Sie haben sich in Ihrem Buch mit der Geschichte des jüdischen Steyr auseinandergesetzt. Auf welchen Zeitraum ist der Beginn jüdischen Lebens in Steyr zu datieren?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Der Beginn der jüdischen Ansiedlung in Steyr lässt sich auf die Mitte des 14. Jahrhunderts zurückverfolgen. Der bekannte Steyrer Chronist Valentin Preuenhueber erwähnt den Juden »Hein(d)lein« anlässlich eines Hauskaufes 1345, doch Norbert Haslhofer weist mit Quellenstudien nach, dass diese Datierung nicht richtig sein kann. Nach seinen Erkenntnissen ist die älteste Quelle auf das Jahr 1363 zu datieren.
Wie gestaltete sich das Leben der Juden im mittelalterlichen Steyr?
Juden und Jüdinnen waren aufgrund ihres wirtschaftlichen »Know-hows« bei den Städtegründungen für die Stadtherren und BürgerInnen von großer Bedeutung, da ein ständiger Kapitalbedarf gegeben war. Juden waren seit dem Aufkommen der Geldwirtschaft in Städten vorrangig auf Kredit- und Pfandgeschäfte spezialisiert, während es den Christen durch das »kanonische Zinsverbot« schon seit dem 4. Jahrhundert offiziell verboten war, Zinsen für geliehenes Kapital von ihren Glaubensgenossen zu verlangen.
Doch im Laufe des Mittelalters wurde das Leben der jüdischen Bevölkerung immer schwieriger und war von vielen Einschränkungen, vor allem seitens der Kirche, aber auch von den weltlichen Herrschern bestimmt. Besonders im 14. Jahrhundert, als sich auch in Steyr Juden und Jüdinnen niederließen, war ihre soziale Diskriminierung bereits weit fortgeschritten. So wurde den Steyrer Juden 1371 der Handel mit Wein und Getreide von Herzog Albrecht III. verboten und der Hauserwerb eingeschränkt. In den Siebzigerjahren des 14. Jahrhundert wurden die österreichischen jüdischen StadtbewohnerInnen gefangengenommen und ihr Vermögen eingezogen, um hohe Lösegelder zu erpressen.
Betrafen die Vertreibungen, Folterungen und Morde in der Wendezeit 14./15. Jahrhun-dert, von denen etwa die jüdische Quelle »Wiener Gesera« berichtet, auch die Steyrer Juden?
Ja, auch die Juden und Jüdinnen von Steyr wurden – so wie die übrigen aus den herzoglichen Städten und Ortschaften Österreichs ob und unter der Enns – 1420 verhaftet, gefoltert, vertrieben, wenn sie sich nicht taufen ließen. Die Ärmeren wurden auf der Donau auf Schiffen ausgesetzt und des Landes verwiesen, die mehr als 200 Reicheren, die sich nicht taufen ließen, wurden auf der Gänseweide in Erdberg bei Wien am 12. März 1421 verbrannt. Davon berichtet die sogenannte »Wiener Gesera«, eine zeitgenössische Quelle. Herzog Albrecht V. beschuldigte die Juden, die Hussiten, gegen die er Kriege führte, unterstützt zu haben. Der tatsächliche Grund für sein Vorgehen ist nicht bekannt, dürfte aber in seiner ständigen Geldnot gelegen haben. Er rechtfertigte sich schließlich mit einem »Hostienfrevel« in der Ennser Pfarrkirche, bei der die Mesnerin [Anm.: Kirchendienerin] Hostien an Juden verkauft haben soll, die dann von diesen geschändet worden seien. Auch von einer »Garstner Hostienschändung« von 1420 wird berichtet, ein Reliquiar aus dem Jahr 1639 wird im Stiftsmuseum der Garstner Pfarrkirche aufbewahrt. Der erwähnte Steyrer Chronist Valentin Preuenhueber bezeichnete die Juden in seinen Annalen anlässlich dieser angeblichen »Hostienschändung« als Ungeziefer. Das jüdische Leben fand damit im Herzogtum ob der Enns sein Ende.
Zur Zeit vieler gesetzlicher Verbesserungen im Kaisertum – von den Toleranzpatenten Josephs II. bis Mitte des 19. Jahrhunderts – erfolgte ein größerer Zuzug von Juden und Jüdinnen nach Steyr. Wie entwickelte sich die jüdische Gemeinde bis zum Ersten Weltkrieg?
Die Geschichte der Juden und Jüdinnen ist seit dem Mittelalter von Diskriminierung und Verfolgung geprägt, doch mit der Aufklärung im
18. Jahrhundert, in Österreich unter Maria Theresia und Joseph II., kam es zu ihrer rechtlichen Besserstellung, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Dennoch unterlagen Juden und Jüdinnen noch immer zahlreichen Einschränkungen. Erst das Staatsgrundgesetz von 1867 gewährte ihnen völlige rechtliche Gleichstellung.
Mitte des 19. Jahrhunderts zogen Juden und Jüdinnen aus dem böhmischen Raum nach Steyr. 1857 lebten 16 Familien, ca. 50 Personen, bei einer Stadtbevölkerung von ungefähr 11.000 Menschen, hier. Sie waren vorwiegend im Handel und Gewerbe tätig, erwarben auch Haus- und Grundbesitz, gründeten Fabriken und ein Betlokal.
Sie erwähnen im Buch – als ein Beispiel von vielen – auch die bemerkenswerte Lebensgeschichte des Schneidergesellen Hermann Prager. 1877 wurde er der Stadt verwiesen. Was hatte er »verbrochen«?
Hermann Prager war ein streitbarer Arbeiterführer, der die Zustände in der »Werndlschen Waffenfabrik« unter dem damaligen Direktor Holub kritisierte und deshalb der Stadt verwiesen wurde.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert machte sich ein zunehmender Antisemitismus bemerkbar. Inwiefern war er in Steyr institutionell verankert (Zeitung, Vereine, …)?
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm der Antisemitismus stark zu. In Steyr gründete Johann Simader 1882 die antisemitische Zeitschrift »Die Judenfrage«, die antijüdische Ressentiments als Programm verfolgte. Beim Durchblättern dieser Zeitschrift, die nach dem Tod Simaders 1896 eingestellt wurde, fragt man sich, wie Judenhass so viele Seiten füllen kann. Doch auch nach dem Einstellen der Zeitschrift trieb der Antisemitismus sein Unwesen. Nach außen hin schienen die jüdischen BewohnerInnen integriert, waren sie doch angesehene BürgerInnen der Stadt, doch in Vereinen – wie beispielsweise im »Deutschen Turnverein« – war die antijüdische Stimmung deutlich spürbar. In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich diese noch, besonders bei den bürgerlichen Parteien der Deutschnationalen und Christlichsozialen, aber auch in der katholischen und evangelischen Kirche war Antisemitismus weit verbreitet. In den 1930er-Jahren häuften sich antisemitische Vorfälle in Schulen, Geschäften und im »Steyrer-Alpenverein« wurde Ende 1921 der »Arierparagraph« eingeführt, der Juden und Jüdinnen die Mitgliedschaft verwehrte.
Mit dem Anschluss galten nun auch in Oberösterreich die Nürnberger Rassegesetze, die organisierte Verfolgung setzte ein. Wie viele Steyrer Juden und Jüdinnen überlebten diese nicht? Gelang manchen die Flucht?
1892, bei der Gründung der Steyrer Kultusgemeinde, die die politischen Bezirke Steyr Stadt- und Landbezirk und Kirchdorf an der Krems umfasste, zählte sie 202 Mitglieder, was vermutlich ein Höchststand war. Viele Jahre später, bei der schon vom NS-Regime durchgeführten Volkszählung vom Mai 1938 wies die jüdische Bevölkerung nur mehr 64 Personen aus, bei einer Gesamtbevölkerung von knapp über 31.000 Personen. Zu diesem Zeitpunkt dürften jedoch mehrere Juden und Jüdinnen Steyr bereits verlassen haben. Eine genaue Anzahl derer, die sich in die Emigration retten konnten, ist nicht eruierbar. Fast in jeder Familie sind Ermordete zu beklagen, manche Familien wie die gesamte Familie Garde, die Eltern Marie und Jakob und ihre Kinder Hugo, Walter und Renée, fielen der Mordmaschinerie der Nazis zum Opfer. Am jüdischen Friedhof in Steyr erinnert heute eine Gedenktafel an 86 Holocaustopfer der israelitischen Kultusgemeinde Steyr.
In Steyr existierte zwischen 1942 und 1945 nicht nur das KZ Steyr-Münichholz (siehe Versorgerin #124) sondern im selben Stadtteil auch ein Arbeitslager für jüdische Häftlinge. Könnten Sie über dieses eher unbekannte Kapitel der Stadtgeschichte ein paar Worte sagen?
Von 1941 bis Anfang 1942 gab es in Münichholz ein Arbeitslager für Juden und Jüdinnen, die beim Bau des neuen Wälzlagerwerks der Steyr-Werke eingesetzt wurden. Der Jesuiten-Pater Josef Meindl erwähnt dieses Lager, in dem später ZwangsarbeiterInnen anderer Nationalitäten untergebracht waren, auch in seiner Pfarrchronik.
Wollten überlebende Steyrer Juden und Jüdinnen zurückkehren? Wurden Sie dabei unterstützt?
Die meisten kehrten nicht mehr in ihre ehemalige Heimatstadt zurück, sie wurden weder dazu aufgefordert, noch wollten sie aufgrund der schrecklichen Geschehnisse zurückkommen. Nach Steyr zurückgekehrt sind nach dem Krieg nur Max und Hermine Fürnberg, deren Sohn Hans in Auschwitz ermordet worden war und deren Kinder Karl und Marianne in ihren Emigrationsländern Israel und England blieben. Auch Fritz Uprimny, dessen Eltern Eduard und Margarethe mit den beiden kleineren Kindern Heinzi und Mirjam ermordet worden waren, siedelte sich 1947 wieder in Steyr an, seine Geschwister Dolfi und Anni lebten bis zu ihrem Tod in ihrer neuen Heimat Israel. Fritz Uprimny kämpfte jahrelang um die Rückgabe seines Hauses am Wieserfeldplatz, das ihm erst im Jahre 1963 zurückgestellt wurde.
In einer Dokumentation des Mauthausen Komitee Steyr findet sich ja die unrühmliche Anekdote, dass sich die Stadt noch 1993 geweigert hatte, den Besuch der in Steyr geborenen, mittlerweile aber in anderen Ländern lebenden Verfolgten nennenswert finanziell zu unterstützen. Sie waren im Mauthausen Komitee aktiv. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Gedenkpolitik und das Geschichtsbe-wusstsein der Steyrer Bevölkerung?
Noch in den 1980er- und selbst in den 1990er-Jahren war das Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus und die damit verbundenen Verbrechen ein nach wie vor tabuisiertes und verdrängtes Thema. Kaum jemand wusste um die Existenz des jüdischen Friedhofs und des KZ-Nebenlagers in Steyr-Münichholz. Noch viel weniger war bekannt, dass viele ZwangsarbeiterInnen unterschiedlichster Nationalitäten für die Rüstungsindustrie der Steyr-Werke arbeiten mussten. Das Erinnern daran versucht seit 1988 eine kleine Gruppe, aus der das Mauthausen-Komitee Steyr hervorging, wachzuhalten.
Es war tatsächlich so, dass die ehemals jüdischen BewohnerInnen von Steyr, die im November 1993 zur Buchpräsentation »Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr« eingeladen wurden, vom offiziellen Steyr nicht wirklich willkommen waren. Erst Spenden aus der Bevölkerung deckten schließlich die Reise- und Aufenthaltskosten.
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte etablierte sich jedoch aufgrund der Tätigkeit des Mauthausen-Komitees eine vom offiziellen Steyr und von weiten Teilen der Bevölkerung getragene Gedenkkultur. Mit zunehmender Distanz zu den historischen Ereignissen und mit dem Ableben der ZeitzeugInnen ist jedoch zu befürchten, dass die offizielle Gedenkkultur immer mehr zu hohlen Ritualen erstarrt. Das Etablieren einer neuen lebendigen Gedenkkultur ist daher eine Herausforderung für die Zukunft.
Warum ist Erinnerung heute wichtig?
Die Vergangenheit ist nicht mehr und nicht weniger als die Wirklichkeit aller bisherigen Existenz. Demzufolge ist die Gegenwart die auf diese Wirklichkeit gegründete, uns umgebende Welt. Wir sind selbst mit unseren Lebensformen Teil und Verursacher dieser Welt. Für die Zukunft bedeutet dies, jene schreckliche Wirklichkeit aus der Vergangenheit zu erkennen und nicht zu vergessen und all jene Wirklichkeiten, auf die wir heute mit Stolz zurückblicken, weiterzuentwickeln und damit zu einer zukünftigen lebenswerten Existenz zu verhelfen. Aber ein solcher Zugang zu einer möglichen gestaltbaren Wirklichkeit ist ohne Kenntnis und ohne ständige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Makulatur.