkt stehen dabei die Erfahrungen und die individuellen wie kollektiven Selbstbilder von jüdischen wie nicht-jüdischen Politikern aus den Reihen von SPÖ und KPÖ.

Ebenfalls deutlich wird die Blindheit für jüdische Erfahrungen in Dimitris Eleftherakis‘ Beitrag zur Bedeutung der Shoah in der Erinnerung griechischer Kommunisten. Deren eigene Rolle im Widerstand gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges hatte die nationalsozialistische Judenvernichtung – die in Thessaloniki etwa zur Deportation fast der gesamten jüdischen Bevölkerung führte – verdeckt. Dazu kam die Priorisierung der Suche nach den Gründen für die eigene Niederlage im griechischen Bürgerkrieg und der Verfolgung von Mitgliedern der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) durch die Nachkriegsdiktatur.
Eine besondere Auslassung nahmen die sowjetischen Machthaber an Mark Donskojs Kriegsfilm »Die Unbeugsamen« vor. Bemerkenswert macht den im Oktober 1945 in Moskau uraufgeführten Film, dass in ihm – im Gegensatz zu anderen sowjetischen Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg aus dieser Zeit – mit den Erschießungen von Babyn Jar die grausamen Erfahrungen von Jüdinnen und Juden immerhin gezeigt wurden. »Die Unbeugsamen« war später aus unbekannten Gründen »geräuschlos verschwunden«, schreibt Filmwissenschaftler Christoph Hesse. Er wurde inmitten der kurzen Tauwetter-Periode nach dem Tod Stalins 1953 im Fernsehen wieder gezeigt – allerdings ohne die dreiminütige Szene zum antisemitischen Massaker am Rande von Kiew.

Des »Zionismus‘« verdächtigt

Zwei Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich mit dem spanischen Kontext. Catarina von Wedemeyer setzt in ihrem Beitrag »Von Spanien nach Mexiko« das – vor allem den Spanischen Bürgerkrieg aufgreifende – Werk des Schriftstellers Max Aub ins Verhältnis zu dessen, von Gefangenschaft, Flucht und Exil geprägten, Biografie. Susanne Zepp hingegen widmet sich dem Schriftsteller Jorge Semprún. Sie zeigt, dass bei ihm die Bilder des spanischen Bürgerkriegs die von Auschwitz nicht verdecken und deutlich dem franquistischen Geschichtsbild entgegenstehen, welches nicht nur den Holocaust ausgeklammert, sondern auch anti-jüdische sowie philosephardische Positionen vertrat.1 
In Bezug auf Ungarn nimmt Kata Bohus die Biografie des hochrangigen ungarischen Kommunisten István Szirmai in den Blick, um die versteckte Präsenz von Holocaust und jüdischer Zugehörigkeit im politischen Diskurs in Ungarn herauszuarbeiten. Szirmais Geschichte mache deutlich, dass die These von den »nicht-jüdischen Juden«, die in der kommunistischen Bewegung ihre jüdische Herkunft ignorierten, nicht auf alle Funktionäre zutrifft. Im Gegenteil: Szirmai war früher Mitglied der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair, ging als Politiker gegen die zionistische Bewegung in Ungarn vor – und wurde später selbst des »Zionismus‘« verdächtigt. 
Ein weiteres Thema des Sammelbandes ist der Platz des Holocausts in der Neuen Linken Israels, die auch mit ihrem deutschen Pendant in regem Austausch stand. Lutz Fiedler thematisiert dies anhand von Matzpen, einer Organisation, die als Abspaltung der Kommunisten Partei Israels entstanden war. Auf sehr differenzierte Weise stellt Fiedler die Haltung von Matzpen zum Konflikt mit den Palästinensern sowie deren Holocaustdeutungen dar. Eingebettet wird dies in den Kontext der entsprechenden Diskussionen und Haltungen im damaligen israelischen Mainstream sowie in jüdischen Kontexten außerhalb Israels. 

Reichhaltige Einzelstudien

Andy Pearce geht in seinem ebenfalls faszinierenden Beitrag den Folgen der Dekolonisierung für Großbritannien und den gesellschaftlichen und politischen Kontexten des Holocaust-Bewusstseins nach. In den Blick geraten dabei unter anderem die jüdische Immigration sowie die Einwanderung von Schwarzen und People of Colour und die Erinnerung der nicht-jüdischen Mehrheitgesellschaft an den Holocaust zwischen 1945 und den späten 1960er Jahren. Pearces Aufsatz ist ein detaillierter, lesenswerter Beitrag zum Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus in Großbritannien.
Weitere Aufsätze des Sammelbandes beschäftigen sich mit den Interpretationen des Zweiten Weltkrieges in Schweden unter dem Sozialdemokraten Tage Erlander oder der antisemitischen Kampagne 1968 in Polen. Dazu kommt ein spannender Aufsatz zur Beziehung von Nationalität und Klassenkampf in der Tschechoslowakei, die der Mitherausgeber Jan Gerber unter anderem anhand der Biografie von Louis Fürnberg analysiert. Entgegen seiner früheren Weigerung, nach Deutschland einzuwandern, weil das Land für ihn vor allem für die Ermordung seiner eigenen Verwandten stand, siedelte der Schriftsteller und Komponist 1954 von Prag nach Weimar über. Als Epilog ist dem Buch ein Wiederabdruck eines längeren Essays von Moishe Postone beigefügt.
Insgesamt ist »Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust« ein sehr reichhaltiger Sammelband, der mit seinen detaillierten und differenzierten Einzelstudien einen wichtigen Beitrag leistet, da Debatten über Holocaust und Antisemitismus häufig von haarsträubenden Verkürzungen, billiger Polemik und Israelfeindschaft geprägt sind. Der Umfang der einzelnen Beiträge ist beträchtlich – der über 500 Seiten dicke Band sollte aber Interessierte nicht abschrecken. Im Gegenteil.

Das Buch

Jan Gerber (Hg.), Philipp Graf (Hg.), Anna Pollmann (Hg.): Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust, Vandenhoeck & Ruprecht, 2022

[1] Die Autorin Susanne Zepp verwendet den Begriff »Philosephardismus«, um die Essentialisierung, Romantisierung und nationalistische Instrumentalisierung der sephardischen Geschichte im Franqismus auf den Punkt zu bringen. Sephardim ist die Bezeichnung für Jüdinnen und Juden, die bis zu ihrer Vertreibung 1492 und 1513 auf der Iberischen Halbinsel lebten, sowie ihre Nachfahr_innen.