Dann ist Kultur überhaupt misslungen

Unter dem Titel »Kultur ist der Kitt« fand jüngst eine Veranstaltungsreihe im Conne Island und dem Literaturhaus in Leipzig statt. Zu den Beweggründen, den einzelnen Veranstaltungen und Reaktionen stehen sich Krac und Curcio vom Infoladen Rede und Antwort.

Vielleicht vorab ein paar Worte zu uns und wie wir auf das Thema kamen?

Wir – das sind wenige Leute aus dem Infoladen, die neben der Archivarbeit u.a. Vorträge, Seminare und Lesekreise organisieren. In den letzten Jahren waren das u.a. eine Reihe zum Eigensinn der Kritik – der Kritik des Eigensinns oder Lesekreise zur Krise der Revolutions-theorie, u.a. Wolfgang Pohrts »Theorie des Gebrauchswerts«. »Neben der Archivarbeit« heißt, neben der Aufnahme und Verschlagwortung von circa 60 Zeitungsabonnements, von neuen Büchern und insbesondere Grauer Literatur wie Zines, Pamphleten, Flugschriften oder Broschüren in unseren Online-Katalog »Dataspace«. Wir sehen den Infoladen als ein Gedächtnis früherer Debatten innerhalb der Linken, der Jugend- und Subkultur; insbesondere der minoritären Stimmen innerhalb der Linken. Stimmen, die nicht in Parteien, ihren Vorfeldorganisationen und großen Blättern bzw. Strömungen abgebildet sind, weil sie mit ihnen nichts zu tun haben wollen oder nicht akzeptiert werden. Dabei ist die Einteilung dieser Positionen selbst das Produkt von Debatten. Was »geht« und was nicht, ist dauerhaft im Fluss – wenig ist in Stein gemeißelt. Allerdings hat sich in der Art und Weise, wie der Streit darüber ausgetragen wird, in den letzten 10-15 Jahren etwas getan. Was früher schlicht abseitig war, wird heute moralisierend kategorisiert und aus dem Spiel genommen: Begriffe, die über Jahrzehnte nur als konkrete eine Bedeutung hatten und diese sukzessive verloren haben, werden heute entkernt als Instrument benutzt, um andere Strömungen zu verbannen. Spürbar ist das für uns im Archiv nicht nur an der fehlenden Rezeption abseitiger Traktate, den Versuchen, die Diskussion ebensolcher zu verunmöglichen, sondern auch an der immer geringeren Produktion von unangepassten Texten. Spleenige Reflexionen aus der linken Szene, wie z.B. zur »allgemeine[n] Theorie der Rekuperation« der obskuren Gruppe Neue Feindschaft, sind eine absolute Seltenheit geworden.

Nun wird bei dieser Art Diskursbegradigung, dem Abschneiden der Opposition, immer auch ein Stück Geschichte mit abgeschnitten – bezeichnend ist gerade, dass die Art und Weise, wie dabei diskutiert wird, oft von der eigenen Geschichtslosigkeit zollt. Die Häufung dieser Art von Machenschaften im Kulturmilieu kommt nicht zuletzt daher, dass sich weite Teile der Linken vor vielen Jahren um eine Politisierung der Kultur bemühten und in der Kulturalisierung der Politik ihr Telos fanden. Gleichzeitig dazu – und das dürfte miteinander zu tun haben – ging mit der Substanz der Begriffe die Spannung zur Gesellschaft verloren. Die Konturen werden schwach, wenn der post-autonome Punker im Subkultur-Treff mit den gleichen Begriffen jongliert, wie das die deutsche Kulturministerin tut und das auch nicht großartig auffällt. Das erzeugt nicht nur Langeweile, sondern eine Kultur, bei der Leute, die sich links/radikal schimpfen, im Gleichschritt mit der Staatsministerin für Kultur und Medien stampfen und sich nichtsdestotrotz in einem Gestus des Oppositionellen gerieren. Prägnant zum Programm gegossen wurde dies von eben jener Ministerin Claudia Roth mit dem Mantra: »Kultur ist der Kitt«. Dem wollten wir eine Reprise der Begriffe entgegenstellen, um der Klebrigkeit der Verhältnisse nicht länger auf den Leim zu gehen.

Warum gerade Claudia Roth, was spricht beispielsweise gegen ihre Aussage: »Kreativität, Fortschritt, Freiheit, Offenheit, Menschlichkeit – all das ist Kultur, ist die Grundlage unseres Zusammenlebens«?

Fragt man Claudia Roth, dann ist Kultur irgendwie alles – alles was irgendwie toll, was schön ist, wo Leute sich begegnen, tanzen, quatschen und vor allem und über alles: wo sie menscheln. Es interessiert uns hier, wie sie mit Fug und Recht als ideeller Gesamtkulturmensch gelten kann und ihr Gerede von der Kultur alles in einem Brei aufgehen lässt, der am Ende vor allem eine Versicherung an die eigene Entourage ist: »Wir sind die Guten«. Dagegen kann man aber etwas haben und gegen sie; aus guten Gründen. Das heißt nicht, dass man gegen die Attribute »Kreativität, Fortschritt, Freiheit, Offenheit, Menschlichkeit« etwas hat, nur setzt die Staatsministerin sie als eh gegeben voraus und prämiert auf dieser Basis; als würde die Basis dieser Gesellschaft jene Attribute nicht unterminieren.
Wenn Claudia Roth Kultur sagt, sagt sie auch Verwaltung. Das ist natürlich auch ihre Aufgabe als Staatsministerin für Kultur. Vulgär ist das nicht. Vulgär ist die Identifikation mit der eigenen Erniedrigung, die sie goutiert – ihre Miene ist das Grinsen. Sie sind in jedem Sinne staatstragend, Claudia Roth und ihre Kultur; qua Beruf und Berufung. Wo sie das Aufrütteln beschwört, da wird um die Ecke an die Kandare genommen. Freilich nicht mit Stiefeln im Genick. Allein die Sprache vermittelt das Einverständnis. Die Begriffe des Menschlichen, der Solidarität und Freiheit werden entkernt zum Jargon, der das progressive Milieu zur feinen Gesellschaft adelt. Lange schon wird die sogenannte Antragsprosa, in dem das kulturelle Milieu mit seinem Trog korrespondiert, nicht mal mehr als Abpressen vom Einverständnis mit den powers that be erfahren. Kein Ekel, nur Freude über den Applaus. Der Alternativ-Sprech ist ganz oben angekommen und trotzdem hält man den Gestus des Aufrüttlers, des Unangepassten, um sich auch das Kritisch-Sein ans Revers heften zu können. An dieser Stelle geht es nicht darum, Gewese um die Subvention von Kultur zu machen, man mühte sich an der bloßen Form ab und schafft lahmes Theater. Wird in der Kultur und von Kreativen – oder wie man sie eben nennen will – ein Theater um die Subversion gemacht, wird Rebellion gemimt. Dann handelt es sich um schlechtes Theater: Einer spielt den Stier, der andere den Torero; zu Schaden kommt niemand. 
Parodie von Freiheit, Dressur auf die Welt, wie sie ist, ist die Masche von Kulturindustrie. Davor ist niemand einfach gefeit, die Regungen und damit auch das Kulturelle als autonomer Bereich sind angefressen. Als Reflex auf die Welt ist Kultur gebunden an die Differenz der Einzelnen, die sie machen, von der Gesellschaft, auf die sie reagieren; mit anderen Worten, gebunden an eine Spannung, die im Widerspruch ausgetragen wird. Spannung ist jedoch nicht naturgegeben. Oder wie Richard Schuberth in einer Lesung seiner Texte zur »Rückkehr des Dschungels« innerhalb der Reihe meinte: »Und immer wenn Kulturreklame jemanden als »großen Unbequemen« annonciert, kann man mit Sicherheit annehmen, dass sich wieder mal wer in die Reservearmee der kleinen Bequemen eingereiht hat.« Bezogen auf die historischen Avantgarde-Bewegungen haben wir das mit Mikkel Bolt Rasmussen diskutiert, der bei uns Thesen aus seinem Buch »After The Great Refusal« über den Versuch radikaler Kunst, in Form eines langen Marsches durch die Institutionen zu wirken, referierte. Nicht selten wird jener Spannungsverlust in Kulturprojekten oder Artspaces durch erhöhten Druck innerhalb der eigenen Gruppe ersetzt. Eindringlich kann man das bei Su Tiqqun in »Zeugin und Täter« nachlesen, worin sie ihre Zeit im Kunsthaus Tacheles in Berlin verarbeitet hat. Eine Geschichte auch über die Subkultur und ihren Verbleib, die sie in Auszügen im Infoladen vorstellte und uns damit das Schrecken lehrte. 

Was heißt dann überhaupt Kultur?

Es ist nicht zu verleugnen: von Kultur hat jeder zweite so seine sogenannte Meinung. Das rührt nicht unbedingt aus dem Irrsinn der Einzelnen. Der Begriff schillert, weil er sich spaltet und mehrerlei Bedeutungen trägt. Das eine Mal bezeichnet er alles, was von Menschen gemacht ist, was nicht Natur sei, und meint Zivilisation, oft als erweiterter »Begriff der Kultur« gefasst. Das andere Mal soll er einstehen für alles, was der »nackten Notdurft des Lebens enthoben« ist, dann zu sehen als »enger Begriff der Kultur« und dem »Geistigen« zugeschrieben. Oder von der Herkunft des Wortes her, dem lateinischen »colere«, was pflegen oder urbar machen bedeutet; soll heißen, die landwirtschaftliche Tätigkeit des Ackerbaus – die Formung der Natur samt ihrer Pflege. Beim Gedanken des Beackerns kommt schnell abhanden, dass der Mensch ja selbst ein Stück Natur ist. Also auch das ist Kultur, das Pflegen und Formen der menschlichen Natur.
Kaum lassen sich die unterschiedlichen Kultur-Begriffe voneinander trennen, sie ragen ineinander hinein. Wenn Kultur mehr sein will als die bloße Reproduktion, dann ist sie ebenso Produkt der Reflexion auf die Gesellschaft und ihre Geschichte. Sie ist Arbeit, kommt kaum ohne Vorgänger aus, selbst in der Abstoßung von diesen. Als geistige Arbeit ist sie auf die materielle Arbeit verwiesen, ebenso auf die gesellschaftliche Trennung von beiden. Sie ist verwiesen auf die Träume und Wünsche der Toten, die wiederum in ihren Produkten aufgespeichert sind. Und sie ist verwiesen auf diejenigen, die geackert und geblutet haben für die Artefakte, die wir als Kultur im gesellschaftlichen Pantheon erleben. Darauf rekurriert Walter Benjamins Satz aus den »Thesen über den Begriff der Geschichte«: »Niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« Oder Theodor W. Adorno, der schrieb: »Begreift man Kultur nachdrücklich genug als Entbarbarisierung der Menschen, die sie dem Zustand bloßer Natur enthebt, ohne diesen Zustand durch gewalttätige Unterdrückung erst recht zu perpetuieren, dann ist Kultur überhaupt mißlungen.«
 
Ein Plädoyer für Kulturfeindschaft?

Gerade nicht. Niemand muss in den Chor der Kulturfeinde einsteigen, deren Abneigung nicht gegen das Fortwesen des Barbarischen steht, sondern auf seine volle Entfaltung schielt. Deren Kritik ist keine, sie ist Kulturkampf, das Ringen um die eigene Kultur gegen die inneren und äußeren Feinde im Tenor des Unpolitischen: Schweine, wie Hanns Johst eines war, vom Kampfbund für deutsche Kultur. Von ihm stammt das hier: »Nein, zehn Schritt vom Leibe mit dem ganzen Weltanschauungssalat… Hier wird scharf geschossen! Wenn ich Kultur höre… entsichere ich meinen Browning!«. Um solchen Kämpfern etwas zu entgegnen, wird man durch den Brei, der »Kultur als Kitt«, hindurch müssen, um etwas aufzusprengen, was jenseits von beiden überhaupt erst Kultur im vollen Sinne werden könnte. 
Gegenwärtig könnte Kultur den »Dialog mit den Toten« (Heiner Müller) aufnehmen, um sie zu ihrem Recht kommen zu lassen und vom Alpdruck der gemarterten Geschlechter befreien. Frank Raddatz hat dazu sehr lesenswerte Interviews mit Heiner Müller geführt, welche u.a. in »Jenseits der Nation« abgedruckt sind, die die bleierne Zeit einer reinen Gegenwart seit den 1980ern reflektieren. Gemeinsam mit Raddatz konnten wir jene Bewegung zur Versteinerung des Horizonts auch in Leipzig diskutieren und werden einen Mitschnitt veröffentlichen. Dieser absoluten Gegenwart zum Trotz könnte Kultur eine Zukunft aufsprengen, die sich wesentlich von der Gegenwart unterscheidet. Dazu hat Walter Benjamin ein Programm vorgegeben, namentlich dem Materialismus: »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.« Versuche darin haben wir an einem Abend in Form von Hörstücken u.a. aus der Sendereihe Wutpilger Streifzüge gehört, kuratiert von Lukas Holfeld, Herausgeber des Magazins Kunst, Spektakel und Revolution, das sich eben jenem Programm verschrieben hat. Nachhören kann man die Sendungen und ein Feature zu unserer Reihe auf YouTube.

Und was bleibt für ein Archiv wie den Infoladen?

Kultur bleibt dem Negativen verhaftet, kommt aus dem Grauen nicht raus, solange das Grauen nicht aufhört. Solange Menschen verhungern und nicht Schluss gemacht wird mit der Herrschaft über den Menschen und über die Natur. So lange kann Kultur nur der Stachel sein oder sie ist nicht. Mindestens so lange werden wir versuchen zu bergen, was der herrschenden Kultur widerstrebt. 

 

»Kultur als Kitt« ...

... wurde von einer kleinen Gruppe aus dem Infoladen im Conne Island in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Leipzig veranstaltet und bot Gelegenheit, bei acht Veranstaltungen über die Kulturalisierung von Politik und den Verbleib von Subkultur zu diskutieren. Details zu den einzelnen Veranstaltungen finden sich auf der Website des Conne Island unter https://conne-island.de/news/280.html. Rückmeldungen und Vorschläge für weitere Veranstaltungen werden gerne entgegengenommen via leipzig[at]infoladen.de