In seinem Debütroman zeichnet Alexander Keppel eine parahistorische Welt. Nicht britische, sondern österreichische Seefahrer haben im ausgehenden 18. Jahrhundert die Terra Australis entdeckt. Österreich ist heute, im Mai 1968, eine europazifische Monarchie. Die Weltkriege fanden nicht statt ...
(Café Aiolos im Großlufthafen Ignatz Etrich zu Falkenberg bei Triest)
Ich setzte mich an einen kleinen Tisch, von dem aus man einen guten Ausblick auf die Rollfelder mit ihren rotierenden Hallen hatte, die früher zur Unterbringung der großen Luftschiffe errichtet worden waren und heute die Concordia-Maschinen beherbergten. Sie waren der ganze Stolz
unserer zivilen Luftflotte. Kurz darauf trat auch schon der Oberkellner heran, ein beleibter, alter Knabe mit Spiegelglatze und gewichstem Schnäuzer. Er musterte mich aus seinen feuchten Kulleraugen von oben bis unten und sagte mit süßlicher Stimme:
»Ja Grüß’ Gott, was darf ich Ihnen denn Schönes bringen, Herr Fähnrich? Steht Ihnen übrigens formidabel, die Uniform, wenn ich mir das Kompliment erlauben darf.«
Ich bestellte einen Verlängerten, schwarz, und dazu eine Schaumrolle.
»Sehr wohl, sehr wohl, kommt sofort, Herr Fähnrich!
[…] Für einen Wiener Oberkellner, der er dem Akzent nach war, hatte er mir eindeutig zu gute Laune.
Vom Zeitungstisch nahm ich mir die Neue Zürcher und die Presse mit an den Platz, als plötzlich mit einem Knall die metallenen Flügeltüren des Cafés aufschnellten. Da hatte wohl wieder ein Trottel das Gewicht von Aluminium überschätzt. Eine größere Gruppe Personen stürzte nicht minder geräuschvoll ins Kaffeehaus. Es schien sich hier um eine Familie zu handeln. In ihrem Zentrum stand ein alter Mann von gut siebzig Jahren. Lahmend, doch dabei umso zielstrebiger durchquerte er den Saal, vorbei an der reich bestückten, süßen Vitrine mit den Mehlspeisen. Sein herrischer Gang wollte dabei nicht so recht zu seiner gebückten Statur passen. […] Er verströmte den harten Stolz des Krüppels, doch er war der Patriarch, daran gab es keinen Zweifel.
Das aschfarbene Haar hing ihm in dünnen, fettigen Strähnen auf seine sackartig abfallenden Schultern hinab. Er war schlecht rasiert, weiße Bartstoppeln staken ihm wie Stacheln einer alten Kaktee aus dem Gesicht. Sein Mund war ein beinahe lippenloser Schlitz. Die hohe Stirn des Mannes endete wie ein Visier über intensiven, wasserblauen Augen, die sich aus tiefen Tränensäcken emporstülpten. Seine abrupt endende Nase wirkte wie nachträglich ins Gesicht gesteckt und konnte durchaus als gemein bezeichnet werden. Der Herr trug ein formloses Sacco in einem gelbstichigen Ockerbraun, das ihm gleichzeitig zu klein und zu groß am Leibe saß. Es war deutlich abgetragen und an den Ellenbogen beinahe durchgewetzt. Dem Schnitt nach zu urteilen, musste es noch aus den Dreißigern stammen. Der brüchige Stoff war hier und dort mit bunten Farbklecksen und Schlieren überzogen. Dazu trug er weite, maronifarbene Knickerbockerhosen zu derben, grauen Wollsocken, die in stumpfschwarzen, ausgetretenen Stiefeletten steckten. Ein Sandler mit Sendungsbewusstsein?
Sein abgerissenes Äußeres tat der starken Präsenz des Mannes jedoch keinen Abbruch. Die rechte Hand suchte und fand nun die jener korpulenten Aboriwelschen, bei der es sich wohl um seine Gemahlin handeln dürfte. Diese trug ein grobes, eierschalenfarbenes Leinenkleid, dessen Stoffmassen ihren mächtigen Körper umhüllten. […]
Um das ungleiche Paar wuselte eine Schar von sichtlich aufgeregten Kindern und Enkeln. Vielleicht waren sie zum ersten Mal hier in den Altlanden, wie man Darüben nicht ohne Spott zur europäischen Reichshälfte der Monarchie sagte. Die krauslockigen Enkelkinder – Buben und Mädchen gleichermaßen – tobten im Kaffeehaus umher.
[…]
Endlich, als hätte er auf den wirkungsvollsten Moment gewartet, trat nun gemessenen Schrittes der Herr Ober heran, um sich dieser überseeischen Großfamilie anzunehmen, die da sein Kaffeehaus in Aufruhr brachte. […]
Der Alte ließ den Kellner, der das Gesicht einer harten Oberschwester mit weichem Kern aufgesetzt hatte, herankommen und sagte dann mit tiefer, sonorer, ja angenehmer Stimme, die nicht recht zu seiner enervierten Erscheinung passen wollte:
»Grüß Sie Gott, Herr Ober, wären Sie doch bitte so freundlich uns eine Tafel dort herzurichten, an der wir alle Platz haben? Diese da vielleicht? Wir sind zwölf Personen insgesamt.«
Er wies mit dem Arm auf einen bequemen Ecktisch mit sechs Sesseln.
Der Ober lächelte mild und antwortete:
»Bedaure der Herr, […] aber wir haben im ganzen Salon keinen einzigen Tisch, für so viele Herrschaften. Aber vielleicht finden Sie ja unten ein passenderes Lokal für Sie und Ihre reizende Familie«.
Es war offensichtlich, dass er die Gruppe als nicht statthaft für das Café Aiolos erachtete. Doch der Alte ließ nicht locker:
»Guter Mann, wir haben die Luftreise von Asch kommend hinter uns und würden uns doch am liebsten hier bei Ihnen, im ersten Haus am Platze, stärken. Ich bin mir sicher, dass sich da etwas machen lässt.«, sagte der Greis mit dürftig kaschiertem Unmut.
»Ich habe Geld.«, fügte er noch hinzu, etwas leiser wie mit einer Spur alter Scham. Der Ober riss seine Schweinsäuglein auf und griff sich mit den Händen an die fetten Wangen. Dann sagte er mit unverhohlenem Spott:
»Oh, vielen Dank gnädiger Herr, das ehrt uns aber sehr, dass Sie ausgerechnet bei uns zu speisen geruhen wollen. Doch ich fürchte leider, dass ich Ihrem Wunsch nicht werde nachkommen können. Wir haben heute schon am Nachmittag so viele Reservierungen, da brauche ich jeden Tisch und jeden Sessel.«
Ich sah mich um. Von den vielen Tischen, die in meinem Blickfeld lagen, war nur ein einziger mit einer Reservierungstafel zu sehen. Eine glatte Lüge also.
[…]
Der Alte stand nun, eingegossen im Beton seiner Demütigung, wie angewurzelt da. Den Kopf hatte er an die Brust gepresst. Sein strähniges Haar hing ihm tief ins Gesicht. Er tremolierte am ganzen Leib. Mit seiner zitternden Rechten fuhr er nun langsam unter sein zerschlissenes Sacco. Mit einer kleinen Pistole kam sie wieder zum Vorschein. Der Ober zuckte quiekend zurück und stieß dabei rücklings an die Bäuche der beiden Söhne des Alten, die sich inzwischen dicht hinter ihm aufgebaut hatten. Der Alte trat nun ganz nah an den Ober heran und setzte ihm die Waffe auf den Wanst. Nun blickte er langsam zu dem gut zwei Köpfe größeren Mann auf, spießte ihn auf seinen stechenden Blick und sagte gepresst aber eindringlich:
»Kellner, hören Sie mir jetzt genau zu, denn ich werde mich nicht wiederholen: Sie werden uns jetzt diesen Tisch dort decken und Sie werden dabei keinen Mugatzer machen. Sollte ich merken, dass Sie irgendwem im Laufe unserer Anwesenheit davon erzählt haben, werde ich Sie wegen Ihrer schlechten Manieren meiner Familie und mir gegenüber bestrafen, denn Sie haben offensichtlich keinen Tau, wer ich bin. Haben Sie mich verstanden, Sie kulturloser Mensch?«
Der Ober grinste nervös und blickte sich nach seinen Kollegen um, doch keiner der Kellner war in Sicht. Schweiß perlte von seinem haarlosen Haupt. Der Alte fixierte den Ober weiterhin und ließ dann die Waffe langsam wieder unter seinem Sacco verschwinden. […]
Die Überheblichkeit jenes Gastronomen, der sich für etwas Besseres hielt, nur weil er dann und wann etwas Besseres bedienen durfte und dabei manche, bessere Wendungen und Handlungen aufklaubte, war vollständig aus seinem pockennarbigen Gesicht gewichen. Die beiden Söhne des Alten machten jeweils einen Schritt zur Seite und entließen den Ober in seine Pflicht. […]
Der Alte sank nun erschöpft auf einen freien Sessel und tupfte sich mit einem gräulichen Taschentuch die Stirn.
Der Kopf und seine schmalen Schultern hingen herab.
Es war, als sei er zusammengefallen zu einem Häufchen alter, schmutziger Wäsche.
[…]
Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, diesen Menschen schon einmal gesehen zu haben – aber wo? In der Zeitung vielleicht oder im Televisor? Doch es fiel mir beim besten Willen nicht ein. Der Tisch der Familie war in Hörweite zu meinem, so konnte ich hinter meiner Zeitung wenigstens ein paar Gesprächsfetzen erhaschen. Der Alte wandte sich nun an den Sohn, der rechts von ihm saß.
»Gustav, sage mir, was ist denn nun mit den Bildern? Kommen sie denn auch wirklich rechtzeitig an? Am fünften September müssen sie in Linz sein! Das wird wohl meine letzte Ausstellung.«
»Lieber Vater«, sagte der untersetzte, schon graumelierte Mann.
»Du kannst dich auf uns verlassen. Hagen und ich haben uns um alles gekümmert. Die Spedition hat mir versichert, dass das Postschiff spätestens am 28. August in Triest sei. Von dort brauchen die Bilder mit der Spedition nur mehr zwei Tage nach Linz.«
Der Alte schien nicht überzeugt.
»Na, wollen wir es hoffen, wollen wir es hoffen, dass alles gut geht, Gustav. Ich verlass‘ mich auf euch! Du weißt, wie unzuverlässig der Lloyd geworden ist, seit sie immer mehr mit der Fliegerei machen.«
»Deswegen hatten Hagen und ich ja auch vorgeschlagen, die Bilder mit der Luftpost zu transportieren. Dann wären sie in zwei Wochen und nicht in drei Monaten da.«
»Unsinn, Gustav!«, rief der Alte und hieb herrisch mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Ich gebe meine Bilder niemals in diese Flugkisten! Das ist viel zu unsicher! Mich konntet ihr ja überreden, dein Bruder und du. Ich hab‘ ja nicht mehr lang‘, ein Kadaver bin ich bald schon. Aber in diesen Bildern – da ist doch alles von mir drin! In diesen Bildern, da bin ich doch unsterblich! Und nun stellt euch doch nur mal vor, eines dieser Dinger stürzt ab! Dann ist alles ja vernichtet, mein Werk, ich, alles für die Fisch’! Dann bin ich nie gewesen!«, setzte er nach und hob auf theatralische Weise seine bebenden Handflächen in die Höhe […]
Wenn man sein Herz einmal an die Heimat gehängt hat, genügt das ja. Obwohl ich fast mein ganzes Leben Darüben verbracht habe, habe ich mein Herz nun einmal drangehängt an die Altlande und vor allem an mein schönes Linz. Und da hängt es nun eben immer noch. Manchmal tropft sogar noch ein Tropferl Blut heraus. Aber wo soll ich mein Blut sonst auch hingeben? Das rote Kreuz nimmt’s nicht, weil’s versaut ist, man muss ja reines Blut haben.«, raunte der Alte und lächelte finster.
Ich beobachtete, wie sein linker Arm schlaff herabfiel und seine rechte Hand wieder stark zu zittern begann. Auch sein linkes Bein zuckte unter
dem Tisch auf und ab, was er versuchte zu unterbinden, indem er es an das Tischbein presste.
Mein Gott, natürlich! Nun dämmerte mir, wer das war. Hiedler! Es handelte sich hier um Adolf Hiedler! Jenen berühmten Auswanderer-Maler, dessen Spur sich für über zehn Jahre auf dem Zweiten Kontinent verloren hatte, bis er plötzlich wie aus dem Nichts samt aboriwelscher Frau und Familie wiederaufgetaucht war. Man hatte ihn für tot gehalten und die Suche nach ihm drei Monate später eingestellt…
Das Buch
»Der Zweite Kontinent« von Alexander Keppel ist im Frühjahr 2022 bei Drava erschienen. 265 Seiten, 21 Euro