Vielversprechende Liaison

Über rassistisches Fortschreiten in Österreich schreibt Rolf Dübingthal.

»Es ist möglich, das Klima und die Grenzen zu schützen.« Dieser Slogan war Anfang 2020 vom damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz als Wegweiser für die türkis-grüne Regierungskoalition ausgegeben worden. Nach eineinhalb Jahren ist längst klar, dass keine Umwege genommen werden. Die ÖVP bemühte sich von Anfang an, die Politik der Vorgängerkoalition mit der rechtsextremen FPÖ weiterzuführen, während die Grünen viel daran setzen, das Klima innerhalb der Koalition nicht unnötig zu gefährden…

Ein Teil der Wahrheit ist, dass die grüne Partei eine Radikalisierung bei dem in Österreich so genannten »Ausländerthema« verlangsamt. Der andere Teil: die Verlangsamung der Radikalisierung bedeutet auch ihre Normalisierung. Eine Verschärfung der Migrations- und Asylpolitik erscheint weniger barbarisch, wenn die Objekte dieser Politik nicht mit Tieren verglichen (»Borkenkäfer« laut dem niederösterreichischen FPÖ-Integrationslandesrat Waldhäusl, der sich wegen der Verlegung jugendlicher Flüchtlinge in gefängnisartige Unterkünfte vor Gericht zu verantworten hat), sondern liebevoll menschelnd nur als »illegale Migranten« (ÖVP) tituliert werden. Ein Wording dieser Art kennen die Grünen natürlich nicht. Ihr mehrheitliches Schweigen dazu aber fällt auf, ein Schweigen, das ihnen von manchen als antifaschistisches Engagement angerechnet wird. Denn: Anfang 2020, zu Beginn der Arbeit der türkis-grünen Regierung, mochte es so gewirkt haben, als sei der FPÖ wirklich wirkungsvoll das Wasser abgegraben worden. Aber in Umfragen legen die Freiheitlichen wieder zu, und im Juni dieses Jahres setzten sich in einem parteiinternen Putsch die offen rechtsextremen, mit den Identitären flirtenden Kräfte gegen die weniger offen rechtsextremen durch. War bis 2019 die Opposition zur rechten Regierung noch geprägt von einem Anti-FPÖ-Konsens, ergänzt durch Empörung über die Sozialpolitik, ist heute die Gegnerschaft zur im Kern gleichen Politik selbst rechts dominiert. Es reicht vielleicht zu erwähnen, dass die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner, selbst Vertreterin des eher linken Flügels, 2019 im Wahlkampf dem damaligen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) vorgeworfen hatte, die Grenzen gar nicht so streng wie versprochen geschützt zu haben. Ein bizarrer Versuch, sich durch demonstrative Offenheit nach rechts einen Vorteil zu verschaffen – ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass es außer der KPÖ und dem »Wandel« ohnehin keine Parteien in Österreich mehr gibt, für deren Wahl sich Rassisten schämen müssten. Die verlässlichsten parlamentarischen Partner in Sachen Antirassismus sind die marktradikalen Neos (Sozialsprecher Loacker: »Faule Menschen sind eine Plage«). Sie vertreten die weniger irrationalen Teile des Kapitals, die zum Beispiel die Notwendigkeit eines Bleiberechts für Lehrlinge aus arbeitsmarktpolitischen Gründen anerkennen. Die sympathische Betonung der Nützlichkeit von Flüchtlingen mag der Debatte kurzfristig ein Quäntchen ihrer Bedrohlichkeit nehmen, leistet langfristig aber einem Denken Vorschub, das den Flüchtling, der uns am Herzen liegt, von dem unterscheidet, der uns auf der Tasche liegt.                  

Was sind nun konkret die bösen Spiele der ÖVP, zu der die Grünen mehrheitlich eine gute Miene machen? In Bezug auf den »Schutz der Außengrenzen« ist alles beim schlechten Alten. Aber auch im Inneren werden die Grenzen hochgezogen, in einem Ausmaß, das ausreicht, die üblicherweise dumme Rede von der Spaltung einer Gesellschaft der Wahrheit zu überführen. Opfer und Gegner der Politik beobachten eine Mischung aus gesetzlicher Verschärfung, rhetorischer Aufrüstung und sich summierenden kleinen tagespolitischen Schritten der Demütigung.

Es hat sich als vollkommen legitimes politisches Mittel eingeschlichen, immer, wenn etwas Schlechtes passiert, die Muslime am Krawadl zu packen (»zur Rechenschaft ziehen« in der ortsüblichen Sprache). In Österreich trägt sich eine erschreckende Serie von Femiziden zu: Bis Oktober 2021 wurden dreiundzwanzig Frauen von Partnern oder ehemaligen Partnern getötet. Diese Hölle für viele Frauen kommt nicht aus heiterem Himmel. Nur Gutgläubige würden das, was unter ÖVP-Verantwortung die letzten drei Jahre im Bereich der Gewaltprävention und des Frauen- und Kinderschutzes politisch geleistet wurde, mit »Versäumnis« bezeichnen. Anmerkungen, kritischen Kommentaren und Gesprächseinladungen von Seiten verschiedener Vereine und NGOs zum Trotz, ließ es sich die Integrations- und Frauenministerin nicht nehmen, eine Debatte zu »kulturell bedingter Gewalt« anzustoßen. Kritische Wissenschaftler riefen daraufhin zum Boykott einer zu diesem Thema in Auftrag gegebenen Studie auf. Mit Schaudern ist auch an eine Studie vor knapp zwei Jahren zu denken, die den Umzug von anerkannten Flüchtlingen von einem Bundesland ins andere untersuchte. Die simple Tatsache, dass anerkannte Flüchtlinge aus Tirol, wo einerseits die Mindestsicherung unter Mithilfe der Grünen gekürzt worden war und andererseits die Mietpreise horrend sind, nach Wien ziehen, wo eine etwas bessere Mindestsicherung ausbezahlt wird, wurde von den Studienautoren zu einer großen wissenschaftlichen Erkenntnis aufgebauscht: Höhere Sozialleistungen stellten einen Pull-Faktor dar. Das gewünschte Ziel, die etwas angenehmere Wiener Sozial- und Integrationspolitik zu dämonisieren, wurde locker erreicht. Auch, weil sich die Autoren bereitwillig gegenüber der Presse äußerten und den politischen Hetzern die linientreue Interpretation der Daten abnahmen. Und der Österreichische Integrationsfonds überraschte unlängst mit der Suggestivumfrage: »Hat sich in Folge der Konflikte in Wien-Favoriten« – türkische Faschisten hatten Linke angegriffen, was in den meisten Medien als »ethnische Auseinandersetzung« zwischen Türken und Kurden interpretiert wurde – »das Sicherheitsgefühl der Österreicher verbessert oder verschlechtert?«

Ein weiteres umstrittenes Projekt der Integrationsministerin ist die im Frühling vorgestellte »Islam-Landkarte«, eine interaktive Online-Karte, in der alle muslimischen Organisationen und Vereine Österreichs verzeichnet sind. Die Karte, die von Wissenschaftlern der Universität Wien erstellt wurde, existiert an und für sich schon seit mehreren Jahren – Aufregung verursachte aber die Vorstellung einer aktualisierten Version im Rahmen einer Pressekonferenz, die gemeinsam von Integrationsministerium und der »Dokumentationsstelle Politischer Islam« ausgerichtet wurde. So entstand, entgegen anderslautender Beteuerungen, der Eindruck, als gehe von jedem einzelnen Verein eine antidemokratische Gefahr aus, als müsse jede muslimische Regung zum Schutze der Republik sorgfältig dokumentiert werden. In manchen Einträgen fanden sich nicht die Adressen der Institutionen, sondern Privatadressen von Mitgliedern. Als die Online-Veröffentlichung der Karte dann zurückgenommen wurde, war der Schaden schon angerichtet: Mitglieder der Identitären hatten in der Nähe mancher der verzeichneten Organisationen Warnschilder mit der Aufschrift: »Achtung! Politischer Islam in Ihrer Nähe« aufgestellt. Wer Ähnliches vorhergesehen hatte, muss nicht Hellseherei, sondern bloß die Entwicklungen der letzten Jahre und Monate studiert haben. Angesichts einer solchen staatlich legitimierten Stigmatisierung ist Solidarität geboten. Diese Solidarität schließt in einer derart von Polarisierung gezeichneten Diskussion wohl oder übel auch jene mit dem SPÖ-Bezirksrat ein, der der österreichischen Regierung Verbrechen gegen die »Menschlichkeit« vorwirft, sonst aber gerne den türkischen Botschafter empfängt, um mit ihm über Toleranz zu plaudern, und mit den historisch sensiblen Diskussionsteilnehmern, welche die Islam-Landkarte mit einer potentiellen Judenkarte vergleichen, sie also als ein Tool zur Vorbereitung eines Völkermords verstehen ….

Ob geplant oder nicht, eine nicht unwesentliche Folge des Schauspiels ist, dass Antirassisten ein kleines Stückchen dorthin rücken, wo sie Rechte und Konservative immer schon gerne gesehen hätten: in die Nähe des Islamismus. In Ermangelung wirklich emanzipatorischer Alternativen entsteht im Falle eines so vehementen Otherings der unbewusste Druck, diese Markierung selbst zu übernehmen und sie positiv zu wenden. Für die Betroffenen bedeutet das, sich noch stärker auf das zu besinnen, was ihnen von allen Seiten als ihre Identität eingeredet wird. Und für die Unterstützer heißt es, die Maßstäbe, welche sie bei christlich-fundamentalen und rechtsextremen Vereinigungen anlegen würden, für kritikwürdige muslimische Organisationen zu entschärfen. Der Backlash als Folge der Pressekonferenz betrifft nicht nur die Mainstream-Debatte, sondern auch Teile der Linken, die auf notwendige Differenzierungen verzichten lernen, wie die Seite der Opfer – so gibt der Wiener Wissenschaftler Kenan Güngör zu bedenken, »dass im Fahrwasser der zum Teil begründeten Kritik moderater Muslime, gerade Akteure des islamistisch/rechtsextremen Spektrum sich so fleißig als harmlose Opfer inszenieren!«

Glaubwürdiger als die in Teilen rechtsextreme Vorgängerregierung hat sich Türkis-Grün einer neuen Gedenkpolitik, der Unterstützung jüdischen Lebens in Österreich und dem Kampf gegen Antisemitismus verschrieben. Im März 2021 wurde etwa das »Gesetz zur Absicherung jüdischen Lebens in Österreich« im Parlament beschlossen, das unter anderem eine höhere finanzielle Unterstützung für die Gemeinde verspricht, und schon im Jänner zuvor war die »Nationale Strategie gegen Antisemitismus« vorgestellt worden. All das könnte als bedeutender Fortschritt begriffen werden, dessen Motiv zielstrebig nachzuspüren unlauter wäre. Dem drohenden Nationalstolz auf die bewältigte Vergangenheit all seine reaktionären Aspekte vorzurechnen, ist womöglich zu früh, denn er ist erst in Entwicklung. Man kann sich in Österreich trotz all der Fortschritte nie sicher sein, ob das Pendel in Richtung Gedenk- oder in Richtung Vergessensarbeit ausschlagen wird. Einige Beispiele aus der letzten Zeit schaffen aber Klarheit. In der Woche, in der vom Bundeskanzleramt die israelische Flagge wehte – was Linke in Österreich zur Stellungnahme bewog, man könne das doch dem Iran nicht antun –, sich also die Regierung zu einer Parteinahme gegen den genozidalen Antisemitismus der Hamas durchrang und symbolisch deklarierte, dass Auschwitz nicht noch einmal stattfinden dürfe, sprach sie sich erstmals gegen eine Teilnahme an den Befreiungsfeiern in Mauthausen aus, weil dort Linke dominieren würden. Ein paar Monate weiter zurück liegt der von der Stadt gebilligte Abriss der Reste des Mauthausen-Außenlagers in der Industriestadt Steyr, sowie die Betonummantelung der kürzlich freigelegten Überreste des KZ Loibl-Nord in Kärnten, die nach Auskünften des dortigen Mauthausen Komitees die pädagogische Gedenkarbeit sehr erschwert. In der offiziellen Ortschronik der Salzburger Gemeinde Goldegg durften bis vor kurzem die dortigen Wehrmachtsdeser-teure als »Landplage« bezeichnet werden; ein Begriff, mit dem die rechtsextreme Zeitschrift Aula 2015 KZ-Befreite bedacht und noch ergänzt hatte, dass es sich dabei um »Massenmörder« handelte, die »raubend und plündernd, mordend und schändend« durch das Land gezogen seien. Eine Klage von elf KZ-Überlebenden (die von der grünen Partei unterstützt wurden) wurde von österreichischen Gerichten zurückgewiesen – erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte brachte diese zur Räson.

Wie ist der Spagat zu schaffen zwischen dem gewünschten öffentlichen Bild dieser Regierung und der Tatsache, dass nicht einmal »Erinnerung als höchste Form des Vergessens« (Eike Geisel), sondern authentisches Vergessen, Verdrängen und Verharmlosen dominiert? Das Ziel des Stolzes auf die nationale Vergangenheitsbewältigung wird erreicht, ohne über den Umweg der nationalen Vergangenheitsbewältigung stolpern zu müssen. Der direktere und wirkungsvollere Zugang ist, immer wieder implizit darauf zu verweisen, dass Ausländer und Muslime die österreichische Verbrechensgeschichte noch schlechter aufgearbeitet haben. Wer hört, mit welchem Eifer sich Europaministerin Karoline Edtstadler für den Bau der Shoah-Namensmauer einsetzt, wenige Momente später aber am Massenmord im Mittelmeer wie an der Gewalt gegen Flüchtlinge am Balkan nichts auszusetzen hat und mit eiserner Miene schnellere Abschiebungen in die Kriegshölle fordert, muss auf dumme Ideen kommen; wie auf die, dass der unglaubwürdige Versuch, sich als reuige Täternation zumindest in Szene zu setzen, eine moralische Absicherung für eine neue barbarische Politik bedeutet. Der Wiener Autor Alexander Pankratz spricht vom Gelingen einer Rechnung, nach der »gerade die Unvergleichbarkeit [der Shoah] benutzt [wird], damit die Vergangenheit den Vergleich mit jedem Elend der Gegenwart gewinnt.« Es ist gerade die Glaubwürdigkeit der Grünen beim Thema Vergangenheitspolitik, die diese genannte Strategie als vollkommen unplausibel erscheinen lässt, und dadurch erst an Wirkung gewinnt. Somit gelingt auch eine andere heikle Rechnung: Wer sich an das Experiment einer Liaison zwischen Rechts und Grün heranwagt, muss sich einstweilen keine »illiberale Demokratie« leisten.